Kein Ankommen, kein Zurück.

veröffentlicht am 4. Mai 2021

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Im Gefängnis schien mir meine Situation mit der eines Astronauten vergleichbar zu sein. Der Hochsicherheitstrakt eine Raumstation, die um die Erde kreist, technische Verbindungen zur Außenwelt und Kontakt wie hin und wieder Funkverkehr. Vom gesellschaftlichen Alltag abgelöst ein Blick aufs Ganze und oft nur Unverständnis über das Konkrete, was als Wahn und Irrwitz erscheint.

So war die RAF auch: Sicht aus weiter Ferne. Sie verwarf die Veränderung des Unmittelbaren und suchte nach etwas völlig Neuem. „Sprung“ war damals eine oft genutzte Metapher. Schon im Gefängnis dachte ich irgendwann: Wir sind gesprungen und nirgendwo angekommen. Die in Stammheim hatten am Ende für sich eine Lösung: Sprung in den Tod.

Im Gefängnis schien mir meine Situation mit der eines Astronauten vergleichbar zu sein. Der Hochsicherheitstrakt eine Raumstation, die um die Erde kreist, technische Verbindungen zur Außenwelt und Kontakt wie hin und wieder Funkverkehr. Vom gesellschaftlichen Alltag abgelöst ein Blick aufs Ganze und oft nur Unverständnis über das Konkrete, was als Wahn und Irrwitz erscheint.

So war die RAF auch: Sicht aus weiter Ferne. Sie verwarf die Veränderung des Unmittelbaren und suchte nach etwas völlig Neuem. „Sprung“ war damals eine oft genutzte Metapher. Schon im Gefängnis dachte ich irgendwann: Wir sind gesprungen und nirgendwo angekommen. Die in Stammheim hatten am Ende für sich eine Lösung: Sprung in den Tod.

Wir sind gescheitert. Heute sage ich auch: „Zu recht!“. Wir waren offenkundig nicht in der Lage, gegengesellschaftliche soziale Strukturen zu setzen und zu halten. Und doch –! Jeder Neuansatz von Befreiung wird die Trennung von der bürgerlichen Gesellschaft zur Bedingung haben und damit an einem ähnlichen Ausgangspunkt stehen wie wir.

Wir hatten uns 1996 bei einer Veranstaltung von David Becker getroffen im Uni-Hauptgebäude in Hamburg. „Wir“ ist dabei schon nur noch ein Vergangenheitsbezug. 1993 war die RAF zerbrochen, „der Monolith RAF“, wie Rebmann es ausdrückte, hatte sich selbst gespalten und darin die fehlende politische Perspektive unüberwindbar gemacht. Das „Wir“ meint also: Ehemalige Mitglieder aus bewaffneten Gruppen aus der Nach-68er-Zeit. Ein aktuelles „Wir“ gab es 1996 nicht mehr.

Im Gefängnis hatte wohl jeder von uns das Buch von David Becker, „Ohne Hass keine Versöhnung“, gelesen. Auf der Veranstaltung tauchten dann auch andere Ex-Gefangene auf. Diejenigen, die die Straßenseite gewechselt und den Kopf gesenkt haben, wenn sie mir begegnet sind, besuchten ebenso seinen Vortrag. Es scheint, als ob Gemeinsames beibehalten wird, das den subjektiven Dissens überdauert. Wir saßen verstreut in der Menge und hörten den Vortrag von David Becker über Folter und Traumatisierung in Chile, nicht nur der politischen Gefangenen und ihrer Angehörigen. Becker sprach ebenso über die Traumatisierung der Gesellschaft, die aus dem Schweigen und der Verdrängung resultiert. Am Ende dieser Tagung wurde ein nächstes Treffen zum Thema Folter angekündigt. Es fand Wochen später im Balint-Institut in Hamburg statt und war mehr als Fachtreffen der verschiedenen Therapieansätze gedacht. Aber auch dort erschienen mehr als ein Dutzend ehemalige Angehörige bewaffneter Gruppen aus der BRD, teilweise von weit angereist. Meinem Eindruck nach war das „Fachpublikum“, sofern es vorher aus den Anmeldungen nicht etwas erahnte, auch überwältigt von dem, was ihnen da gerade begegnete.

Die Situation im Hochsicherheitstrakt, die jahrelangen unterschiedlichen Isolationsvarianten waren zwar bekannt aber ferngehalten. Schon David Becker schien nicht begeistert, als er auf die Situation in der BRD angesprochen wurde und bezog sich lieber auf Chile. Volker Friedrich aber sprach in einem Beitrag an, dass gesellschaftlich die Situation in den Hochsicherheitstrakten nicht wahrgenommen wurde, Folter nicht das schwarze Privileg der Dritten Welt ist und auch hier Traumatisierungen vorliegen aus politischen Kämpfen, die unabhängig von den Handlungen der Einzelnen oder politischen Gruppe gesehen werden müssen.

Während seiner Rede hörte man hin und wieder ein leise gestöhntes „ja“ aus dem Kreis der Ehemaligen. Hier wurde uns angesichts des Zerstörungsversuchs gegen das eigene Ich und Wir, Respekt gezollt. Von den stattfindenden sechs Arbeitsgruppen war in fünf die Rede von Gefängnis, Isolation und genötigtem Überlebenskampf. Ergebnis dieser Tagung war, ein Extra-Treffen zu den Ex-Mitgliedern bewaffneter Gruppen zu machen.

Beim nächsten Treffen waren wir vielleicht 25 Leute. Ich hatte gehofft, dass wir über uns reden, über die Haft, die Politik, die Gruppenmoral, die Spaltung, über die Selbstzerstörung unseres Kollektiv, die falsche Erfüllung unserer Hoffnungen, auch, dass wir eine neue Ebene finden, um das Private zwischen uns zu klären und vieles andere mehr. Sicher hatte jede/r ein solches Interesse, sonst wären die meisten nicht gekommen. Gewonnen aber hat das Misstrauen und das Bedürfnis, sich zu verbergen. Am Anfang stand das Eingrenzungsbemühen: ‚Wir wollen nur über die Haftbedingungen reden’, kam von denen, die sich als andere Fraktion definierten. Über die Aktion des Feindes sollte gesprochen werden, nicht über das Eigene. Die anwesenden Therapeuten wurden in dieser Bestimmung verortet. Sie sollten in Fachbegriffen untermauern, dass die Haft eine Vernichtungshaft war, also Folter. Alles andere war Politik und dazu aber braucht man keine Therapeuten. Noch Jahre später hatte mir Brigitte (Mohnhaupt, Anmerkung Sunzi Bingfa) bei einem Knastbesuch an den Kopf geworfen, dass sie solche Leute nicht braucht, um zur Politik zu kommen. Das war früher auch meine Haltung: „Arzt, heile Dich selber!“ Im Gefängnis kann man etwas anderes auch nicht zulassen. Aber inzwischen war die große Mehrheit der ehemaligen Mitglieder bewaffneter Gruppen draußen und von keiner staatlichen Macht mehr an der Diskussion gehindert. Die Geschichte der RAF war zu Ende (auch wenn die Auflösungserklärung nach einigem Fordern erst zwei Jahre später kam, so war es doch allen klar) – und trotzdem: Wir waren selber nicht fähig, untereinander zu kommunizieren. Wir brauchten einen geschützten Raum, und wir brauchten einen begleitenden Blick von außen.

Bei einigen aber schien es so, als wären wir noch im Knast und jede Außenwelt sei feindlich. An dem Eingrenzungsversuch, nur über das zu reden wo wir auch Opfer waren, brach es dann. Als würde jedes Ansprechen von eigener Verantwortung bei uns und eine Kritik unserer politischen wie sozialen Praxis den Aufbruch als solchen verwerfen. Andere wollten nicht hören, dass wir auch mit uns etwas gemacht haben. Für sie mussten wir ein Kollektiv sein, das eine positive soziale Eigenstruktur hatte. Alles andere gehörte hier nicht hin, als sei das nicht das Wirkliche, sondern das Wirkliche sei der Wunsch und der Anspruch, dass wir andere Menschen sein wollten. Ich erinnerte damals als Beispiel nur an Lutz (Taufer, Anmerkung Sunzi Bingfa) , der 1977 von der Liste der zu befreienden Gefangenen gestrichen wurde, weil er nach schweren körperlichen Quälereien durch Wärter in der JVA Bochum einen Hungerstreik abgebrochen hatte. Wer nicht alles durchhält, kann nicht kämpfen! Das war auch unsere Moral. In ihr gibt es auch die kalte Seite, alles auf Funktionalität für den Kampf zu reduzieren.

Mit diesem Hinweis hatte ich jedoch schon den Generalverdacht gegen mich bestätigt, Grundsicherheiten in Frage zu stellen. Die ganze Zusammenkunft hatte etwas Fragiles. Es schien, als könne alles jeden Augenblick wieder zerbrechen.

Im nächsten Treffen wurde erneut von einigen aufgeworfen, dass nur die Haftbedingungen Thema sein dürften. Und die Machtfrage wurde gestellt. Matthias S., einer der Psychoanalytiker, der zu diesem Treffen nicht kommen konnte, hatte in einem Brief an einen Kollegen sich für die Fortsetzung der Treffen ausgesprochen, dabei auch einen Blick aufgemacht. Er selbst war bestimmt von einer Erfahrung aus seiner K-Gruppen-Zeit, wo er nach jahrelanger Gruppentätigkeit wegen eines Widerspruchs ausgegrenzt wurde. Sein bester Freund von frühester Jugend an hatte sich hier auf die Parteilinie gestellt und mit ihm gebrochen. Der Freundesverrat scheint eine Konstante beim „Dienst an der Sache“ zu sein. Auch nachdem für diesen und seine K-Gruppenführung die Politik verraucht war, kam es nie zu einer Auseinandersetzung über den persönlichen Bruch, also den Verrat. M. zog also Parallelen zur RAF. Das führte bei einem RAF-Mitglied dazu, den Ausschluß von M. zu verlangen mit der Begründung, dass sie sich nicht vorstellen könne, mit einer Person weiter in einer Gruppe zu sein, welche die Strukturen der RAF mit denen anderer Gruppen für vergleichbar hielt. Das wollte sie dann so auch durchsetzen, was aber nicht gelang. Ich hatte damals dabei die Frage der Selbstverdinglichung angesprochen, ohne die dieser Kampf gar nicht geht. Damit hatte ich mich in den Augen von anderen wieder mal entlarvt. Sie suchten lieben den Unterschied und daraus den Gegensatz, um abwehren zu können. Endlich schien eine begründbare Linie für die Spaltung zwischen uns gefunden zu sein. „Das ist der rote Faden bei Dir“, erklärte Irmgard (Möller, Anmerkung Sunzi Bingfa), um dann den großen Unterschied deutlich zu machen, dass bei ihr und anderen eine andere – gemeint war natürliche eine revolutionäre – Subjektivität vorhanden sei, nämlich die mit dem Ziel, „sich selbst, den Körper, die Politik und die Moral funktional zu machen für den Kampf.“ Gegen das Ansprechen der Selbstverdinglichung hielt sie als großen Unterschied die Selbstfunktionalisierung hoch. Gewonnen hatte schon wieder das Abgrenzungsbedürfnis.

Zum dritten Treffen schickten Sie dann nur noch zwei Abgesandte, Adjutanten Charaktere ohne verlässliche eigene Position, mit denen man dann auch nichts diskutieren kann. Sie erklärten nun, dass ihre Fraktion nicht mehr in die Gruppe käme und eine eigene organisieren werde, die nur die Haftbedingungen zum Thema mache. Organisiert haben sie nie eine.

Der Zusammenhang der blieb, war eine völlig andere Gruppe, eine, die ich mitunter selber als sehr seltsam empfand, nicht nur wegen der Zusammensetzung aus ehemaligen Mitgliedern der RAF und der Bewegung 2. Juni, Mitglieder „Kämpfender Einheiten“ oder legal gebliebenen Unterstützern, sondern auch wegen der Begleitung durch mehrere PsychotherapeutInnen aus unterschiedlichen Therapieschulen. Alles war ohne längerfristiges Konzept und Absprache. Lange Zeit wusste man nie beim nächsten Treffen, ob es nicht das letzte ist. Sowohl von Gefangenenseite als auch von Therapeutenseite wurde das immer wieder neu in Frage gestellt. Von den ca. acht bis zehn Therapeuten blieben in den letzten Jahren zwei, Volker Friedrich und Angelika Holderberg. Auch von „unserer“ Seite, also der der ehemaligen Militanten und ihrer Unterstützer blieben welche weg und andere kamen neu.

