Die Seuche und das Ungeheuer: Thesen zum Staat in der Corona-Pandemie.

veröffentlicht am 27. Januar 2021

Die Covid-19-Pandemie hat den Staat ins Rampenlicht gerückt. Kontaktbeschränkungen, Grenzkontrollen, Einschnitte in die Gewerbefreiheit und riesige Konjunkturpakete sind nur einige der aufsehenerregenden Maßnahmen, mit denen Staaten weltweit versuchen, der Seuche und ihrer Auswirkungen Herr zu werden. Doch die erhöhte Prominenz des Staats in der Krise führt nicht automatisch zu einem klareren Blick auf diesen. Im Gegenteil hat die Krise zur Verbreitung verschiedener Illusionen über den Staat beigetragen. Diese zirkulieren quer durch die politischen Lager, in der Linken und der Rechten, unter Befürwortern und Kritikern des derzeitigen Staatshandelns. Sie befeuern nicht nur die Proteste der Coronaleugner, sondern haben auch zur weitgehenden Paralyse der Linken in den vergangenen Monaten ­beigetragen.

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1. Etatisten und Libertäre im Spiegelspiel der Politik

Die Beurteilungen des Staates gehen dieser Tage extrem auseinander, bringen jedoch zugleich ungewöhnliche Allianzen hervor. So finden sich unter den Anhängern des starken Staates nicht nur Staatssozialisten, sondern auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Dieses Lager der Etatisten sieht im Staat die Verkörperung einer höheren Vernunft. Der Staat legt einer von auseinanderstrebenden Partikularinteressen beherrschten Gesellschaft die Zügel an und sichert so den Fortbestand des Gemeinwesens. Wo die Individuen ihrem schmutzigen Egoismus nachgehen, ist es der Staat, der die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft vermeintlich überwinden und das Gemeinwohl verwirklichen kann.

Dieses Gemeinwohl wurde mit der öffentlichen Gesundheit kurzgeschlossen, die, in einer weiteren Abstraktion, mit einem niedrigen Corona-Infektionsgeschehen gleichgesetzt wurde. Dass der Staat im Lockdown tatsächlich die Gewerbefreiheit zugunsten der Gesundheit beschnitt, schien in dieser Betrachtungsweise der Offenbarung seines sittlichen Wesens gleichzukommen. So frohlockten etwa Mario Neumann und Maximilian Pichl, dass die Pandemie einer neoliberal verblendeten politischen Klasse die Augen öffnen und den Weg für weitere soziale Wohltaten bereiten werde: „Noch im Versuch der Wahrung des Status quo ante hat sich das Handeln der Regierungen von vielen neoliberalen Phantasmen befreit und sich auf einen massiven Staatsinterventionismus umgestellt, der gar nicht umhin kommt, sich in den Dienst eines Gemeinsamen, eines Gemeinwesens zu stellen, das sich aus (…) Gebrauchswerten, solidarischen sozialen Beziehungen und geteilten Bedürfnissen zusammensetzt. Wenn Ford und General Motors überlegen, statt Autos nun medizinisches Gerät zu produzieren, blitzt eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft auf.“ (Der Freitag, 20. März 2020) [1]

Wenn der Staat der Treuhänder des Gemeinwohls ist, dann erscheint der Verzicht auf individuelle Freiheiten als ein ethisch gebotenes Opfer, das jenem Gemeinwohl unmittelbar zugutekommt. Wenn nun hingegen der – an sich – gemeinwohlorientierte Staat dennoch auf die Profitinteressen „der Wirtschaft“ Rücksicht nimmt, dann erscheint dies als zufällige Abirrung von seinem inneren, edlen Zweck.

