Eine erste Auswertung des MAYDAY in Wien - Der Frühling hat begonnen!

veröffentlicht am 2. Mai 2021

Einige erste Gedanken zu MAYDAY-Demonstration in Wien 2021. Wir hoffen auf eine Debatte um die Geschehnisse, um gemeinsam zu verstehen was vorgefallen ist und um zu besprechen wie wir mit solchen Situationen in Zukunft umgehen können.

Gestern waren wir auf der Straße um an der Mayday-Demonstration teilzunehmen. Unter dem Titel „Kapitalismus ist die Krise! Soziale Kämpfe verbinden!“ ist es einem großen Bündnis aus verschiedensten Gruppierungen, Strukturen und Strömungen gelungen eine durchaus beachtliche Demonstration auf die Beine zu stellen. Angeführt von einem feministischen „WE CARE FOR REVOLUTION“-Block folgten anarchosyndikalistische Gewerkschaften, autonome, antifaschistische und anarchistische Gruppierungen und Personen sowie soziale, Anti-Abschiebe- und Bildungs-Initiativen. Über drei Stunden lang zog die Demonstration ausgehend vom Bahnhof Ottakring zum Sigmund-Freud-Park, wo eine Abschlusskundgebung stattfand. Bis zum Ende der Demonstration verlief alles ruhig, es kam zu keinen uns bekannten Zwischenfällen und die Demonstration wurde von hunderten Leuten aus Fenstern und Türen freudig empfangen.

Im Sigmund-Freud-Park angekommen wurde nach kurzer Zeit von einem Baugerüst vor der Votivkirche ein „Uni besetzten! Oida*e“-Banner gehisst, was bei der versammelten Kundgebung Jubel, bei der Polizei den ersten Einsatz des Tages auslöste. Um die Aktivist*innen beim Herabsteigen festnehmen zu können, zog die Polizei im Votivpark einen Kette um den Bauzaun vor der Votivkirche. Da jedoch innerhalb kürzester Zeit einige hunderte Demonstrant*innen zu Hilfe eilten, war die Aufmerksamkeit der Polizei so sehr abgelenkt, dass die Aktivist*innen erfolgreich fliehen konnten. Eine sehr erfreuliche, erfolgreiche und spontane Aktion! Zwischen den heran eilenden Polizeieinheiten und Demonstrant*innen kam es jedoch direkt zu Konfrontationen und ersten brutalen Festnahmen, welche von immer mehr Demonstrant*innen und Polizeieinheiten aufgelöst, bzw. abgesichert werden wollte. Der erste Überraschungsmoment konnte leider nicht für eine erfolgreiche Befreiungsaktion genutzt werden, die anwesenden Demoteilnehmer*innen waren hierfür nicht entschlossen genug und zu schwach organisiert. Sicherlich kann das in diesem spontanen Moment schwer kritisiert werden, später jedoch mehr hierzu.

Im selben Moment, wie es zu anfänglichen Auseinandersetzungen kam, wurde von einem anwesenden Faschisten unmittelbar vor den Augen der Polizei Pfeffer in die Menge der Mayday-Demonstrant*innen gesprüht. Der Angriff wurde zwar unmittelbar sehr entschlossen zurückgeschlagen, jedoch konnte der Faschist zwischen den Reihen der Polizei hindurch Deckung finden. Über eine Festnahme der Person ist derweil nichts bekannt, im Internet wird berichtet er wäre kurzzeitig festgehalten worden. Staat und Nazis Hand in Hand.

Die Lage neben der Kirche spitzte sich derweil immer weiter zu. Es kam zu brutalen Übergriffen mittels Schlägen, Tritten, Schlagstock und Pfeffer, sowie zu weiteren Festnahmen. Im Sigmund-Freud-Park an der Straße des Achten Mai sammelten sich derweil immer mehr solidarische Menschen, welche nicht direkt in die Auseinandersetzungen eingebunden waren. Als die Lage im Votivpark für die anwesenden Personen immer schwieriger wurde, flüchteten einige der Demonstrant*innen zurück in den Sigmund-Freud-Park, was die Polizei nicht daran hinderte unter Einsatz brutalster Gewalt durch die versammelte Gruppe der sich solidarisierenden Menschen zu brechen und Jagt auf einzelne Personen zu machen. Der Rückzug der Fliehenden in die Abschlusskundgebung war jedoch nicht wirklich möglich. Überall fliehende Menschenmassen, am Boden sitzende und vereinzelt herumstehende Personen interessierten sich nicht, oder waren zu überraschst und unvorbereitet dafür, dass die Polizei hier über ein-/ zweihundert Meter im Vollsprint jagt auf Menschen macht. Es wäre ein einfaches sich hier in den Weg zu stellen und der weglaufenden Person die Fluch zu ermöglichen. Damit zu rechnen, dass mitten in der Versammlung auf ein Mal hunderte durchdrehende Polizist*innen auftauchen ist vielleicht etwas zu viel verlangt, dennoch sollen wir uns darüber austauschen.