Einschub Eins: Ich treffe Moishe., den ich 32 Jahre nicht gesehen habe. Wir waren nicht befreundet, wir kannten uns nur wie man sich damals oft nur kannte. Er war mit Ullrich Wessel befreundet, einem unserer Toten in Stockholm. Ihn hatte ich als ersten von der Gruppe, die dann als „Kommando Holger Meins“ auftrat, getroffen. Er war mir neben meiner Gefährtin der nächste von der Gruppe. M. erzählt von U. und ich höre zum ersten Mal: U. war homosexuell. Ich höre weiter etwas Unglaubliches und doch, weil es zu unserem Lebensgefühl damals passte, gleichzeitig auch Vertrautes: Mit dem Freund trampte U. zuerst durch Europa, dann durch Afrika. Sie kamen bis in den Kongo. Ohne Geld und Mittel, selbst das Wasser war zu Ende, hingen sie dort auf einer Straße und kamen nicht mehr weiter. Die Triebkraft war: Strecke hinter sich und die Vergangenheit, Gesellschaft, Familie, Land und Leute zu bringen. Sie wurden aufgegabelt von einem LKW-Fahrer, der für den Vater von U. arbeitete, für dessen Edelholzgeschäft. In Afrika von der Vergangenheit eingeholt und ins Falsche gerettet. Wenn es keine Flucht gibt, was gibt es zu verlieren?

Wir wären füreinander gestorben. Manche sind es. Aber wir wussten damals voneinander aus der Vergangenheit nichts. So war es für mich im Kommando Holger Meins gegenüber den meisten, so galt aber auch für die Jahre vor der Illegalität. Den Real-Namen meiner Freundin hatte ich erst nach unserer Verhaftung erfahren. Ich hatte auch nie danach gefragt und sie auch nicht nach meinem. Wir lebten und kämpften zusammen, Gespräche über unsere Vergangenheit fanden so gut wie gar nicht statt. Sie war verloren und abgehakt. Voneinander wussten wir nur, was wir über uns beim anderen erkannten. Und dass wir raus wollten aus der Gesellschaft, nicht in permanenter Verdrängung als Flucht, sondern als Konfrontation im Wissen, dass uns unser Leben gestohlen wird und wir uns das zurückerobern müssen. Aus meiner Sicht, was für andere ganz anders sein mag, waren wir auch deshalb von vorneherein so nahe untereinander, weil wir eh verloren waren. Ich bin immer überrascht, wenn andere aus unserem Zusammenhang sagen, für sie sei die Revolution etwas konkret Mögliches gewesen. Diese Sicht hatte ich nie. Als ich zur RAF ging, war die emotionale Phase aus 1968, nach der wir auch der eigenen Befreiung alle Türen öffnen können, schon vorbei. Wir zehrten noch von der alten sozialen Kraftquelle, die aber mehr und mehr versiegte. Mir schien es wahrscheinlich, dass wir persönlich einen hohen Preis zahlen würden. Mich schreckte das nicht. Das Einpassen in diese Gesellschaft empfand ich als die größere Bedrohung. So gab es nichts zu verlieren. Wichtig war nur, im Widerstand einen eigenen sozialen und politischen Prozess zu haben. Ich hatte schon 1972 meine Papiere an die RAF abgeben. Was mich selber hielt, war nur die Unsicherheit, ob ich für diesen Kampf reif genug bin.

Irgendwann mit 19 oder 20 Jahren war ich über den Begriff „Antagonismus“ gestolpert. Auf meine Frage an jemanden nach dem Bedeutungskern, bekam ich als Antwort: „Antagonistische Konflikte sind solche, die nur bewaffnet gelöst werden können.“ Diese Antwort war damals überzeugend und von vornherein plausibel. Sie traf auf eine Stimmung: Trennungsstrich ziehen, bloß weg zur Gegenposition! Das Leben beginnt mit dem Angriff auf die Verhältnisse. Dass wir den Angriff wagen und uns und die gemeinsame Sache nicht verraten wollten setzten wir als Gewissheit voraus. Das war viel und es hat lange getragen. Das darin enthaltene Versprechen aber, den Kampf um Befreiung nach Kriterien zu bestimmen, die politisch und sozial Bestand haben, haben wir nicht eingelöst.

Wir Ex-Gefangene und Ex-Militante, die wir bei diesen Treffen blieben, haben miteinander geredet. Das war im Vergleich zu den Jahren vorher viel. In allen Herzen war die Mördergrube. Immer ausgerichtet auf den ‚Feind’, das Äußere,den- Blick-nach-vorne-richten’, ist uns im Laufe der Zeit die ursprüngliche Besonderheit der RAF, in sich selbst die gesellschaftliche Prägung aus Gegenwart wie Vergangenheit, den Zustand des vom Kapital Kolonialisierten und das Trennende zum anderen aufzuspüren und aufzulösen, verloren gegangen. Unseren eigenen Ansprüchen gegenüber sind wir gescheitert. In ihnen galt zu Anfang kein privates Interesse.

Aus der Sicht im Nachhinein gab es eine RAF bis 77 und eine andere danach. Ich hatte zu jener der ersten Jahre hingewollt, bei der ich an erster Stelle eine Radikalität sich selbst gegenüber vorausgesetzt hatte. Bei der nach 1977 entschwand dies. Sie klärte über sich und ihre Emanzipationsbezüge nichts mehr auf. Zuerst dachte ich, die, die draußen sind brauchen Zeit dafür und unsere Solidarität ist es, ihnen diese Zeit zu geben. Niemand aber war offenkundig in der Lage, die eigene Praxis radikal zu reflektieren. Nüchtern muß ich sehen, dass schon meine eigene Gruppe sich mit der eigenen Handlung in Stockholm nur rechtfertigend auseinandersetzen konnte. Nach dem Tod der Stammheimer mussten wir neu einen kollektiven Sinn in der Bestimmung der politischen Grundlage und dem, was gegengesellschaftliche Radikalität ist, für uns finden.

Ohne das verlor die Politik der RAF ihre unmittelbare Anbindung an die eigene Emanzipation und wurde zu einem äußerlichen Systemverhältnis, gegenüber dem der Einzelne unerkannt bleiben konnte. Hier liegt für mich einer der Gründe, warum z.B. eine Gestalt wie Peter-Jürgen Boock seinen Lügen- und Betrugsmarathon jahrelang durchhalten und immer wieder erneuern konnte. Das Auftauchen von Boock war es auch, was uns gefängnisbedingte Illusionen über den sozialen Zustand der Gruppe draussen zerstörte. Mit der Nach-77er-Zeit ist zwar ein fahnenschwingendes Reden von Kollektivität verbunden – aber ohne jeden Bezug in den konkreten Beziehungen. In dieser RAF haben wir immer mehr zurückgestellt: Die Selbstkritik, die Kritik der eigenen Politik, die Kommunikation über den Sinn der Gruppe, die kollektive Suche nach der konkreten Begrifflichkeit von Befreiung, also alles das, was die innere Achse von Befreiung ist. Die RAF nach 77 ist zu einer Politikgruppe geworden wie es viele andere gab. Allerdings mit dem Unterschied: bewaffnet. Das machte ihre Folgen gegenüber denen der anderen politischen Gruppen besonders fatal.

Einschub Zwei: Zu Anfang, im Kontext der weltweit sich formierenden Befreiungsbewegungen hatte die RAF die politische Vermittlung, Korrespondenzgruppe für die antiimperialistischen Kämpfe aus den Randzonen des imperialistischen Systems in dessen Zentrum zu sein. Ebenso konnte sie sich zeitweilig als eine mögliche Antwort auf den damaligen US-geführten Kriegsimperialismus in Vietnam vermitteln. Mit vielen teilte sie die schon existenzialistische Ablehnung einer Nachkriegsgesellschaft, die antikommunistisch und nazistisch geprägt war. Dagegen schien der Bruch mit allem Befreiung und Bedingung für ein anderes Leben zu sein. Später, aus meiner Sicht ab 1972, lösten sich diese Vermittlungen auf. Die gegenkulturellen Positionen von 1968 bildeten noch keine Basis für eine Gegengesellschaft. Die damalige bewaffnete Kampfstruktur der RAF wurde polizeilich zerschlagen. Nach der abzusehenden Niederlage der USA in Vietnam, der Rückführung der antiimperialistischen Kämpfe in der Peripherie des Metropolensystems auf ihren nationalen Kern (Staatenbildung) und der „Normalisierung“ der Mehrwertaneignung im (sich modernisierenden) gewöhnlichen bürgerlich-kapitalistischen Betrieb, der jenseits von immanenten Verteilungsstreitereien auf einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Konsens zwischen den einzelnen Klassen zurückgreifen konnte, stand die RAF sozusagen immer deutlicher als unzeitgemäße Kriegsformation da, als Methode, die ihren Ort, eigentlich ihre internationalen Bezugspunkte, verloren hatte und deshalb ihr Ziel nicht erreichen konnte.

Zu den Triebkräften der 68-Bewegung gehörte die Einsicht, dass man den Boden der bürgerlichen Gesellschaft verlassen muss, damit ein revolutionärer, auch unkorrumpierbarer Lebens- und Gesellschaftsprozeß möglich wird. Dies speiste sich nicht aus einer vagen Hoffnung, sondern aus der Realität des Gegenkulturellen. Die Revolte hatte längst ihr Eigengewicht. Wir konnten uns auf eine Normalisierung der kapitalistischen Verhältnisse nicht einlassen, denn wir konnten dem Nach-Nazi-Staat in seiner Selbstversöhnung mit den nazionalsozialistischen Eliten und den bürgerlichen Strukturelementen des Faschismus nicht abnehmen, demokratisch zu sein, ohne uns selber aufzugeben. Ebenso unmöglich war es, die Selbstlüge der Masse zu akzeptieren, „missbraucht und getäuscht“ worden zu sein. Wir mussten diesen Boden verlassen. Das war ‚sicher’ nur im Angriff auf das System möglich. Mit der 68er-Bewegung und deren antiimperialistischer Politisierung hatte die RAF die unversöhnliche Haltung gegenüber den Systemverbrechen der Vergangenheit und dem neuen imperialistischen Kapitalismus geteilt und durch den bewaffneten Kampf diese Haltung fraglos auch eskaliert. In der Eskalation ist sie dann zunehmend alleine geblieben. Mit dem „Konzept Stadtguerilla“ fand im Innern der Linken eine besondere Fraktionierung statt: Die zwischen taktisch behaupteter Zurückstellung des bewaffneten Kampfes und der Erklärung seiner notwendigen unmittelbaren Umsetzung. Aus der Position des gemeinsamen Aufbruchs, in dem allerdings damals auch die Frage der revolutionären Gewalt grundsätzlich positiv beantwortet war, wurde die RAF zum Gegenspieler auch gegenüber einer systemoppositionellen Linken, die auf die Massen warten wollte. Andererseits war sie aber auch – wenn auch ungewollt, aber von der Rolle her – deren Stellvertreter, da sie die allgemeinen Revolutionsfantasien tatsächlich werden lies.[1] Mir sind nach meiner Entlassung so viele Akteure begegnet aus linken politischen Zusammenhängen, mit denen wir damals gar nichts zu tun hatten, mit der Erklärung, sie wären fast auch beim bewaffneten Kampf gelandet, dass ich mir manchmal vor Überraschung fast die Augen rieb. Stellvertretend für sie haben wir nach dem allgemeinen Aufbruch das Festhalten am revolutionären Kampf und sein Scheitern durchlebt und zur konkreten Erfahrung für den eigenen, weiteren Lebensweg gemacht. Wenn man sich die Prozesse der Gruppen anschaut, die nach 1977/78 anfingen parlamentarisch zu werden, dann sieht man erhebliche Friktionen und Schwierigkeiten in diesem Wandlungsprozess. Diese Schwierigkeiten im Lebensbruch durch Anpassung verweisen darauf, wie selbstverständlich vielen aus der Revolte heraus die systemoppositionelle Grundlage geworden war. Als Gegenspieler und in der Stellvertretersituation drückt der Kampf nicht mehr die Tendenz aus sondern wird primär zum Beweis dafür, dass er möglich ist und dass die anderen ihn ebenso führen können. Nach dem Auflösen der bisher politisch noch tragenden Vermittlungen wurde der Kampf immer mehr zum Kampf darum, sich selbst als Notwendigkeit und Möglichkeit zu retten. Die Avantgarde als Rechtfertigung für sich selbst.