Im „Spiegelspiel der Politik“ (Joachim Bruhn) stellen die Libertären das passende Gegenstück zum etatistischen Denken dar. Sie sehen im Staat vor allem die äußere Grenze ihrer individuellen Freiheiten. Die Ausweitung von allgemeinen Regeln lehnen sie unabhängig von ihrem spezifischen Inhalt ab. Auch im Lager der Libertären bildeten sich merkwürdige Allianzen. So teilten sich aufständische Anarchisten ihren Lieblingsvirologen Dr. Wodarg mit den Marktradikalen der Zeitschrift Eigentümlich Frei und Querfrontpopulisten wie Ken Jebsen. [2] Dieses libertäre Lager entdeckt in der Totalisierung der Bevölkerungskontrolle das eigentliche Motiv des Staatshandelns, für das die gesundheitspolitischen Maßnahmen lediglich einen mehr oder weniger austauschbaren Vorwand abgeben. In der libertären Weltsicht müssen neben dem größten Übel staatlicher Reglementierung alle anderen Übel verblassen. Wo diese Skepsis den Charakter einer fixen Idee annimmt, entsteht ein starker Zug zu Relativierung und Leugnung der Krankheit: „Es ist nur eine Grippe“.

Während die Etatisten den Staat als sorgenden, schützenden und strafenden Vater bejahen, üben sich die Libertären in der Rebellion gegen den bevormundenden Nanny State. Ihre anti-autoritäre Rebellion bleibt dabei reaktiv, ihre Überschreitungen des Gesetzes bleiben auf die Setzungen der Autorität angewiesen. Anstatt für eine vernünftigere gesellschaftliche Regulierung der Pandemie zu kämpfen, verdammen sie die Maßnahmen in Bausch und Bogen, ignorieren die materielle Realität der Pandemie und verwandeln die Auseinandersetzung in einen Kulturkampf um die richtige Lebensweise.

In der politischen Öffentlichkeit überziehen sich Etatisten und Libertäre seit Monaten wechselseitig mit schrillen Anschuldigungen. Gleichwohl sitzen beide Lager den gleichen falschen Vorstellungen über den bürgerlichen Staat auf. Beide entkoppeln das Staatshandeln von den Notwendigkeiten der ökonomischen Basis, das heißt von den „gesellschaftlichen Naturgesetzen“ (Marx) der kapitalistischen Produktionsweise. Daher überschätzen beide Lager die Autonomie des Staates in seinem Handeln, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Während der Staat den Etatisten als der gute deus ex machina erscheint, der jede gesellschaftliche Krise meistern kann, sehen die Libertären in ihm einen bösen Quälgeist, der das gute Volk seinen willkürlichen Launen unterwirft. Durch die Loslösung des Staates von seiner Grundlage in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verkennen beide Lager den inneren Zusammenhang dieser Momente in der gesellschaftlichen Totalität. Anstatt das komplexe, widerspruchsreiche Zusammenspiel dieser Momente zu begreifen, zeichnen sie ihr Verhältnis als einfachen äußeren Gegensatz. Eine Seite ist gut, die andere Seite ist schlecht. Das politische Gebot der Stunde besteht dann scheinbar in der heroischen Entscheidung für eine Seite und der Verdammung der anderen: Gemeinwohl oder Egoismus. Freiheit oder Bevormundung. Allgemeinheit oder Individuum. Da Staat und bürgerliche Gesellschaft sich jedoch wechselseitig bedingen, müssen solche Verwerfungen der jeweils schlechten Seite in Don Quijoterien enden.

2. Der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist

Im Kern ist der bürgerliche Staat weder eine bloße Repressionsmaschine, noch ein Wohltätigkeitsverein. Der moderne Staat ist zuallererst ideeller Gesamtkapitalist, das heißt er ist „nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten.“ [3] (Friedrich Engels)

Sowohl der Zweck des bürgerlichen Staates, die „allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten“, als auch seine dafür ausgebildeten Organe gliedern sich jeweils in eine Vielzahl von Aspekten auf. Damit etwa die in gesellschaftlicher Arbeitsteilung, aber privat produzierten Waren ausgetauscht werden können, bedarf es eines allgemein anerkannten Tauschmittels. Für die materielle Zirkulation von Waren von A nach B bedarf es einer Infrastruktur wie Straßen, Schienennetz, schiffbare Gewässer.