Sicherlich haben nicht alle Menschen ein Interesse daran die Auseinandersetzung mit der Polizei zu suchen. Wir würden sogar behaupten auf der gesamten gestrigen Mayday-Demonstration war die Aktionsbereitschaft sehr gering, es handelte sich um eine ruhige und keine militante Demonstration. Was jedoch allen demonstrierenden Menschen immer bewusst sein sollte – und dies wurde gestern auf die harte Tour einigen bewusst – ist, dass Militanz nicht notwendig die Form das Angriffs annehmen muss. Jede Demonstration muss in Grundzügen in der Lage sein sich selbst gegen gewalttätige Übergriffe zu schützen, sei es von Seiten der FaschistInnen und RassistInnen oder der Polizei. Wir können, gerade dann, wenn wir „friedlich“ und „sicher“ mit Kindern und Familien demonstrieren wollen, nicht auf militanten Selbstschutz verzichten. Das sollte nach gestern allen klar sein. Auf dieser Erkenntnis aufbauen ergeben sich einige Schlussfolgerungen:
- Es ist absolut wichtig, dass alle Teilnehmer*innen auf einer Demonstration wach und bereit sind, im Falle eines wie auch immer gearteten Angriffs auf die Demonstrationen handeln zu können. Es gibt keine Polizei und keine Ordner*innen die uns schützen, wir sind alle gemeinsam und solidarisch für unseren gegenseitigen Schutz voll und ganz selbst verantwortlich.
- Das bedeutet auch, dass wir nicht einfach am Boden herum sitzen und warten, während die Polizei Angriffe auf unsere Genoss*innen fährt. Steht auf, bildet Ketten, zieht euch passend an, um euch und anderen das Untertauchen zu ermöglichen.
- Das bedeutet auch, dass wir uns so weit es geht, auch vor wenig aktivistischen Demonstrationen oder wenn wir selbst keine Aktionen planen, in Bezugsgruppen organisieren, welche wir dann spontan zum Leben erwecken, wenn es darum geht uns zu verteidigen. Die passende Kleidung und Erste-Hilfe-Material dabei zu haben schadet nie.
- Sich im Falle eines Angriffs zu verteidigen bedeutet nicht in der ersten Reihe zu stehen, für diese finden sich meistens einige Leute. Viel wichtiger ist es die hinteren Reihen geschlossen zu halten, wenn der ersten Reihe das Pfeffer und die Schläge den Atem rauben. Es muss möglich sein sich in die Versammlung zurück zu ziehen, ohne über hunderte Meter von durchgedrehten Fascho-Cops gejagt, zusammengeschlagen und verhaftet zu werden. Bewahrt einen kühlen Kopf, hackt euch ein, rennt nicht sofort in Panik davon. So wie gestern darf das in Zukunft auf keinen Fall wieder ablaufen.
- Es bringt nichts erstaunt oder entsetzt darüber zu sein, dass die Polizei ein Feind linker und insbesondere antikapitalistischer Demonstrationen ist. Ja, gestern wurden Kinder und überhaupt viele Menschen massiv und völlig „sinnfrei“ durch den Polizeieinsatz in Gefahr gebracht. Je schneller wir jedoch akzeptieren, dass die Polizei (wie FaschistInnen) unser politischer Feind ist, der zur Not auch über unsere Leichen geht, desto besser können wir uns bei nächsten Mal kollektiv selbst zur Wehr setzen.
- Im Internet finden sich tausende Videos von Auseinandersetzungen zwischen Demonstrationen und Polizei. Hierzulande es ist meist nicht üblich sich militant selbst schützen zu müssen, daher ist die Erfahrung gering. Schaut euch an, wie in anderen Regionen der Welt Selbstschutz funktioniert, macht euch mit Situationen vertraut und schaut euch die brauchbaren Taktiken ab. Internationale Solidarität bedeutet auch international voneinander zu lernen. Nicht überall funktioniert alles gleich. Das meist muss aber auch nicht immer wieder und an jedem Ort aufs neue erfunden werden.
- Bildet Banden! Und Bezugsgruppen: Jede autonome und anarchistische Demonstration leben von Eigeninitiative. Niemensch wird euch Anweisungen geben oder eine strukturierte Ordnung herstellen. Das Chaos ist unser Prinzip! Traut euch aktiv zu werden, geht voran wenn ihr wollt, haltet euch zurück wenn ihr wollt, aber seid selbstbewusst bei der Sache. Verschafft euch einen Überblick über die Lage, kommuniziert mit anderen, und tretet auf eigene Faust in Aktion.