Stockholm
Wir waren eine Gruppe in der RAF. Unsere Aktion war mit einigen drinnen abgesprochen. Ich war für sie gar nicht vorgesehen. Sie war bereits geplant und ich wusste zwar, dass eine Befreiungsaktion stattfinden wird, war aber über nichts Konkretes unterrichtet. Ulrich Wessel, dem ich gesagt hatte, dass ich, wenn eine Befreiungsaktion durchgeführt wird, dabei sein will, lehnte meine Beteiligung mit der Begründung ab, dass fünf Akteure schon fast zu viel sind, dass wir wenige in der Illegalität sind, und es wichtiger sei bei einem möglichen Scheitern der Aktion, dass andere da sind, die den nächsten Versuch organisieren. Die Begründung war an der Sache und dem Fortbestand der Organisation orientiert und dadurch vernünftig. Das ganze Konzept Stadtguerilla sollte bei einer gelungenen Befreiung neu überdacht werden. Ich bin dann über eine Intervention von Andreas Baader in das Kommando Holger Meins hineingekommen, nachdem ich seine Frage, ob ich schon mal überlegt hätte an der Aktion teilzunehmen, mit einem klaren „Ja“ beantwortet habe. Andreas war unzufrieden damit, dass die Vorbereitungen so lange brauchten. Ich hatte vorher einige Sachen gemacht und offensichtlich einen guten Namen bei ihm. In Stammheim gab es die Befürchtung, dass dann, wenn das Gerichtsverfahren dort schon begonnen hätte, es noch schwieriger sei, die Gefangenen zu befreien. Vielleicht ein oder zwei Wochen vor dieser Frage hatte ich eine Legale getroffen, die, wie ich später erfuhr, einen Unterstützungsjob umgesetzt hatte, aus dem sie auf Stockholm schließen konnte. Als ich sie fragte, was sie denke, wie wir die Gefangenen rausholen könnten, schlug sie mir die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm vor. Ich hatte sie spontan kritisiert mit der Bemerkung, dass die schwedische Sozialdemokratie sich doch der deutschen unterordnen werde. Das schien mir offenkundig. Auch hatte ich andere Vorstellungen für eine Befreiungsaktion im Kopf. Als dann die Frage von Andreas kam, habe ich meine Kritik weggewischt. Es gab keine Chance mehr, die Befreiungsaktion neu zu bestimmen. Stockholm war im Detail durchorganisiert, wir hatten inzwischen die Waffen über die Grenze gebracht und alle meinten, dass die Zeit drängt. Ich hätte nur „nein“ sagen und zuschauen können bei etwas, was intern nicht mehr zu ändern war. Das wollte ich nicht, zumal mir diejenigen, die ich aus der Gruppe kennen gelernt hatte, sehr nahe waren oder geworden sind.

Analysiert man die Entwicklung des Konzepts Stadtguerilla, dann sieht man, dass in der Stockholm-Gruppe schon die Militarisierung der Politik und ihr Selbstzweck in der Politik der Gruppe dominiert. Gegengesellschaftlichkeit war hier substituiert durch die Moral von Eindeutigkeit, Konsequenz und Kompromisslosigkeit. Sie ist die primäre Sprache des Krieges, des Freund-Feind-Verhältnisses, des Trennungsstrichs, ein Verhältnis, welches einmal eingenommen, sich zur Gegenseite nicht mehr reflektieren muß, sich selber aber auch keine Rechtfertigung mehr über das Ziel und seinen Weg geben muß. Stockholm zeigt vor dem Hintergrund des politischen Ortverlustes, dass die RAF versuchte, den schwindenden Legitimationszusammenhang für den revolutionären Kampf subjektivistisch zu überspringen. Wir hatten die Vorstellung, mit einer für uns entschiedenen Machtfrage mit dem Staat, sozusagen im ‚letzten Augenblick’, die Zerfallstendenz innerhalb der radikalen Linken umkehren zu können. Wir dachten, wenn wir dem Staat eine Niederlage beibringen, macht es vielen anderen Mut. Im Umkehrschluss hätte das aber auch bedeutet, dass wir keine Aktion durchführen, deren Erfolg nicht sicher ist. Das war bei uns nicht aufgetaucht, weil wir uns entschieden hatten, dass wir bei einer Ablehnung der Forderung dann unser Leben verlieren und damit ein Verhältnis manifestieren, dass keine Umkehr zulässt. Der Tod in Stammheim später lag uns deshalb alles andere als fern. Das Gegengesellschaftliche aber, das konkret benennbare, andere Soziale, ist hier schon auf später verschoben und vom Militärischen dominiert. Wir wurden Stellvertreter für die Linke, der Staat wurde Stellvertreter für das kapitalistische System. Bis in die sogenannte „Offensive“ 1977 hinein zeigt sich dann eine wachsende Fähigkeit zur militärischen Umsetzung des bewaffneten Kampfes mit abnehmender politischer Qualität.

Den Tod von Holger Meins habe ich als bewussten Akt einer Staatspolitik interpretiert, die uns, also jene nicht-integrationswilligen Linke mit mehr oder weniger fast jedem Mittel zur Systemakzeptanz und zum Abschwören zwingen wollte. Wir standen unter dem summarischen Blick von Leuten aus der letzten Kriegsgeneration, welche die Zurichtung unserer Generation auf Anpassung ans System als Schlachtbild vor sich hatten. Der Tod von Holger Meins deckte sich mit meinen Erfahrungen.[2] Ich hatte überhaupt keine Illusionen über unsere Zukunft. Mir schien damals zwingend, dass wir selber zum gleichen summarischen Verhältnis den Staats- und Systemvertretern gegenüber kommen müssen. Mit dem Tod von Holger Meins war für mich die „Stunde der Wahrheit“ gekommen. Im Gefängnis, während meiner Hausbesetzerhaft, hatte ich die Prozessrede von Max Hölz[3] gelesen aus den 20er Jahren, der selbstkritisch in der Niederlage bemerkte, dass die Linken nie konsequent genug sind und deshalb immer verlieren. Im Sieg des Nationalsozialismus und in der Vernichtung der KPD sah ich das bestätigt.Wir hatten die Erfahrung mit Vietnam, mit Chile, dem Schah von Persien, der Obristendiktatur im Nato-Staat Griechenland und vieles mehr. Die aus Frankreich kommende Analyse vom „Neuen Faschismus“ hatte mir einen Erklärungsrahmen gegeben für das, was von der deutschen Sozialdemokratie gegen die 68er-Bewegung umgesetzt wurde mit ihrer Mischung aus Repression und Integrationsangebote in einen modernisierten Kapitalismus, bei dem heute offenkundig ist, an wessen Interesse hier Modernisierungsreformen ausgerichtet und wer die Sieger und Verlierer sind. Uns hat damals nichts mehr überrascht. Wir hatten angefangen, kühl die Gegenseite zu sehen und ohne Emotionen zu bedenken.

Ich bin mitverantwortlich für den Tod von zwei Botschaftsangehörigen. Hieran trägt jeder aus unserem Kommando die gleiche und ungeteilte Schuld. Im Gefängnis war mir irgendwann klar geworden, dass wir von keiner Gegengesellschaft oder Gegenmoral reden können, wenn dies die Möglichkeit von Geiselerschießungen und damit die vollständige Verdinglichung von Menschen beinhaltet. Es wäre nur eine barbarische Gesellschaft. Heute akzeptiere ich, dass unsere Handlungen verurteilt worden sind und Folgen für uns haben mußten. Es wird keine Legitimität konstruiert, wenn das eine Unrecht mit dem anderen aufgerechnet wird. Es zeigt nur zwei Situationen, die abzulehnen sind.

Nach 1977 gab es eine schleichende Anpassung in der RAF an ein Politikverständnis, dass nicht mehr so radikal auf die Subjektkonstitution der Akteure zurückwirkte. Das scheint mir offenkundig. Zeigte sich vorher immer wieder auch die Anstrengung, Politik nach Innen und Außen in Übereinstimmung zu bringen und gleich zu bemessen, also den Anspruch gegenüber anderen mit dem an sich selbst zu koppeln, so schien jetzt immer mehr die Trennung zwischen „Innerem“ und „Äußerem“, zwischen „Ich“ und „Du“, zwischen „an sich“ und „für sich“, zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ die Politik und die Struktur zu bestimmen. Befreiung wurde zur Befreiung in der 3. Person. Symbolisch dafür habe ich die Briefe von einem Gefangenen empfunden, der über Jahre hinweg wie kein anderer in jedem Brief den Duktus hatte: „Es ist zu tun…Es muß gemacht werden“ usw. – eine Radikalität im Antreiben der Aktion, jedoch eine auf die Gruppe, Ihren Zustand, eine auf das Selbst bezogene Reflektion fand nicht statt. Handlungen und Erklärungen der RAF nach 1977 sind eine über die Mittel dementierte, vom Inhalt her aber vollzogene Rückkehr zu einem politischen Verhältnis zum System, in dem die Infragestellung der eigenen Person ausgeklammert sein konnte. Die Revolution verlor sozusagen ihr erstes Objekt: Den Revolutionär, der sich als Widerstandsakteur in der gesellschaftlichen Realität erkennbar macht, also zeigt, wie er oder sie mit realen Widersprüchen umgeht. Ein Prozeß, der sowohl drinnen als auch draußen stattfand. Mit Folgen auch für die eigene Einsatzbereitschaft: Der Abbruch des Hungerstreiks 1981 vom größten Teil der Gefangenen nach dem Tod von Sigurd Debus signalisierte schon, dass der eigene Einsatz beschränkt wurde, es nicht mehr selbstverständlich war, dem Kampfprozess größere Bedeutung als dem des eigene Lebens zu geben. Das wurde von der Mehrheit der Gefangenen im Hungerstreik 1985 bekräftigt.[4] Das Aussteigen von Siegfried Haag aus der RAF mit einem simplen, halbseitigen Brief an die Gefangenen, zeigte, dass die Selbstverständlichkeit von früher, nach der es kein Zurück geben wird, auch bei denen erodiert war, die das in klaren Sätzen früher an andere herangetragen hatten. Als wäre eine Illusion zerplatzt.[5] Von draußen sah es ähnlich aus und 1985 waren diejenigen, die nach 1977 die Illegalität bestimmt hatten, zwischenzeitlich auch im Gefängnis und haben ebenso entschieden.

Der Tod in Stammheim
Der Mordselbstmord. „Das Projektil sind wir!“, schrieb Andreas Baader an die Gruppe und artikulierte damit eine Moral, in der das Subjekt und sein Zweck in eins gesetzt sind. Es bedeutet aber auch: Wenn zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ keine Trennung mehr gemacht wird, endet es so: also im Tod. (In der Selbstentleibung auch der genötigte Beweis der Selbstlosigkeit als letzte, den Einzelnen in seinen Taten legitimierende, scheinbar freisprechende Beurteilungsinstanz.) Statt einer Antwort Reflex darauf: Das Subjektive und das Politische wieder zu trennen. Da, wo vorher das kollektive Individuum und Identität im Kollektiv gesucht worden war, welches den Tod überwindet (indem es axiomatisch den Sinn des Lebens unterstellt und davon, dass es Aufgabe der Menschheit ist, Sinn zu bilden), trat in der Praxis nun die alte Spaltung von „für sich“ und „für andere“ (kompensiert wurde das durch Beschwörungen von ‚Authentizität’ im Kampf). Die RAF wurde immer mehr zur Form, bestimmt von einer Radikalität, die sich an erster Stelle durch Bewaffnung ausdrückte.