Die wichtigste Zutat ist jedoch die menschliche Arbeitskraft. Die Akkumulation von Kapital beruht auf der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft. Die Aufrechterhaltung des Kapitalismus setzt somit die permanente Verfügbarkeit von eigentumslosen, einsatzfähigen, geeigneten Arbeitskräften voraus. Früher oder später werden Menschen so krank und gebrechlich, dass sie keine Arbeitskraft mehr darstellen. Sie scheiden aus der workforce aus, bevor sie schließlich sterben. Aus Perspektive des Kapitals müssen diese Arbeitskräfte ersetzt werden. Es verlangt nach der „Verewigung des Arbeiters“ (Karl Marx) [4]. Damit aus den verletzlichen, sterblichen Arbeiterleibern ein ewig verfügbarer Arbeiter wird, sind Pflege und Fortpflanzung notwendig. Denn mag das Kapital auch als selbstbezügliches, „automatisches Subjekt“ (Marx) erscheinen, so ist sein Fortbestand doch abhängig von der Einsaugung frischer, lebendiger Arbeit. Entscheidend ist daher die „Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. (…) Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals.“ (Marx) [5]

Ungehindert durch Vorsichtsmaßnahmen breitet sich das Virus rasant aus, zur hohen Sterblichkeit kommen zahlreiche schwere, wochen- und oft monatelange Erkrankungen mit ungeklärten Spätfolgen. Wenn vorhandene Kapazitäten der Krankenhäuser gesprengt werden, können auch an sich heilbare Fälle, sowie andere Krankheiten und Unfälle nicht mehr behandelt werden: das Gesundheitssystem bricht zusammen. Die Covid19-Pandemie ist somit ein Ereignis, dass die Reproduktion dieser Arbeiterklasse unmittelbar bedroht. Sie bedroht damit auch die Reproduktion des Kapitals und erfordert das Handeln des ideellen Gesamtkapitalisten.

3. Der Souverän ist nicht souverän

Da Muskel, Nerven, Knochen und Hirn der Arbeiter*innen die unentbehrlichsten Produktionsmittel des Kapitals sind, handelt es sich bei „Wirtschaft“ und „Gesundheit“ nicht um gegensätzliche Werte, zwischen denen eine einfache Wahl zu treffen wäre. Vielmehr ist ein gewisser Grad an „Gesundheit“ unentbehrliche Bedingung für „die Wirtschaft“. Eine unkontrollierte Durchseuchung ermöglicht die Aufrechterhaltung des Normalbetriebs für einige Wochen oder Monate. Mittelfristig führen hohe Krankenstände jedoch zum Zusammenbruch von Lieferketten durch flächendeckendes Siechtum, langfristig droht eine Erschöpfung des gesellschaftlichen Arbeitskräftereservoirs durch dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. Nicht zuletzt erzeugt ein solcher Kontrollverlust ein hohes Maß an Unsicherheit und Instabilität, was einen Rückgang von Investitionen und das Abgleiten in eine längere Phase der Stagnation nach sich ziehen könnte. Um ein solches Szenario zu vermeiden, muss der Staat dem kurzsichtigen Raubbau der Einzelkapitale an der wichtigsten gesellschaftlichen Ressource vorbeugen.

Der Staat kann die Gesundheit nicht einfach zugunsten der Wirtschaft ignorieren. Zugleich ist die zentrale Stellung der Gesundheit in Zeiten der Pandemie kein Hinweis auf die Errichtung einer neurotischen Gesundheitsdiktatur. Die Auslösung einer Weltwirtschaftskrise kann nicht im Interesse des bürgerlichen Staates liegen, denn der Staat kann überhaupt nicht durch sich selbst bestehen. Er lebt davon, dass er sich einen Teil des gesellschaftlichen Mehrprodukts in Form von Steuern und Abgaben aneignet: „Beamten und Pfaffen, Soldaten und Balletttänzerinnen, Schulmeister und Polizeischergen, griechische Museen und gotische Türme (…) – der gemeinschaftliche Samen, worin alle diese fabelhaften Existenzen embryonischschlummern, sind die – Steuern.“ (Marx) [6] Doch diese Steuern sprudeln nur, wenn der gesellschaftliche Stoffwechsel im Fluss bleibt, wenn Mehrarbeit angeeignet wird, Arbeitskraft gegen Lohn, Lohn gegen Waren getauscht werden. Durch den Lockdown, der neben privaten Kontaktbeschränkungen auch einen verordneten Stillstand von Teilen der Wirtschaft beinhaltet, untergräbt der Staat somit seine eigene Lebensquelle. Ein Lockdown der Wirtschaft zum Zweck der Eindämmung der Pandemie lässt sich daher nur für einen kurzen Zeitraum aufrechterhalten, bevor sich Einnahmeausfälle als Steuerausfälle, Unternehmenspleiten als Belastung für die sozialen Sicherungssysteme geltend machen. Obwohl Politiker wie Emanuel Macron mit ihrer martialischen Kriegsrhetorik die vermeintliche Souveränität des politischen Willens in der Krise heraufbeschworen, schränkt die rasant gestiegene Staatsverschuldung die Spielräume staatlicher Gestaltungsmacht auf lange Sicht stärker ein denn je. Denn die Macht des Staates ist letztlich eine geborgte. „Der Souverän ist nicht souverän“ (Joshua Clover), sondern von der Kapitalakkumulation abhängig. [7]