Zum Abschluss noch einige Worte zur gesellschaftlichen Situation in welcher wir uns befinden. „Der Frühling hat begonnen“, so lautet der zweite Teil der Überschrift. Damit soll gemeint sein, das im Moment eine alte Phase zu Ende geht und eine neue beginnt. Die Corona-Pandemie ist ein Einschnitt in die kapitalistische Gesellschaft, wie er seit Jahrzehnten nicht stattgefunden hat. Die alten Zeitrechnungen und Koordinatensysteme lassen sich nicht mehr eins zu eins auf die jetzige Zeit anwenden. Alte Handlungsmuster sind unbrauchbar geworden. Neue Dynamiken sind im entstehen. Wir waren alle über ein Jahr kaum aktiv und wir können davon ausgehen, dass wir mit explosiver Energie in die Zukungt starten werden. Zum einen haben wir gestern bei MAYDAY schon gesehen, dass unsere Demonstration groß war, die Inhalte ernst und entschlossen. Die Georg Floyd Demo war vielleicht deutlich größer und deshalb überraschender, auch dort konnten wir in gewisser Weise eine Ahnung davon bekommen welche Bewegungsenergie noch verborgen in uns liegt. Doch MAYDAY war dafür organisert, mit immens viel Inhalt beladen und daher umso erstaunlicher mit wie vielen Menschen wir auf der Straße waren. Wir wissen alle, dass uns gewaltige Kämpfe bevorstehen. Um die Kosten der Krise und um die Zukunft dieser zukunftslosen Gesellschaft überhaupt. Hier soll jedoch nicht genauer auf die inhaltliche Ausrichtung der kommenden Kämpfe eingegangen werden, die Demonstration hat hier selbst den praktischen Maßstab festgelegt, es wird um vereinte, vielfältige und solidarische Kämpfe gehen. Die allgemeine kapitalistische Krise drückt sich in durch vielfältige besondere Ausdrucksformen von Herrschaft und Krise aus. Hier soll es im Folgende viel eher um den Aspekt des Kampfes selbst gehen, denn dieser ist unvermeidlich und wir haben die Schärfe, mit welcher er ausgetragen wird, gestern an unseren eigenen Körper erfahren dürfen.

Erstens haben wir gesehen, dass wir durchaus in der Lage sind eine breite inhaltliche Bewegung zu formieren, wenn sich die fragmentierten sozialen Bewegungen zusammenschließen. Der Anlass war dieses Mal der 1. Mai. Wir sollten uns jedoch weiter daran orientieren und Kampfformen praktizieren, welche generell auf unsere vereinte Stärke setzt. Wir müssen unsere „Teilbereichskämpfe“ in Form einer gemeinsam kämpfenden Bewegung durchsetzten. Die Stärke der Solidarität für unsere je eigenen Anliegen nutzen, uns alle gemeinsam und gleichzeitig stärken. Wo Raum für Vielfältiges, ist Platz für kollektive Durchsetzungs- und Kampfkraft.

Zweitens stößt die Durchsetzung von Befreiung spätestens an den staatlichen Hüter*innen der Ordnung an eine gewaltsame Grenze. Es muss daher von allen Beteiligten ein Umgang mit der Problematik der Militanz gefunden werden. Es wird keine kämpfende Bewegung geben, wenn wir nicht eine neue Generation militanter Kämpfe entwickeln können. Wie bereits erwähnt können wir hier viel von anderen internationalen Kämpfen lernen und abschauen. Uns gegenseitig die Angst vor der Auseinandersetzung zu nehmen scheint uns in unseren Gefilden von besonderer Bedeutung zu sein.

Drittens müssen wir, da wir in vielen Fällen der Polizei direkt unterlegen sein werden, auf radikale Formen soziale Aneignung setzten, welche nicht unmittelbar die Konfrontation suchen. Besetzungen können, müssen aber nicht militant verteidigt werden, Blockaden ebenso, Klima-Sabotage funktioniert am besten eh im Dunkel der Nacht. Die Bewegung des feministischen Streik stößt ebenfalls in neue Richtungen von An- und Umeignung von Raum und Zeit vor. Die neue Arbeiter*innenbewegung wie sie weltweit in den Bereichen der Care- und Plattformökonomie entsteht ebenfalls. Usw.

Viertens sollten wir damit beginnen solidarische Strukturen aufzubauen, welche die befreite Gesellschaft, die Kommune oder die Anarchie, wie wir es auch immer nennen wollen, in immer breiteren Bereichen unserer alltäglichen Re/Produktion hineinträgt. Wenn wir uns vor der Idee der Revolution als einmaligem Bruch mit der herrschenden Ordnung verabschieden, können wir beginnen die Wirksamkeit von Herrschaft in immer weiteren Teilen des Alltags durch direkte Aktionen und gegenseitige Hilfen zu bekämpfen. Solidarische Landwirtschaften und Ökonomien, Mieter*innen-Streiks, feministischer Streik, usw. sind allesamt direkte Mittel des Kampfes um die Grundlage für – eine hoffentlich doch eines Tages eintretende – Revolution zu schaffen. Basisbewegung bedeutet kleine, selbstbestimmte aber immer radikale Schritte zu gehen. Nur so kann das Geflecht revolutionär-solidarischer Beziehungen wachsen, auf dessen Grundlage wir die Macht des Kapitals, des Staates, des Patriarchats und überhaupt aller systemischen Herrschaft brechen können.

Kapitalismus ist die Krise! Soziale Kämpfe verbinden!
Gemeinsam Kämpfen! Gemeinsam Kämpfen lernen!
Für eine Bewegung um die Fortführung des MAYDAY an jedem Tag!

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