In unseren politischen Zusammenhängen galt, dass wir keine Ansprüche an andere Stellen, die wir nicht zuerst gegenüber uns selbst erheben. Diese Radikalität, die ich auch mit der RAF identifiziert hatte, ging weiter: Der Lernprozess war etwas, was im Kampf gesucht wird; seine scheinbar zwangsläufigen Schlussfolgerungen etwas, an deren Annahme eine revolutionäre Subjektivität sich entwickeln lässt. Ohne auf eine tragfähige Basis für den revolutionären Kampf zu stoßen, führte das Beibehalten der Absicht, ein neues Konzept des Revolutionsprozesses in den Metropolen geschichtlich zu verankern, zur ständige Zuspitzung der Konfrontation, zur, wie es 1977 dann geschah, rasenden Beschleunigung. Die Botschaft von 1977 ist, dass das permanente Zuspitzen gegen eine gesellschaftliche Gegenwart, die zu entmachten nicht die Kraft da ist, in gerade Linie zum eigenen Tod führt.

Es scheint die doppelte Tragik jeder avantgardistischen Revolte zu sein: Sie muss so lange unweigerlich scheitern, als wie die gesellschaftlichen Kräfte sich hinter dem Rücken der Subjekte eigengesetzlich zur unsichtbaren Macht formieren. Und: Sie erträgt keine Normalität, auch nicht die eigene. Sie muss weiter. Die Illegalen nach 77 haben erahnt oder gewusst, dass die Revolution nicht kommt. Deswegen gab es von ihnen nie eine radikale Reflexion ihres Angriffs auf den Staat, der organisatorisch der Höhepunkt der RAF war, in der Selbstwahrnehmung aber der wirklichen Bedeutung weit hinterherhinkte. Deswegen haben sie auf jeden Versuch zur Reflektion auch nur schweigend oder ablehnend reagiert. „Keine Angst vor der Ungeheuerlichkeit der eigenen Zwecke haben.“

Was aber, wenn man sie selbst noch nicht erfasst? Dann wird man überrollt – und sei es nur vom Tod der eigenen Genossen, die in ihrem Tod darstellten, dass ihnen die Ungeheuerlichkeit der eigenen Zwecke allerdings bewusst war. Die draußen, die weitergemacht haben, schienen erkannt oder erahnt zu haben, dass die permanente Revolution in der Selbstauflösung endet. Mir scheint das deshalb klar, weil sie sich im bewaffneten Kampf eingerichtet und ihn am Ende nur noch in der Form fortgeführt haben. Statt Inhalt die Handhabung der Mittel. Später, in den 80er Jahren, hatten die nächsten Akteure der RAF die Revolution nur als eine bewaffnete Form, nicht mehr als soziale Möglichkeit im Kopf. Von der Form bestimmt, war ihnen im Selbstbild das Erschießungskommando zum höchsten Ausdruck von Radikalität, in der richtigen Wahrnehmung von außen aber nur zur schlimmsten Bloßstellung geworden.

Die Zeit im Gefängnis war für mich wie vielleicht auch für die meisten anderen gezeichnet von Härte und Durchhalten. Ich hielt mich damals der Hoffnung fest, dass irgendwann wieder da angeknüpft werden kann, wo meine Politisierung begann und was ich mit der RAF verbunden hatte: Dem Widerspruch im Sozialen überall auf der Spur zu sein und lösen zu wollen, Geschichte, soziale Prozesse in der Hand zu bekommen und Befreiung als etwas zu sehen, was für sich selbst da und dem Menschen vorgesetzt ist, ein dauerndes Suchen nach der Emanzipation von Zwängen und Unwissenheit gegen das bestehende gesellschaftliche und damit auch individuell verankerte Falsche, also permanente Revolution. Das war das Geheimnis in der falschen Begrifflichkeit: „Dem Volke dienen“, was primär ja nur der Bekräftigungsversuch ist, dass es gewichtigere Orientierungen als die des eigenen Lebens gibt, auch gewichtigeres als die eigene Gruppe. Es gab in der RAF zu Anfang das Bewusstsein, dass sie nur dann eine revolutionäre Gruppe ist, wenn sie darum kämpft, sich in der Mobilisierung für den revolutionären Prozeß selbst zu negieren. Das allerdings wurde auch von den Gründern der RAF im Festlegen des revolutionären Kampfes auf den Machtkampf um die Befreiung der Gefangenen schon gebrochen.

Ich bezweifle, dass das Durchhalten, das Hoffen auf ein neues Aufbruchsklima in der Gesellschaft für die draussen grundsätzlich anders war. In der Nachsicht ist das ein bewaffnetes Warten auf eine Reife der Zeit, von der man nicht mehr glaubt, dass man sie selbst erzwingen kann. So waren dann auch die Aktionen und die innere Struktur. Jahre-, jahrzehntelang war unsere Gruppenhaltung, alle wichtigen inneren Fragen nach hinten zu verschieben. Im ersten Zettel von außen, den ich in Köln erhielt nach dem „Herbst 77“, stand: „Zusammenhalten, immerhin wissen wir jetzt, wer noch zu uns steht und die unsicheren Kantonisten sind weg.“ Das war ein dummer Trost für unsere politische, soziale und moralische Niederlage. Ich hatte damit nichts anfangen können. Was wollte der bewaffnete Kampf dann noch, wenn er sich nicht an dem Kriterium misst, die Reife der Verhältnisse zum Umsturz zu erzwingen, wenigstens zu beschleunigen?

Als ich 1995 aus dem Gefängnis kam, hatte ich meine Katastrophen hinter mir. Die größte waren die Flugzeugentführung nach Mogadischu, also die Zerstörung der Gewissheit, dass wir eine Grenze haben, Ausweis von Gegenmoral und Selbstverpflichtung; damals ist mit der Entführung zufällig und wahllos vorgefundener Menschen der Aufbruch zum ersten Mal grundsätzlich, also im Namen der gesamten RAF, verraten worden. Fehler und Verwerfungen gab es vorher schon, aber das waren für mich bis dahin die von Einzelnen oder einzelner Gruppen. Die Flugzeugentführung im Herbst 1977 basierte auf einer gemeinsamen Akzeptanz zwischen den Gründern und denen draußen und artikulierte eine Änderung in einer zentralen politischen Bestimmung. [6]

Einschub Drei: Im Stammheimer Prozeß hatten die Gefangenen öffentlich die Aktion gegen das Springer-Hochhaus 1972 kritisiert, weil dort Arbeiter verletzt worden waren. Das war gewiß nicht die einzige Aktion der RAF, die hätte kritisiert werden müssen. Aber es war eine Aktion, die auf ursprünglichen Linien der RAF agierte und die Verbindung zu Inhalten der 68er-Bewegung suchte. Für diese Anti-Springer-Aktion war Ulrike Meinhof verantwortlich. Diese Kritik hat m.M.n. eine weitreichende Bedeutung, denn in ihr zeigt sich eine über die Manöverkritik hinausgehende Absage an Mobilisierungslinien, welche auf alte klassenkämpferische Positionen beruhten. In diesem Fall die des manipulierten Bewusstseins durch Systemmedien, während die RAF im Gefängnis dabei war, einen Entfremdungsbegriff zu entwickeln, nach dem die Entfremdung durch die Selbstlogik der Verhältnisse umfassend gegeben war und deren Aufhebung den Bruch mit allem Alten bedingte. Dies bedeutete dann aber auch den Bruch mit den alten Intellektuellen da diese in Verbindung mit den alten Verhältnissen blieben, wozu ich als Beispiel nur die völlige, auch ins persönliche gehende Denunziation von Peter Brückner durch die Stammheimer Gefangenen anführen will. Die politische Rolle von Ulrike Meinhof war aber in der RAF zu Anfang: Die Verbindung zu den alten antifaschistischen Positionen, Verbindungslinien zu früheren antifaschistischen und Klassen-Kämpfen und die Kommunikation mit den von links erfassten Intellektuellen herzustellen. Mit der Durchsetzung der Kritik an dieser Position im öffentlichen Prozeß ist eine frühere politische Linie der RAF, aber auch die damit verbundene politische Rolle von Ulrike Meinhof verworfen worden. Die RAF war dabei, sich von ihren 1970 noch vorhandenen Vorstellungen vollends zu verabschieden, nach der gemeinsame Entwicklungen von legalen und illegalen politischen Kräften möglich sind. Aus der Sicht von 1974 bis 1977 gab es nichts, was aus der linken Bewegung revolutionär transformierbar war. Das bedeutete auch einen Bruch in der Kommunikation mit denen, die an die alten Verhältnisse gebunden blieben. Der Avantgarde bleibt in der Konsequenz nur, dass sie ihrer eigenen Notwendigkeit folgt, also ihren eigenen Inhalt vorantreibt – oder sie zerfällt. Die RAF wurde völlig zur Organisation dessen, was aus ihrer Sicht für die Entwicklung der weltweiten Revolutionären Kämpfe notwendig schien. Bruch mit den Verhältnissen bedeutete Machtfrage mit dem System und darin Entwicklungslinien zu anderen sozial-revolutionären Kämpfen in der Welt, die antiimperialistisch waren, zur deren politischer Identität die Erkenntnis gehörte, dass es nur eine globale Revolution geben kann.[7] Das machte zum einen die besondere Nähe zu den Palästinensern aus, zum anderen verlor der Bezugspunkt zu den Bewusstseinszuständen im Innern seine Bedeutung. Dass dieses Verhältnis, sich selbst zum Projektil der Revolution zu machen, also vom Prinzip her immer über sich hinaus zu denken auch gebrochen war, also Aktionen doch an dem unmittelbaren eigenen Interesse entlang gebogen wurden, spricht davon, dass die Subjekte nicht völlig von sich abstrahieren können. Das Angebot der Stammheimer Gefangenen gegenüber der Regierung im Oktober, dass die freigelassenen Gefangenen nicht mehr zum bewaffneten Kampf zurückzukehren, stellte den gesamten bewaffneten Kampf in Frage. Es wäre für uns unmöglich gewesen, dass die einen nicht mehr bewaffnet kämpfen und die anderen sterben oder gehen im Gefängnis unter. Nur stieß dieses Angebot auf eine Regierung, die selber Krieg und Niederlage ihres Gegners wollte. Die Flucht nach vorne hatte kein erreichbares Ziel mehr. Deswegen endet sie für drei Stammheimer Gefangene im Tod. Deutschland unter Führung der Leutnantsgeneration des Zweiten Weltkrieges fühlte sich endlich als Sieger.

Zum Tod der Stammheimer hatte ich zuerst innerlich die Beschwerde, dass sie sich aus dem Staube gemacht haben und uns die Suppe auslöffeln lassen. Nachdem erst die Nachricht: „Baader ist tot“, dann: „Ensslin ist tot“ am 19.10.78 in einer Zeitdifferenz von 30 Sekunden von einem sozialen Gefangenen so laut über den Knasthof gebrüllt worden war, dass ich diese auch in der Kontaktsperre hören konnte, war mein unmittelbarer Gedanke, dass die Regierung sie offiziell als „Gegengeisel“ hat umbringen lassen. Während der Kontaktsperre hatte ich mit ähnlichem auch in Köln-Ossendorf gerechnet, wo ich damals isoliert war. Der Hass der Wärter um uns herum war greifbar. Dann, nach Aufhebung der Kontaktsperre und den ersten Informationen schien mir der Selbstmord das Wahrscheinliche zu sein. Hanna, die ich Tage später sah und der ich meine Meinung mitteilte, meinte nur: „Du bist verhetzt“. Eine Zeitlang war ich unsicher, später dachte ich, es ist Sache der Schmidt-Regierung, zu beweisen, dass es keine staatliche Mord-Aktion war. Jahrelang habe ich versucht, dass Thema zu meiden. Ich fand keine loyale Möglichkeit, meine Zweifel zu artikulieren ohne Irmgard Möller auch noch aus der eigenen Gruppe heraus in Frage zu stellen. Jahre später haben wir in Celle vorsichtig hin und wieder über diese Frage gesprochen. Für mich stand sie als erste der zu diskutierenden Fragen auf der Liste, falls wir unsere Zusammenlegung durchsetzen würden. Aber dazu kam es nie.