4. Das Lockdown-Dilemma

Den Staat stellt die hereinbrechende Krise vor ein Dilemma, für das es keine optimale Auflösung gibt. Denn es muss mehreren widersprüchlichen Anforderungen gleichzeitig Rechnung tragen, ohne es doch hinreichend zu können: einerseits muss er – aus Gründen der Beständigkeit der Kapitalverwertung, der Legitimität und des inneren Friedens – die Gesundheit der Bevölkerung einigermaßen garantieren; andererseits muss er die Kapitalakkumulation so weit wie möglich in Gang halten, um sich selbst und die gesellschaftliche Reproduktion zu erhalten. Die Regierungen stehen also vor dem Dilemma, die Gesundheitskrise eindämmen zu müssen, ohne es mit den wirtschaftlichen Einschränkungen zu weit zu treiben.

Beide Ansprüche sind unabweisbar, schließen sich jedoch wechselseitig aus, zumindest in einer kurzfristigen Perspektive. Kontaktbeschränkungen sind nicht ohne Lockdown zu haben, ein Lockdown nicht ohne ein Stocken der Kapitalakkumulation. Das Dilemma lässt sich auch als Widerspruch zwischen den Bedingungen der Kapitalakkumulation und Verwertung selbst fassen: Der Lockdown schützt die Arbeitskraft als Potential, das in Zukunft genutzt werden kann, er unterbricht aber für eine Zeitspanne die wirkliche Verwendung der Arbeitskraft – zumindest in einigen peripheren Sektoren wie Gastronomie und Tourismus, deren Sonderinteressen hierfür temporär geopfert werden. Umgekehrt bleibt beim „Durchlaufenlassen“ der Pandemie die Kapitalverwertung zunächst intakt. Dafür werden die Bedingungen ihrer Reproduktion untergraben.

Die Regierungen und Staatsapparate handeln in relativer Autonomie innerhalb der ihnen durch die kapitalistische Produktionsweise auferlegten Bedingungen und Zwänge, die ihnen weder vollständig einsichtig sind, noch ihr Handeln mechanisch vorherbestimmen. Vielmehr sind sie zum experimentellen Eingriff in die Produktions- und Lebensverhältnisse befähigt und genötigt, wobei sich die letztlich nicht kontrollierbaren ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gewaltsam geltend machen und ihre Handlungsspielräume begrenzen. Möglichkeit und Notwendigkeit zum Experimentieren in einer hochdynamischen Situation erklären zum Teil die Inkohärenz der Regierungspolitik vieler Staaten, die mit Ad-Hoc-Maßnahmen und wiederholten Kurswechseln versuchten eine Lage in den Griff zu bekommen, die ihnen aufgrund des anfänglichen Herauszögerns unbequemer Entscheidungen entglitten ist. [8] Eine optimale Lösung ohne Verluste gibt es in diesem Dilemma nicht, wenn auch verschiedene außereuropäische Staaten wie Taiwan oder Südkorea durch ihr präventives Vorgehen recht erfolgreiche Strategien zur ökonomischen und gesundheitlichen Schadensminimierung eingeschlagen haben.

Doch auch für die Lohnabhängigen gibt es innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse keine optimale Lösung. Während sie einerseits auf verschiedenen Kontinenten u.a. durch wilde Streiks Druck für weitreichenden Gesundheitsschutz ausübten, hängt ihr Überleben zugleich vom Verkauf ihrer Arbeitskraft ab. Der beste Schutz „des Lebens“ bleibt abstrakt, wenn die notwendigen Lebensmittel fehlen, die in kapitalistischen Gesellschaften als Waren produziert und auf dem Markt gegen Geld erworben werden müssen. Ein Lockdown wie in Indien, der Wanderarbeiter im Namen der „Gesundheit“ in Arbeitslosigkeit und Hunger stürzt, führt sich selbst ad absurdum. Wo der Staat nicht willens oder fähig ist, die durch den Lockdown entstehenden materiellen Notlagen abzufedern, bleiben darum Anti-Lockdown-Proteste nicht aus. Als Ende Oktober in Italien und Spanien der zweite Lockdown bevorstand, demonstrierten Kleinunternehmer gemeinsam mit ihren Arbeiterinnen, Selbständigen und informell Beschäftigten unter Slogans wie „Wenn du uns einschließt, musst du uns bezahlen.“ [9]

5. When shit hits the fan

Als globales Ereignis hat die Pandemie alle Regierungen zwar vor ähnliche Fragen gestellt, die Antworten fielen jedoch unterschiedlich aus. Wie in der Klimakrise war die sogenannte Staatengemeinschaft nicht in der Lage, eine gemeinsame Lösung für ein globales Problem zu finden. Die Ordnung der Welt in konkurrierende Nationalstaaten legt stattdessen eine Handlungslogik nahe, nach der der Vorsichtige der Dumme ist: wer zuerst die Bremse zieht, überlasst das Feld den risikofreudigen Rivalen, der dann Extraprofite auf dem Weltmarkt einstreichen kann. In der Zeitung des italienischen Unternehmerverbandes „Confindustria“ hieß es folglich im März, es sei „unerlässlich, die Betriebe offen zu halten und der produktiven Aktivität und dem freien Warenverkehr Kontinuität zu geben. Die Produktionsketten heute zu unterbrechen würde bedeuten, Marktanteile zu verlieren und exportorientierte Betriebe zu schließen.“ Denn: „Unsere Konkurrenten greifen uns an, sie sind bereit, diese Momente der Schwäche auszunutzen.“ [10] In der Pandemie erwies sich diese Strategie als selbstzerstörerisch. Anstatt von ihrer Risikobereitschaft zu profitieren, zogen sich die Nationalökonomien des Westens zusammen in den Abgrund einer gesundheitlichen und ökonomischen Krise.

Die verschiedenen Vorgehensweisen innerhalb der westlichen Hemisphäre gruppierten sich entlang der zentralen Konfliktlinie der letzten Jahre, die zwischen einer postpolitischen Technokratie und ihren rechtspopulistischen Herausforderern verläuft. Doch während diese Lager sich im Stil des Regierens und der politischen Kommunikation spektakulär unterscheiden, haben sie tatsächlich in vielerlei Hinsicht ein sehr ähnliches Krisenmanagement betrieben.

So reagierten die westlichen Regierungen zunächst allesamt sehr zögerlich auf die heranrollende Pandemie, wodurch die erste Welle der Pandemie verheerend ausfiel. Durch ihre anfängliche, lagerübergreifende Laissez-faire-Haltung haben sie gemeinsam die Weichen für eine Eskalation der Pandemie gestellt. Von einer interessierten Dramatisierung der Pandemie kann keine Rede sein. Dies gilt für die traditionell liberalen Staaten der atlantischen Welt genauso wie für das zentristisch regierte Frankreich oder Spanien mit seiner linken Regierung.