Heute sehe ich auch anderes im Tod der drei Stammheimer Gefangene: Sie haben denen draußen den politischen, aber auch persönlichen Zwang der permanenten Eskalation an der Gefangenenfrage abgenommen. Nach ihrem Tod war die RAF draußen und von der Verpflichtung für das Leben der Gründergeneration befreit, also auch frei, alles neu zu entscheiden. Auch von drinnen ins kalte Wasser der Verantwortung für den sozialen Inhalt der Revolution gestoßen. Der Machtkampf im Gefängnis war derart entschieden, dass der Staat über die Gefangenen in Stammheim nicht mehr verfügen, an ihnen also auch nichts mehr abstrafen und an ihnen auch nicht mehr siegen konnte. Sie haben sich mit ihrem Tod der unausweichlich kommenden Rache entzogen, der des Staates, aber auch der konkurrierender politischer Positionen. Es gibt ein Urteil gegen sie, das nie rechtskräftig geworden ist. Es gibt eine Niederlage, die sie nicht mehr leben mussten und in der sie das letzte Mal sich zum Subjekt erhoben. Und es gibt eine Selbstbesinnung: Vom Aufbruch bleibt nach dem Scheitern des politischen Kampfs die existenzielle Seite. Das konnte man auch mit sich selber ausmachen.

Einschub vier: Sommer 1977. Die Kommunikation zwischen Stammheim und den Illegalen wurde von mehrere Personen organisiert, Volker Speitel, meinem Bruder Hans-Joachim Dellwo und seiner damaligen Freundin Elisabeth von Dyck. Sowohl Speitel als ebenso mein Bruder waren mit dem Transport der Waffen in den 7. Stock befasst. Mein Bruder wurde vor der Schleyer-Entführung und der Kontaktsperre verhaftet. Nach seinen Angaben hat er wegen der Beziehung zu seiner in die Illegalität gewechselten Freundin, die er dort auch immer wieder getroffen hatte und der er nachfolgen wollte, während der Kontaktsperre jede Aussage verweigert und erst nach dem Tod der Stammheimer seine Aussagen gemacht. Das ist plausibel und kann wahr sein bezogen auf die Frage, wer zuerst Aussagen gemacht hatte und seit wann Dienste Bescheid darüber wussten, dass Waffen im 7. Stock sind. Speitel war in dieser Zeit in Dänemark. Anfang Oktober 1977 entschied er sich gegen den beschwörenden Rat seiner Begleiter, nach Deutschland zurückzukehren. Er wusste, dass er nach unmittelbaren Grenzübertritt verhaftet wird. Das politische Klima damals war so aufgereizt, dass Speitel mit mindestens 15 Jahren Gefängnis rechnen musste. Seine Rückkehr ist nur plausibel, wenn er, die kommende Niederlage vor Augen, einen Deal machen wollte. In diesem Deal war das Wichtigste, was er einzubringen hatte, der Tatbestand der Waffen im 7. Stock. Speitel gehörte vor mir zur ursprünglichen Stockholm-Gruppe. Nach der Stockholm-Aktion hat er sich monatelang im Ausland versteckt, um zu sehen, ob er überhaupt zurückkehren kann. Auch das bestätigt mich in der Annahme, dass er 1977 offiziell nach Deutschland einreisend nur zurückkehren konnte im Wissen, dass er verhaftet wird. Die Bundesanwaltschaft hat immer behauptet, dass Speitel erst nach dem 19. Oktober 1977, also dem Tod der Gefangenen, offizielle Aussagen gemacht hat. Formal mag das stimmen, sagt aber nichts über Gespräche mit anderen Gesprächspartnern vorher aus. Seine Gesprächsebene wäre sowieso vorher die der Nachrichtendienst gewesen. Aus einem späteren Fall wissen wir, dass der Verfassungsschutz eine kooperierende Gefangene für Tage nach Köln in eine VS-Wohnung geholt hat, um ihre Aussagen aufzunehmen und Konditionen auszuhandeln. Auch diese Aussagen tauchten nirgendwo offiziell auf.

Am Ende wird es so ausgesehen haben: Einige Leute im Staatsapparat wussten spätestens seit den Aussagen Speitels von den deponierten Waffen und den Absichten der Gefangenen, diese einzusetzen, entweder für ihre Beteiligung an der aktuell laufenden Machtfrage mit dem Staat oder für den eigenen Tod. Das mag erklären, warum die Regierung ablehnte, höherrangigen Politiker zu den Gefangenen gehen zu lassen, obwohl diese um Gesprächsebene gebeten hatten und klar war, dass ein mit den Gefangenen gefundener Konsens von den Illegalen auch akzeptiert wird. Die Gespräche unter den Gefangenen wurden mit Sicherheit von einem der Dienste mitgehört. Abhöraktionen waren schon vorher bekannt geworden. Die Gefangenen entschieden sich nach dem Bekanntwerden des Sturms auf die Lufthansa-Maschine in Mogadischu für ihren Tod. Der Selbstmord der Gefangenen geschah unter Aufsicht und Zustimmung zumindest eines Teils des Staatsapparates. Das Warten nach den Speitel-Informationen durch diesen Teil des Staatsapparates auf entweder eine bewaffnete Aktion im Gefängnis, um diese gewaltsam niederzuschlagen oder auf den Selbstmord, artikuliert den Wunsch, dass die Gefangenen tot sein sollen. Ob Mord oder Selbstmord wird zur Diskussion, die am Umstand vorbeigehen will, dass der Tod der Gefangenen von vielen gewollt war.

Die Frage Mord oder Selbstmord ist nach dem Tod der Gefangenen von unserer Seite zur Opferfrage gemacht worden, wahrscheinlich aus unterschiedlichen Gründen, gewiß auch aus Überforderungen gegenüber der gesamten politischen Situation. Sicher aber auch deshalb, um die Diskussion über das eigene Falsche nicht aufkommen zu lassen. Niemand aus unserem Zusammenhang hat dabei so sehr wie sie auf ein Leben mit eigenen Entscheidungen bestanden. Eine Tabuisierung der Frage der Selbsttötung wird diesen Gefangenen überhaupt nicht gerecht, die damals an dem Punkt waren, dass Freiheit damit verbunden ist alles tun zu können, wozu einem die eigene Erkenntnis rät. Folge dieser Opferfrage ist, dass diese Gefangenen im nachhinein entradikalisiert werden. Von ihnen aber ging am eindeutigsten die Haltung aus, dass es keine Situation gibt, in der man die Waffen der Gegenseite nicht umdrehen und in der man nicht Subjekt sein oder werden könnte. Sie wollten 1977 mit dem bewaffneten Kampf eine politische Eskalation, die dazu führt, dass der Staat außer Tritt gerät und sich damit nicht nur für die RAF sondern für den Aufbruch der Nachkriegsgeneration eine andere Möglichkeit ergibt als jene des ansonsten unvermeidbare vollständige Scheitern.[8] Diese Eskalation sollte nach ihren Vorstellungen 1977 weiter gehen und teilweise anders verlaufen als das, was real passierte bis zur Schleyer-Entführung. Staatlicherseits wird das Abstreiten des Wissens über die Bewaffnung der Gefangenen und das Behaupten eines unerwarteten Selbstmordes zum Ausweis für eine nachträgliche Verharmlosung der eigenen Bereitschaft, gegen einen nicht-integrationswilligen Teil der Nachkriegsgeneration einen Machtkampf zu führen, in dem von der Erschießung Benno Ohnesorgs bis zum Tod von Holger Meins mehr oder weniger alles legal war.Diese Eskalation sollte nach ihren Vorstellungen 1977 weiter gehen und teilweise anders verlaufen als das, was real passierte bis zur Schleyer-Entführung. Staatlicherseits wird das Abstreiten des Wissens über die Bewaffnung der Gefangenen und das Behaupten eines unerwarteten Selbstmordes zum Ausweis für eine nachträgliche Verharmlosung der eigenen Bereitschaft, gegen einen nicht-integrationswilligen Teil der Nachkriegsgeneration einen Machtkampf zu führen, in dem von der Erschießung Benno Ohnesorgs bis zum Tod von Holger Meins mehr oder weniger alles legal war.

Gudrun Ensslin (aus meinem Gedächtnis zitiert): „Ich kann Dir nicht sagen, was Du tun sollst. Ich kann Dir nur sagen, wie ich einen Widerspruch löse“ – vor diesem Hintergrund ist der als Mord getarnte Selbstmord denen gegenüber, die nicht eingeweiht waren, auch das Ablegen der Orientierungsfunktion, die sie, also die Stammheimer, vorher auch ausfüllen wollten. Sie wollten am 18. Oktober 1977 nicht mehr zeigen, wie sie den Widerspruch, dass der bewaffnete Kampf ans Ende gekommen ist und es kein Zurück mehr geben kann, für sich lösen. Die Verantwortung, dass andere ihnen im Selbstmord folgen, ist in der Morddarstellung abgelehnt.[9] Sie wird damit aber zur Aufforderung zum Weiterkämpfen gegen die eigene Einsicht und enthält die Absage daran, dass es immer eine befreiende Lösung gibt. Eine Absage auch an uns, mit welchen emotionalen Vorzeichen auch immer. Ingrid Schubert hat sie ebensowenig hinnehmen können wie die Aufforderung zum Weiterkämpfen gegen die eigene Einsicht.

Spaltung
Die letzte Katastrophe war die „Spaltung,“ ein Irrwitz in einer Gruppe, in welcher der rasende Subjektivismus derjenigen, die mit ihrer Mitverantwortung für den „Herbst 1977“ offenkundig nur verdrängend umgehen konnten, vollends das Kommando führte. 1993 hatten wir in Celle in Absprache mit den Illegalen RAF-Mitgliedern einen Versuch unternommen, über eine Intervention politischen Druck zu mobilisieren und doch noch die Zusammenlegung der Gefangenen zu erreichen. Die Zusammenlegung war damals der Schlüssel für eine politische Lösung, die alle Gefangenen wollten. Wir hatten 1989 einen Hungerstreik ohne Eskalation geführt und denen draußen vermittelt, dass wir auch von ihnen keine Eskalation wünschen. Wir hatten soviel bei uns offen gemacht mit diesem Hungerstreik, dass es eine politische Lösung hätte geben können. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl wollte keine. Das mussten wir Ende 1989 desillusioniert feststellen. Damit blieb uns scheinbar nur das alte Bewegungsmuster: wieder irgendwann einen Hungerstreik zu machen oder auf Anschläge von draußen zu waren, die politisch etwas aufbrechen. Für Gefangene, mich eingeschlossen, hatte Helmut Pohl im Herbst 1989 öffentlich erklärt, dass es offensichtlich keinen anderen Weg gibt, als den Preis für die andere Seite so hoch zu treiben, dass ihnen eine politische Lösung als kleinerer Verlust erscheint. Die draußen haben es so verstanden, dass es keinen Sinn mehr macht, weiter auf politische Reaktionen zu warten. Das stumpfe Aussitzen von Helmut Kohl und die damit verbundene Sackgassen Situation für uns führten zu den Anschlägen auf Herrhausen und Rohwedder. Ich habe 1993 unter uns in Celle dann den Versuch vorgeschlagen, dass eine von uns unabhängige Kraft im eigenen Namen und ohne jeden Bezug auf uns sich an Edzard Reuter wendet, damals Chef von Daimler-Benz, damit die Wirtschaft bei Kohl interveniert, doch als Ausweg eine politische Lösung zuzulassen. Gleichzeitig sollte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Deutschland, Ignaz Bubis, angesprochen werden, damit er eine Rundreise durch alle Gefängnisse macht, sich von den Positionen der Gefangenen überzeugt und öffentlich für eine politische Lösung Stellung nimmt. So wäre jeder Gefangene als Subjekt der Gruppe angesprochen worden und in einem gemeinsamen Entscheidungsprozeß integriert gewesen. Dafür hatte ich Christian Ströbele gewonnen. Mit der RAF-Politik hatte er nichts zu tun, wusste aber ebenso, dass Nichtstun nur zu Wiederholungen führt. Ich vermag auch heute nichts Verwerfliches darin sehen, denn im schlimmsten Fall konnte diese Angelegenheit nur der erfolglose Versuch eines Externen sein. Richtig ist, dass diese Initiative mit den anderen Gefangenen außerhalb von Celle nicht abgesprochen war. Wir hatten die illegalen unterrichtet, die völlig desillusioniert sich aus der Kommunikation mit anderen Gefangenen zurückgezogen hatten, da ihnen von dort in manchmal eitlen, teils 20-seitigen Papieren nur noch ihre angeblichen Fehler an den Kopf geworfen worden waren. Als wollte man sich von ihnen absetzen und als sei man nicht selber an dem stumpfsinnigen Militarismus in den 80er Jahren mitbeteiligt gewesen. Das Nichtabsprechen unserer Initiative in Celle kam aus der erfahrenen Tristesse unter uns, dass eine offene Diskussion nicht mehr möglich war und wir nicht zusehends in die nächsten Wiederholungen rennen wollten. Über die Empörung des Nichtabsprechens war ich etwas überrascht, weil andere oft ohne Absprache mit uns Fakten gesetzt hatten.[10] Der Gesprächsfaden war vorher schon an anderen Fragen mehr als gestört. Nachdem Ströbele seine Gespräche angefangen hatte, war er auf Wunsch von mir zu Brigitte (Mohnhaupt, Anmerkung Sunzi Bingfa) gefahren, um sie von seinen Gesprächen zu unterrichten. Dort ist die Information zur Farce einer internen „Machtfrage“ geworden und daraus wurde der „Bruch“ mit uns öffentlich erklärt.

Wir in Celle waren keine eigene politische Gruppe, nur weil wir dort zusammen im Gefängnis waren. Keiner wollte interne Fraktion sein, und wir waren auch alles andere als eine politische Einheit. Aber als solche sollten wir nun niedergeschlagen werden. Noch heute empfinde ich das als einzige Niedertracht. Wir haben alles zusammenkratzen müssen, um das zu überleben. Ohne die Unterstützung von ein paar FreundInnen, die uns besucht und geschrieben haben, wäre das vielleicht auch anders ausgegangen. Ich glaube, es hat sich jeder von uns überlegt, ob er das noch durchstehen will. Aus der Gruppe der RAF-Gefangenen hat keiner zu uns gehalten. Selbst die Gefährtin von damals hat die öffentliche Denunziation mit dem Versuch, uns in die Ecke des Verrats zu drängen, unterschrieben. Ich war, wie sicher jede/r andere/r auch, während der Haft immer wieder auch in einem tiefen Loch, darin auch depressiv und ohne Hoffnung für mich. Ich hatte für mich immer als Hintertür, dass ich mir dann, wenn gar nichts mehr geht, das Leben nehme, das gab mir eine Sicherheit (auch deswegen fand ich die Tabuisierung, dass die Stammheimer ähnliches gedacht haben, verrückt und jenseits von jeder eigenen Realität). Nie habe ich in dieser Zeit auch nur einmal ernsthaft daran gedacht, mich individuell zu retten. Den beiden anderen in Celle ging es ähnlich. Nun wiederholten Andere gegen uns als Farce den krankmachenden Zustand der Säuberungsprozesse der 30er Jahre in der Sowjetunion. Im Freund-Feind-Verhältnis liegen die Emotionen klar getrennt nebeneinander. In der Unterordnung unter die „Gruppe“ bzw. das „Kollektiv“, was immer es noch ausmachte, den „Dienst an der Sache“, was immer diese Sache auch beinhaltet (und keiner von ihnen hatte sie formulieren können), zählt das Individuum nichts. Die, die 1977 nicht reflektieren wollten, haben noch einmal, diesmal nur noch als Negation, ein Gruppenerlebnis inszeniert. Der gescheiterte politische Machtkampf war vollends nach innen gedreht in einem reaktionären Regelkreis, mit Wiederholungscharakter aus Stammheim: Selbstzerstörung mit nach außen abgeschobener Schuld.

In den Jahren später war ich nicht sicher, ob ich entlassen werde. Der Gerichtsgutachter, zu dem ich formal höflich aber bestimmt den Kontakt abgelehnt hatte, hatte sich ausdrücklich in seinem Gutachten gegen meine Entlassung ausgesprochen. Als mich dann Wochen danach morgens gegen 9:15 Uhr meine Anwältin anrief und mitteilte, dass der Entlassungsbeschluss gerade eintickerte, war ich genauso gut auf das Gegenteil eingestellt. Egal, welche Entscheidung kam, man hatte sie sich eh erst einmal fernhalten müssen. Fernhalten ist eine Verarbeitungstechnik.

Ich hatte am gleichen Vormittag noch einen Besuch. Ich hatte mich entschieden, erst den Besuch zu machen. Am Ende sagte ich meiner Besucherin, dass, wenn sie Zeit habe, mich nachher noch abholen könne. Damals hatte ich das Gefühl, gewonnen zu haben. Das bezog sich auf das Gefängnis, die jahrelange Isolation und das Überleben nach der Spaltung. Ich fand mich, trotz dem Bemühen von Freunden, meistens aber sehr alleine. Der Knast hatte uns seit Jahren nichts mehr anhaben können. Die entscheidenden Kämpfe waren die Jahre vorher geführt worden. Irgendwann wussten die, die uns klein machen wollten: Es macht ihnen nur Mühe, aber erzwingen werden sie auch nichts mehr. Je mehr die Zeit verstrich, umso sicherer waren wir, war ich, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Im Überlebenskampf im Gefängnis hatten wir uns in der Konfrontation durchgesetzt. Auf der anderen Seite war die Niederlage offenkundig. Wir hatten mit unserem Kampf keine emanzipatorische Bewegung in der Gesellschaft in Gang gesetzt. Das konnte man, wie ich fand, noch am ehesten verkraften. Ich ohnehin. Hanna (Krabbe, Anmerkung Sunzi Bingfa) hatte mir 1977 gesagt, dass (mir) „die Gewissheit des Sieges fehlt“. Das war wohl wahr. Ich wusste schon früher, dass schon einige größere und bedeutsamere Gruppen vor uns in der Geschichte verloren hatten und die Niederlage das Wahrscheinlichere ist. Unendlich und wirklich schmerzhaft schien mir die Niederlage darin, dass die RAF sich selbst zerstört hat. Denn die in der Spaltung offen gewordene Selbstzerstörung der RAF war gleichbedeutend in unserem Zusammenhang mit der Selbstzerstörung des anderen, des gegengesellschaftlichen Ortes, von dem wir dachten, etwas erkämpft zu haben und darüber legitimiert zu sein. Das war das, was mich am Kampf und an der RAF interessiert hatte: Eine andere Lebensgrundlage für mich und für die Menschheit. Danach gab es kein „außen“ mehr, denn der Einzelne oder das Gruppenfragment bildet kein „außen“ zur Gesellschaft mehr. Er ist im Leben und in der Gesellschaft alleine immer nur entwurzelt. Ich war aufgewachsen in einer entwurzelten Familie. Am Ende stand ich wieder entwurzelt da.

Reden untereinander über all das findet bis heute nicht. Nur Schweigen. Hin und wieder trifft man auf das Gemunkel aus zusammengekniffenen Lippen, dass „das wohl so nicht richtig war“. Ich hatte von der „Balint-Gruppe“, wie wir sie fortan nach dem Ort des ersten Treffens nannten, erhofft, dass hier eine Sprache zwischen uns gefunden wird, mit der wir zu Subjekten werden, die sich gegenüber treten können. Niemand war mir so nahe wie andere aus unserer Gruppe. Ich hatte Mühe zu verstehen und zu akzeptieren, dass die anderen das einfach so stehen lassen können. Es gibt nur wenige Menschen, die vergleichbare Erfahrungen haben wie wir und deshalb gibt es für uns in vielen Bereichen untereinander keinen Ersatz. Aber meine Hoffnung war vergebens. Abstrus, dass die Beziehungen in der völligen Entfremdung enden. Entweder Kollektiv ohne Selbstschutz oder Fremdheit zum anderen.

Balint
Sechs Jahre Treffen, oft mit langen Abständen, sind auch sechs Jahre Nicht-Treffen mit denen, die sich dem entzogen haben. Ich hatte oft das Gefühl, wir sind nicht komplett, wir reden in einem Saal, aus dessen anderer Hälfte unbesetzte Stühle uns angähnen. Die, die blieben, haben über sich und zu anderen geredet, manchmal so hart und schonungslos und voller Wut und Enttäuschung über andere, dass uns bald die Erkenntnis kam, dass wir nicht alleine mit uns sein können, dass wir Externe brauchen, die vermitteln, gerade rücken, die Sicht auf eine andere Ebene heben; aber: wir haben geredet – und doch, es ist wie beim Einarmigen oder Einbeinigen: die verlorene Extremität taucht im Phantomschmerz immer wieder auf. Es bleibt eine Grenze und es bleibt eine Kränkung. Die verweigerte Diskussion in unserem ganzen Zusammenhang erscheint als Rache, aber auch als Selbsthass. Der verlorene Kampf muß durch die Selbstbestrafung komplettiert werden, dass es heute nichts geben kann was wie früher wäre. Die RAF war da Avantgarde und als solche schrittsetzend. Nach der Niederlage soll keiner den Versuch machen, als könne man mit weniger leben. Das ist die begriffslose, in der Vergangenheit angesiedelte Moral. Das begründet das Schweigen. Die RAF muß im heutigen Leben abwesend sein. Es gibt sie nur noch als Vergangenheit und diese Vergangenheit wird repräsentiert. Sie verfügt aber über keine heutige Sprache mehr. Da, wo früher Suchen und Selbsterforschung bis zum Exzess war, nach außen gekehrt und sichtbar gemacht, ist heute die Gegenreaktion die Lösung: Ein verstecktes Leben mit zusammengebissenen Zähnen oder vom konkreten Leben abgelöste Attitüde, welche nichts an sich ranlassen will und sich von der Hoffnung speist, dass irgendwann eine Lösung erscheint, eine Reife der Zeit auftritt, die alles auflöst und dem Aufbruch und dem Kampf im Generellen Recht gibt, der subjektiven Absicht zu einer Begrifflichkeit verhilft, die die heutige Entfremdung behebt und gegen alle unsere Fehler darauf hinweist, dass wir von der Zukunft etwas in der Hand hatten und der Kampf deswegen gerechtfertigt ist. Insoweit ist das Schweigen über die Vergangenheit Ausdruck der Verweigerung, die Niederlage zur Kenntnis nehmen zu müssen

Aufgebrochen gegen eine Generation, die über ihre Vergangenheit nur schweigen konnte, weil die Last so groß war, dass Verdrängung und konstruierte Begriffslosigkeit Lösung simulieren konnte, sind wir selber heute Teil eines Zusammenhangs, der als solcher sprachlos ist. 100 Jahre Kampf um Zusammenlegung im Gefängnis, weil das angeblich erst die Voraussetzung für kollektive Verantwortung und Diskussion schafft, herrscht unter den 99 Prozent entlassener RAF-Mitglieder eisiges Schweigen nach außen. Auch fast 30 Jahre nach der Stockholm-Aktion haben die Überlebenden nicht ein einziges Mal zusammen unter sich und über sich darüber gesprochen. Als würde mit dem Ansprechen sich die eigene Welt auflösen. Als wären wir endlos in diesem Käfig einer Zwischenzeit gefangen, in der wir etwas anderes gesehen, aber nichts anderes gesetzt haben.

Die Gruppe danach war also eine andere Gruppe. Wir haben in erheblichen Dramen viel untereinander geklärt. Nicht alles und manchmal auch nur, dass man den anderen/die andere ziehen lässt. Manche waren nur ein oder zwei Jahre dabei. Andere sind neu dazu gekommen und geblieben. Alle, die nach dem Ausscheiden der Anderen schon von Anfang an dabei waren, sind es auch bis zum Ende geblieben. Aus meiner Sicht war ich eigentlich immer dabei. Während eines Termins war ich in Italien, für ein paar Monate, endlich weg aus diesem Land und wieder in einer Situation, wo ich weit von draußen schauen konnte und wieder meinen eigenen Zeitrhythmus fand. Die Gruppe hat mich aber in Form eines Anrufes von Volker Friedrich erreicht mit seiner Anforderung, dass ich dann anders zugegen sein müsse. Ich hatte mich darauf hin ans Meer gesetzt und meinen Blick auf uns als Gruppe und auf Einzelne von uns niedergeschrieben, auch zur Freiheit meiner Abwesenheit. Es scheint auch angenommen worden zu sein, wie mir danach gesagt wurde. Ansonsten war ich drei Mal nur am ersten Tag da, da am anderen Tag jeweils ein Termin lag, den ich nicht aufgeben wollte. Ich muß vielleicht aber auch in jeder Gruppe deutlich machen, dass ich immer wieder auch draußen stehen will oder muß. Das kann die andere Seite dessen sein, dass ich auch viel einzubringen bereit bin.