Der Ausgangspunkt der westlichen Staaten ähnelt sich auch insofern, als sie unter dem Druck fallender Profit- und Wachstumsraten in den vergangenen Jahrzehnten eine Privatisierung und Rationalisierung der sozialen Daseinsvorsorge vorangetrieben haben. Begleitet wurde dieser Abbau sozialer Sicherungssysteme von einem Diskurs der Eigenverantwortung, der den Schutz gegen Krankheit und Lohnarbeitslosigkeit, ebenso wie die Altersvorsorge zunehmend den Einzelnen aufbürdet. Nun zeigte sich, dass dieses Regierungshandeln in der Vergangenheit die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung in der Gegenwart unterminiert haben.

6, Feindliche Zwillinge

Als die Krankheit durch schockierende Bilder aus Italien auch im Westen zunehmend ins Zentrum der medialen Öffentlichkeit rückte, zeichnete sich eine Ausdifferenzierung in den Strategien von Zentristen und Rechtspopulisten ab. Technokratie und Populismus sind feindliche Zwillinge, die sich gegenseitig brauchen: die Technokratie à la Merkel und Macron braucht den hässlichen Populismus, um sich als ziviles, geringeres Übel darzustellen, der Populismus à la Trump braucht die abgehobene Technokratie, um sich als einzig authentische Stimme des Volkes zu präsentieren.

Das Krisenmanagement des Zentrums ist technokratischer Natur. Regieren wird als pragmatisches Problemlösen durch kompetente Funktionäre verstanden, nicht als immer streitbares, parteiliches Ansinnen, die Welt nach Maßgabe bestimmter Werte und Interessen zu gestalten. Die technokratische Politik ist scheinbar über diese Konflikte hinaus und präsentiert sich als nüchtern und post-ideologisch. Charakteristisch ist daher die prominente Rolle wissenschaftlicher Experten, deren Erkenntnisse vermeintlich als Richtschnur politischen Handelns dienen.laula In diesem Sinne bemühte sich etwa die deutsche Bundesregierung stets, ihre Politik als Nicht-Politik darzustellen, als bescheidene Ausführung dessen, was virologischer Sachverstand objektiv gebietet.

Wie in der ökologischen Krise zeichnete sich der Kurs des technokratischen Zentrums dadurch aus, eine nominelle Anerkennung der Gefahrenlage mit einer größtmöglichen Beibehaltung des business as usual zu verbinden. Auch in der Pandemie kam es wieder zu einer Anrufung des Individuums als zentralem Subjekt der gewünschten gesellschaftlichen Veränderung. Indem die Regierung die Verantwortung für das Wohlergehen des Gemeinwesens den Einzelnen diskursiv zuspielte, erschien der Verlauf der Pandemie von der moralischen Güte des individuellen Handelns abzuhängen. Verzicht und Selbstregulierung, aber auch Rücksichtnahme, wechselseitige Verantwortung und Hilfsbereitschaft sind die Tugenden der Stunde. Die plötzliche Beschwörung von Solidarität und Zusammenhalt steht dabei in schroffem Kontrast zu den Bewusstseinsformen der Eigenverantwortung, die dieselben Parteien in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich durchsetzen wollten. Die Doppelbotschaften dieser Politik bestehen darin, den Individuen einerseits die Verantwortung für die Pandemie zu übertragen, ihnen andererseits aber keine Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu ermöglichen und die Verhältnisse im Allgemeinen so zu gestalten, dass egoistisches Verhalten rational und notwendig erscheinen müssen.

Im politischen Hohlraum zwischen den technokratischen Regierungen und atomisierter Bevölkerung gedeiht der Populismus, der die Empörung des „Volkes“ gegenüber den scheinheiligen, abgehobenen „Eliten“ in eine konformistische Rebellion kanalisiert. In der Corona-Pandemie setzten diese Regierungen sich besonders auf symbolischer und ideologischer von der Strategie des technokratischen Zentrums ab. Wie üblich inszenierten ihre Führer sich als Tabubrecher, die sich nicht an die überzüchteten Manieren der guten Gesellschaft halten. So verweigerten sie sich dem Regelkatalog der neuen corona correctness und zeigten sich demonstrativ ohne Maske oder beim handshake mit Corona-Patienten.