Ich glaube nicht, dass die Einzelnen sich geändert haben, außer dass jeder mehr zu sich gefunden hat. Ich glaube auch, dass das Verhältnis zwischen denen, die in einer bewaffneten Gruppe waren und denen, die es nicht waren, gespalten bleibt. Zumindest drängt sich aus meiner Erfahrung dieser Schluß auf. Aber mir scheint, dass jeder die Sicht auf den anderen geändert hat und nach dem Aussprechen dessen, was in ihm/ihr rumorte, gelassener mit sich und den anderer werden konnte. Wir haben so gut wie gar nicht über uns als Opfer des Staates, des Systems und was auch sonst immer gesprochen. Das tauchte manchmal auf, hat aber nicht die Sitzungen bestimmt. Es ging dabei dann meistens um das Verhältnis, das wir in dieser Situation unter uns hatten. Wir haben also viel über die Verhältnisse untereinander, die Erwartungen und Enttäuschungen gesprochen. Ohne die uns begleitenden Therapeuten, die manchmal auch ganz schön ins schwimmen kamen, hätte es diese Gruppe, diese Auseinandersetzung, ihr Fortbestehen durch Öffnen anderer Sichtweisen und Setzen anderer Prioritäten nicht gegeben. Allerdings: von ca. acht bis zehn Therapeuten sind zwei übrig geblieben. Die anderen blieben auf der Strecke. Bei einigen war ich über ihr Fernbleiben erleichtert. Bei einer, weil sie in einer völligen Überidentifikation mit den Gefangenen sich so distanzlos auf unsere als einheitlich gewünschten Seite schlug, dass Widerspiegelung überhaupt nicht möglich war. Bei anderen wegen dauerhaften Schweigen oder rustikaler bis einfach nur platter Vorgehensweisen. Einen anderen habe ich noch lange Zeit vermisst, da er aus seiner eigenen Biografie Erfahrungen mit dem Scheitern eines neuen kollektiven Lebensversuches mit in die Gruppe brachte. Die beiden Gebliebenen zusammen waren für diese Gruppe unerlässlich, auch darin, was ihre Geschlechterrolle betraf. Ich erinnere einen Termin, wo einer der Therapeuten alleine mit uns war und die Gruppendynamik fast entglitt, insofern, als eine Frau, die aus dem Unterstützungsbereich des bewaffneten Kampfes kam, aus der für jeden bis dahin aufgebauten Sicherheit in der Gruppe herausgefallen ist. Danach hatte ich die andere Therapeutin angerufen um darauf zu drängen, dass beide immer anwesend sind. Ich hatte die Befürchtung, dass Einzelne wegbleiben werden und dass der Zweck der externen Begleitung, andere Blicke untereinander und auf die Geschichte aufzumachen, auch: erträglich zu machen, nur mit beiden Therapeuten garantiert ist.

Es sind ca. sieben Jahre Treffen – ich möchte sie nicht missen. Bei einem der letzten Treffen hatte ich desillusioniert das Résumé gezogen, dass sich in manchem nur oberflächlich etwas ändert und eine grundsätzliche Sicherheit in den Verhältnissen untereinander fraglich bleibt. Es betraf ein Gruppenmitglied aus dem Umfeld, das sich nach der Spaltung der RAF wie manche andere, die dachten sich positionieren zu müssen, mit zur Schau getragener Ablehnung und Abfälligkeit gegen „uns“, also die als Einheitsperson projizierten „Celler Gefangenen“ gestellt hatte, womit am Ende vor allem immer ich mit gemeint war. Unser Verhältnis in der Gruppe war zuerst so, dass man froh war, nicht irgendwo alleine zusammen stehen zu müssen, da dann die gegenseitige Abstoßung offenkundig wurde und allenfalls bemühter Smalltalk möglich war. In der Gruppe hatten wir dann nach Jahren vorsichtig so etwas wie Vertrautheit und gegenseitige Sympathie entwickeln können. Ich jedenfalls hatte angefangen, mich auf sie einzulassen. Dann traf sie einen gerade entlassenen Gefangenen aus der anderen Fraktion und war danach von einem vehementen Abgrenzungsbedürfnis bestimmt, als hätte sie sich in unserer Gruppe auf einen unklaren Weg führen lassen, von dem sie sich nun retten müsse. Für mich war das eine tiefgehende desillusionierende Sitzung, da ich doch noch die Hoffnung nach Rekonstruktion einer verlorenen Intensität in mir herum schleppe, die eines zur Gewissheit hat: Nicht verraten zu werden. Deren Zerstörung bleibt deprimierend. Denn der Wunsch nach Kollektivität und besitzloser und solidarischer Vertrautheit war tief in uns verankert. Was sich heute ändert, ist der Umgang diesem Verlust. Vor allem hatte die Gruppe ihren Anteil daran, dass ich meinen alten Zusammenhang, auch was die emotionalen Beziehungen betrifft, in die Geschichte gehen lassen kann und meine Rolle annehme, immer wieder auch alleine zu stehen. Das ist viel. Zweifellos war und ist für mein heutiges Gleichgewicht auch von großer Bedeutung, dass ich mich meistens den Diskussionen über unsere Geschichte, auch den Konfrontationen stelle, die an mich herangetragen werden. Auseinandersetzungen führen weiter.

Haftbedingungen
Beim Lesen dieses Textes frage ich mich, ob es richtig war, dass wir kaum über die Haftbedingungen gesprochen haben. Von meinem Interesse her war es eindeutig richtig. Ich hatte von der „anderen Seite“, dem Staat, den wir auch monolithisch gesetzt hatten, alles erwartet. Ich wusste nicht, ob ich es überstehe, aber es hat mich nicht überrascht oder moralisch empört. Wir waren in einer klaren Feindschaft. Ich glaube, für das Überleben in Extremsituation ist wichtig, nicht von dem überwältigt zu sein, was kommen kann. Ich wollte in der von Externen begleiteten Ex-Gefangengruppe unsere internen Konflikte besprechen und kollektiv das finden, was trotz Niederlage und Fehler wenigstens unseren Gründen und Absichten gerecht wird. Keiner von uns hat diesen Kampf aus reaktionären oder individuell-bereicherungssüchtigen Gründen geführt. Andererseits ärgert es mich heute immer mehr, wenn ich sehe, wie hemmungslos im öffentlichen Bild über die stille und offene Gewalt, über Schikane, Sadismus und konzeptionelle Zerstörungsstrategie, auch über eine an politischen Zwecken ausgerichtete Justiz gegen uns herum gelogen wird. Im Nachhinein wird alles von der eigenen Feindschaft, dem Hass und dem Vernichtungswillen, vielleicht auch von der Angst und Hysterie entkleidet und besonders die Haft zum „Hotelvollzug“ und zu einer mit maßlosen Privilegien gemacht. Das Entschuldungsbedürfnis auf Seiten der staatlich Verantwortlichen scheint phänomenal zu sein. Aber auch das von anderen. In der taz z.B. wurde das Buch des ideellen Gesamtgefängniswärtes Kurt Österle, gegen dessen belegfreie und aus genehmen Ausschnitten aus der Geschichte der Isolationshaft konstruierte Darstellungen andere inzwischen sich erfolgreich juristisch zur Wehr gesetzt haben, mit der Vorbemerkung ausgeführt, dass „endlich mit der Lüge der Isolationshaft“ aufgeräumt werde.

Bei dem Gedanken, die Haft anzusprechen, weiß ich gar nicht, was ich auswählen soll. Es würde leicht ein ganzes Buch füllen. Trennen müsste man nach Zeit und Methode. Nach Zeit meint z.B.: Vor einem Gerichtsverfahren und nach einem Prozeß, also vor und nach dem Moment von Öffentlichkeit. Nach Zeit meint auch: Vor Herbst 1977 und nach Herbst 1977. Ich war damals, nach Herbst 1977, der festen Überzeugung, dass den Gefängnis Administrationen von der politischen Ebene her, also von den Landesjustizministern, signalisiert worden war, dass sie eine Zeit lang uns gegenüber fast freie Hand haben. Draußen wurden in dieser Zeit polizeilich gestellte RAF-Mitglieder gleich erschossen, drinnen konnten „Herr-und-Hund-Konzeptionen“ sich erst einmal richtig austoben. In Köln-Ossendorf haben sich Schikane und offene Gewalt fast täglich die Hand gegeben. Fast ein Jahr lang wurde dort z.B. neben allem anderen mit Schlafentzug gearbeitet, d.h. ständiges, oft halbstündiges Wecken durch Einschaltung greller Beleuchtung und an die Türe hämmern bis man aufschreckt unter dem Vorwand, dass nachgesehen werden müsse, ob wir noch leben würden. Nacht für Nacht und Monat für Monat. Lagen dann irgendwann die Nerven blank und wurde von mir die Beleuchtung einfach von der Wand abgeschlagen, endete das wieder damit, dass ich unter Schlägen und Tritten in die unterirdische kalte Bunkerzelle geschleppt und auf das dortige Holzbrett gefesselt wurde. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Trennen nach Methode meint: Die Zeit vor und nach dem Neubau der Hochsicherheitstrakte. Isoliert im Gefängnis war ich von Anfang an. Aber der Hochsicherheitstrakt war etwas neues. Ich war 1978 von Köln-Ossendorf nach dem wohl auch physisch gewalttätigsten Jahr meiner Haft, nach sechs langen Hungerstreiks in anderthalb Jahren und emotional und körperlich völlig ausgezehrt nach Celle gebracht worden in den neuen Hochsicherheitstrakt und dort in eine sozial vollständig leeren Situation gesetzt worden. Ich war in einer Zelle mit Fenstern aus zentimeterdicken Panzerglasscheiben, die fest verschlosssen waren und nicht mehr geöffnet wurden. Davor stand ein Bretterzaun, um die Sicht nach außen zu verhindern. Geräusche kamen in diese Zelle nicht mehr rein. Im Innern standen weiße Schleiflack Möbel (Tisch und Schrank), der Heizkörper war weiß, Waschbecken und Toilette waren aus Nirosta-Stahl, die Wände waren pastellgelb, die Decke weiß, die Türen grau. Drei grelle, für mich nicht zu betätigende weiße Neonleuchten brannten von morgens bis abends. Später wurde bekannt, dass die Stahlbetten von unten mit einer millimeterdicken Schallschluckfarbe bestrichen waren. Der Einzelhofgang fand in einem kleinen Trakthof statt, in dem man wenige Schritte zur Seite und Quer gehen konnte. Über den Hof war ein Tarnnetz der Bundeswehr gezogen. Als ich nach Ankunft meinen bisherigen Besuchern meine neue Adresse mitteilte, wurde gegen jeden von ihnen ein dauerhaftes Besuchsverbot verhängt. Ich bin, außer meinem Anwaltskontakt, vollständig alleine gewesen.

Der Zustand der weitgehenden Geräuschisolation hat zweieinhalb Jahre gedauert, bis er mit einem 72-tägigen Hungerstreik, der mit sehr harten Zwangsernährungen zum Abbruch gebracht werden sollte, durchbrochen wurde. In dieser Zeit hatte ich u.a. meine Sprache verloren und fand beim stattfindenden monatlichen Besuch hinter Trennscheibe die Worte nicht mehr. In der Stille stand manchmal das Gefühl des Erstickens vor einem und man musste eine große Selbst Kondition entwickeln, um von solchen Gefühlen nicht überrannt zu werden. Ich war einmal mehrere Tage nicht in der Lage, den Sauerstoff tief einzuatmen. Ich weiß bis heute nicht, was das war. Ich hatte tagelang dann nichts anderes gemacht, als mich auf das Atmen zu konzentrieren. Niemand stellt eine solch perfekte Situation der Sinneszerstörung ohne eine damit verbundene Absicht her. Vom Anstaltsleiter, der, wie später bekannt wurde, kurz vorher das „Celler Loch“, also den fingierten Anschlag des BGS auf die Außenmauer in Celle mit diversen öffentlichen Lügen gedeckt hatte, war ich mit den Worten begrüßt worden: „Hier werden Sie nicht mehr rauskommen“. Er hatte dabei, wahrscheinlich um auf die hoheitliche Würde dieser seiner Aufgabe hinzuweisen, einen Schlips mit Deutschlandflagge umgebunden. Der BGS-Anschlag auf die Außenmauer der JVA-Celle war dann die Begründung, um die Haftbedingungen von Sigurd Debus zu verschärfen, der drei Jahre später während eines erneuten kollektiven Hungerstreiks gegen diese Haftbedingungen an den Folgen der gewaltsamen Zwangsernährung starb.