Wie in der Klimakrise dienen demonstrative Wissenschaftsskepsis, Relativierung und Leugnung der Bedrohung als Legitimationsideologien für einen wirtschaftsliberalen Kurs. Das Zentrum verwickelt sich in Widersprüche, indem es die Bedrohung der Klimakrise verbal anerkennt, nur um gleichzeitig am business as usual festzuhalten. Die Position der Populisten ist in sich konsistenter, auch wenn sie dafür wesentliche Aspekte der Wirklichkeit leugnen muss: es gibt kein Problem, also muss sich auch nichts ändern. Aufgrund der Geschwindigkeit der Krisenentwicklung musste das rechte Lager seine Ideologie jedoch rasch modifizieren. Nachdem eine Leugnung der Krise immer schwieriger ist, schwenkt die Rechte nun in einen Fatalismus ein: es gibt zwar eine Pandemie, doch wir können ohnehin nichts mehr daran ändern, weshalb – immer noch – alles beim Alten bleiben kann. Dasselbe Schwanken der Rechten zwischen der „direkten“ und der „indirekten Apologetik“ (Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft) lässt sich auch bezüglich der ökologischen Krise erkennen. [11]

Der mit dem neoliberalen Diskurs der Eigenverantwortung einhergehende abstrakte Individualismus der das Zurückgeworfensein der Einzelnen auf sich selbst im Konkurrenzkampf als Freiheit verbrämt, fördert anstelle solidarischer Verhaltensweisen einen rücksichtslosen Egoismus. Nur die Robusten überleben die ungehinderte Durchseuchung, der Rest hat Pech gehabt. Mitleid können wir uns nicht leisten. Durch sozialdarwinistische Gleichgültigkeit, Ignoranz und gegenaufklärerische Propaganda ließen die rechten Regierungen kostbare Zeit verstreichen, versäumten es, individuelle Verhaltensänderungen anzuregen und unterminierten die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen. Schließlich blieb jedoch auch diese Regierungen nichts anderes übrig, als ein viel zu später Lockdown. [12]

Der chaotische, inkohärente Kurs der rechten Regierungen hat entscheidend zur Entstehung eines Worst-Case-Szenarios beigetragen, bei dem weder „die Gesundheit“, noch „die Wirtschaft“ gut davonkamen. So führte das erratische Verhalten der britischen Regierung in der ersten Welle sowohl zur höchsten Sterblichkeit in der ganzen EU, als auch zu einem drastischen Einbruch des BIP um 22,1% im zweiten Quartal 2020. Das Experimentieren mit zynischen Trade-Off-Kalkulationen, die den Tod der Schwachen für eine starke wirtschaftliche Performance in Kauf nehmen, folgte einem beschränkten Kalkül, das sich vom nationalökonomischen Standpunkt als selbstmörderisch herausstellte.


[11 Mario Neumann & Maximilian Pichl: Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt. 20.03.2020 im Freitag: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-welt-nach-corona-wird-jetzt-ausgehandelt

[33 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: MEW Bd.19, S. 222.

[44 Karl Marx, Kapital Bd.1, MEW 23, S. 596.

[55 Karl Marx, Kapital Bd.1, MEW 23, S. 597f.

[66 Karl Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. In: MEW 4, S. 348.

[77 Joshua Clover: The Rise and Fall of Biopolitics. A response to Bruno Latour. In Critiqual Inquiry (Blog), 29. März 2020, online unter: https://critinq.wordpress.com/2020/03/29/the-rise-and-fall-of-biopolitics-a-response-to-bruno-latour/

[88 Vgl. Cinzia Arruza / Felice Mometti: Governance and Social Conflict in a Time of Pandemic. In: Viewpoint Magazine, 9. April 2020, online unter: https://viewpointmag.com/2020/04/09/governance-and-social-conflict-in-a-time-of-pandemic/

[99 Vgl. Bethan Bowet-Jones / Franceso Pontarelli / Giuliano Granato / Maurizio Coppola: Napoli gegen den Lockdown. Re:volt Magazine, 28. Oktober 2020, online unter: https://revoltmag.org/articles/napoli-gegen-den-lockdown/

[1010 Zitiert nach Maurizio Coppola: Arbeiten in Zeiten des Corona-Virus, 13. März 2020, Re:volt Magazine, online unter: https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/

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