Was ich anführe, wirft ein Blitzlicht und gibt nur ein unzureichendes Bild. Es betrifft nichts, was eine Besonderheit bei mir gewesen wäre, sondern es wirft nur ein Licht auf den jahrelangen Alltag für alle. Ich möchte das hier auch nicht ausführlicher darstellen; es war nicht das entscheidende in unserer Gruppe. Ich habe es durchgestanden. Andere nicht, dass darf man auch nicht vergessen. Daß ich es konnte, hat mir während der Haft geholfen, nie grundsätzlich zu verzweifeln. Ich füge es zum Schluß an, um einen Bogen herzustellen zum Beginn der „Balint-Gruppe“ und der Rede von Volker Friedrich über die verdrängte Isolationshaft, die auch dann für niemand anders wird, wenn sie medial nachträglich schöngeredet oder gleich geleugnet wird.

Zum Schluß

Nach Marx ist die Revolution, der Bruch mit der bisherigen Geschichte, notwendig, damit sich die Subjekte in der alten Gesellschaft von den bisherigen Verinnerlichungen befreien können. Dazu muß sie allgemein sein. Das wussten wir. Wir waren – dabei mehr Franz Fanon und Sartre nah – aber auch davon ausgegangen, dass der Einzelne sich kämpfend aus dem aktuellen historischen Zustand, den die bestehende Gesellschaft darstellt, befreien und grundsätzlich verändern kann. Macht und Zwang ist etwas, was individuell abgeworfen und Befreiung etwas, was im Machtkampf mit der Herrschaftsstruktur der alten Verhältnisse verallgemeinert werden kann. Die RAF ging davon aus, dass der Prozess in Gang zu setzen ist, aus dem der Minderheitenwille nach Befreiung gesellschaftlich allgemein werden kann. Der Tod in Stammheim kam aus der Erkenntnis, dass es nicht reicht, dass unsere Anstrengung unzureichend, vielleicht im Meisten auch falsch war, die Reife der Zeit fehlt und was immer auch sonst noch. Er gesteht das Scheitern ein und lehnt trotzdem im Tritt gegen die Macht, die das Mordszenario bedeutet, die Unterwerfung und jede Rückkehr ab. Der Tod in Stammheim bekräftigt aber auch, dass selbst die Niederlage im Befreiungsversuch nicht dazu führen darf, sich preiszugeben, also sich kaufen zu lassen. Das bleibt eine Besonderheit der RAF: Sie war in ihrer ganzen Geschichte nie bereit, vom Grundsätzlichen abzugehen, also käuflich zu werden. Das legte das Verhältnis „Sieg oder Tod“ nah, das noch lange nachwirkte. Das Ahistorisch-Werden dieses Verhältnisses anhand des unzureichend gewordenen Inhaltes ist formal erst 1998 mit der Selbstauflösung, längst verspätet, eingestanden worden. Eine Rückkehr in alte Zustände war von den meisten Akteuren nie eingeplant.

Mit der RAF haben wir die fehlende Reife der Zeit nicht sehen wollen, weil uns aus den Aufbruchserfahrungen der Nachkriegsrevolte kollektive oder individuelle Befreiung zu verlockend und das Leben in der Gesellschaft zu unerträglich war. Es gibt also ein Bewusstsein, das gegen die Wand rennen muß und deswegen als unglücklich zu bezeichnen ist. Unschuldig ist es deswegen nicht. Es ist aber auch nicht einfach als nur verwerflich zu bezeichnen, wie der Versuch der Revolte oder Revolution nie verwerflich sein kann. Sie spricht an, dass etwas überkommen ist. So auch die RAF, egal ob zu früh und oft falsch. Die Behauptung, dass es den Bruch nicht geben kann, halte ich für den Sprung in eine rechte Lebensbestimmung, der ich mich verweigern will. Das polternde Echauffieren Ex-68er und Nach-68er über die Verwerflichkeit der systemoppositionellen Linken will überspielen, dass das bürgerliche System im Grundsatz als etwas gesetzt wird, was nicht in Frage gestellt werden kann. Eine solche Zukunft wäre ohne jede Hoffnung.

Die RAF war 1977 gescheitert. Unterwerfung war das einzige, was uns von staatlicher Seite als Bewegungsrahmen offen gelassen werden sollte aus dessen Erkenntnis, dass nichts von der RAF integrierbar ist. Man kann das auch als negative Anerkennung dafür sehen, dass mit der RAF vom Ansatz her eine Fundamentalopposition auftrat. Sinn der Haft war, dass wir alle nach und nach auf Stein beißen und als Subjekte erstarrend verhungern. „Weiß werden.“ [11] Nie wieder sollten wir zusammen kommen. Heute, scheint es, verbieten es sich viele selber. Und doch: Ich finde, dass alle Gefangenen, die gegen die Niederlage der RAF oder die ihrer eigenen Gruppe die Unterwerfung für sich trotzend abgelehnt haben, richtig handelten und handeln. Das wiederum vereint uns.

Unser Aufbruch war richtig. Es war ein Versuch, „das Kontinuum des Bestehenden“ aufzusprengen.[12]

Fußnoten

[1] Für J. Ph. Reemtsma, der sich als nachholender Kritiker in Rage redet, existieren diese Zusammenhänge nicht oder sind für die Analyse unbedeutend. Die Kulmination des Generationsbruchs in der Nachkriegszeit im bewaffneten Kampf anhand der aus der Vergangenheit und Gegenwart nahe liegenden Frage von „Sozialismus oder Barbarei“, wird bei ihm zum Ausdruck eines unpolitischen Machtrausches letztlich kranker Individuen bzw. „stammelnder Idioten“ mit nihilistischer Subjektgrundlage. Mir scheint allerdings, dass über die Geste der verächtlichen Negation der RAF eines als Selbstverständlichkeit transportiert werden soll: Dass es außerhalb des bürgerlichen Rahmens keine Lebensgrundlage geben kann, auf der sich die Menschheit entwickeln könnte. So landet man bei der FDP.

[2] Ich war 1973 als Hausbesetzer für ein Jahr ins Gefängnis gesteckt worden. Im Prozess bin ich aufgrund einer klar belegbaren Falschaussage eines Polizisten zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, welches ich als U-Gefangener bis auf drei oder fünf Tage vollständig abgesessen hatte. Während dieser Haft war ich über elf Monate in Total Isolation. Meine Weigerung, mich der Gefängnislogik unterzuordnen, führte zu vielen „Rollkommandos“, die mich mit brachialer Gewalt von hier nach dort im Gefängnis schleppten. Ich habe meine Haft durchgestanden, tatsächlich auf Biegen und Brechen. 1975 entschied der BGH auf Revision der Staatsanwaltschaft, dass die Hausbesetzer auch noch wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden müssten. Wichtig zu erwähnen ist mir, dass in der Zeit meiner Hausbesetzerhaft, 1973, Salvador Allende ermordet wurde, was von vielen Trägern aus der politischen Klasse gutgeheissen worden war. Die politische und ökonomische Klasse machte immer deutlich, wie weit sie gehen würde.

[3] Hölz, Max (1969): Vom Weißen Kreuz zur Roten Fahne. Frankfurt/M. (Verlag neue Kritik), Paperback.

[4] Ich hatte sowohl 1981 als auch 1985 zu denen gehört, die damals den Hungerstreik nicht abbrechen wollten. 1981 war Sigurd Debus an den Folgen der Zwangsernährung gestorben. Es hatte sich hier einfach verboten mit dem Hungerstreik aufzuhören, nur weil der Staat zum politischen Abwickeln dieses Todes ein paar vage Zugeständnisse machte. 1985 wurde in der internen Diskussion der Hungerstreikverlauf so festgelegt, dass es keinen Abbruch geben darf, egal wie bedrohlich die Situation für Einzelne ist. Wir hatten das in Celle akzeptiert und hatten beinahe zwei Tote in unserer vierköpfigen Gruppe. Abgebrochen wurde dann, nachdem woanders die Situation ähnlich eskalierte. Von heute aus gesehen bin ich über die Inkonsequenz froh und es ist anderen zu verdanken, dass es nicht noch mehr Tote gab. Für mich war es damals aber ein zentrales Problem: Wenn man verantwortlich ist für einen Kampf, in dem es Tote gibt, selbst aber nicht jede Konsequenz für sich akzeptiert, ist oder wird der Kampf korrupt. In unserer Vorstellung vom revolutionären Kampf, wie in der von wohl fast allen revolutionären Gruppen in der Welt, war das Leben nicht das höchste Gut des Revolutionärs.

[5] Man könnte hier jetzt noch Wackernagel und Schneider anführen. Ich muss aber einen Unterschied machen. Siegfried Haag hat einfach einen Schnitt gemacht. Begründen oder intern diskutieren wollte er ihn nicht. Später hat er, aus taktischen Gründen, zur Beschleunigung seiner Freilassung eine öffentliche Distanzierung gebracht. Wackernagel und Schneider waren außerStande, für sich zu erklären, dass die RAF und deren bewaffnetes Verhältnis zum System nicht mehr zu ihnen passt. Sie haben in endlosen Erklärungen den Marxismus und eine oft nur noch oberschülerhafte Ethik-Diskussion bemüht, um zu einer Absage an die RAF zu kommen. Andreas Baader hatte dazu einmal den Satz formuliert, dass niemand geht, ohne den Versuch, die Moral mitzunehmen. Haag hat hier erst einmal anders gehandelt, aus meiner Sicht jedoch aus anderen Gründen damals unentschuldbar.

[6] Nach der Entführung des Flugzeuges nach Entebbe durch den Internationalen Flügel der RZ, schrieb Gudrun Ensslin, dass sich die Stammheimer Gefangenen beinahe öffentlich distanziert hätten. Ich habe zu denen gehört, die das mit unendlicher Erleichterung aufgenommen hatten.

[7] Machtfrage in diesem Sinn, die also die Aufhebung der Entfremdung als Bestandteil der Politik beinhalten musste, musste auch die Befreiung der Gefangenen beinhalten. Deswegen war die Schmähung von Fritz Teufel über die „Befreit-die Guerilla-Guerilla“ nur Ausdruck des Nichtbegreifens dessen, was für die RAF befreiende Politik war. Die Frage der Auseinandersetzung mit der Entfremdung ging meiner Meinung nach völlig an der Bewegung 2. Juni vorbei. Sie war eine linksradikale Politikgruppe, die sich an den Bewusstseinszuständen ihrer Basis und im Machtkampf an den Lücken im System orientierte, populär-radikal, aber eben auch gefällig sein wollte. Sie musste mit ihrer Szene zerfallen. Möglicherweise war sie auf Basis ihres Konzeptes erfolgreicher als die RAF auf ihrem. Aber mehr als einen diffusen, von Anekdoten gespeisten klassenkämpferischen Mythos des „wir unten“ und „ihr oben“ scheint sie nicht zu hinterlassen.

[8] Die Tatsache, dass – welch großer Anteil auch immer – Alt-Linke aus der linksradikal bestimmten 68er-Bewegung nach 1977 zum Bestandteil der herrschenden Elite wurden, also individuell und gruppenmäßig eine Alternative zur Revolution fanden, sollte man im Nachhinein nicht so deuten, dass sie Anfangs der 70er Jahre nicht auch eine Niederlage des Staates wollten und dass der Sieg des Staates nicht seine Wunden und Deformationen hinterließ.

[9] Weshalb Wolfgang Ports Versuch Ende der 70er Jahre, ein Verbindungslinie von den Toten in Stammheim zu Jim Jones und dem Massenselbstmord von People’s Temple zu ziehen, leider nur im Demagogischen hängen bleibt.

[10] Nach dem Tod der Stammheimer konnte eigentlich niemand mehr akzeptieren, dass andere in einer ähnlichen Rolle zur Gruppen stehen wie sie damals. Nach ihrem Tod hätten wir den Inhalt von Kollektivität, überhaupt die Frage unserer inneren Struktur, neu entwickeln müssen.

[11] Eine Begrifflichkeit über das Ziel der Isolation von Christian Geissler

[12] Vgl. Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, hier: Geschichtsphilosophische Thesen, 15. U. 16. These, S. 90ff., Frankfurt/M. (Edition Suhrkamp), 1. Aufl.

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