Stuttgart: Wir sehen genau, bei welcher Gewalt ihr schreit

veröffentlicht am 22. Juni 2020

Es ist wieder einmal so weit. Deutschland hat eine „Gewalt“-Debatte. Derlei Gewaltdebatten entzünden sich stets an der Gewalt von Marginalisierten, an der Gewalt von „unten“ – und ganz besonders, wenn man meint „Fremde“ unter den „Gewalttätern“ ausmachen zu können.

Ich will im folgenden nicht über diejenigen Reden, die jetzt ein Fest des Rassismus feiern, denn sie sind so elend, dass es keiner Beschreibung bedarf. Es sind Leute, die bei jeder Gelegenheit ein Pogrom verüben würden, aber bei „Ausländergewalt“ zum liebevollen Wahrer gesellschaftlichen Friedens werden; Leute, die zuhause die „eigene“ Frau halb tot prügeln und dann mit dem Finger auf die “Fremden” zeigen, um sich als Retter des weiblichen Geschlechts aufzuspielen. Man muss ihnen nicht zu viele Zeilen widmen.

Ich möchte aber über etwas anderes reden: Die ganz normale, ganz durchschnittliche Empörtheit der ansonsten auch ganz progressiven Mitte. Die Saskia Eskens dieser Republik. Die SPD-Vorsitzende formulierte direkt nach den Auseinandersetzung: „Was für eine sinnlose, blindwütige Randale in #Stuttgart, die so viele verletzte Polizist*innen und zerstörte Ladengeschäfte zurücklässt. Die Gewalttäter müssen ermittelt & hart bestraft werden. Unbegreiflich, wie die Situation derart eskalieren konnte.“

Die liberale bis linksliberale Reaktion auf spontane Riots fragt nicht: Was sind die Gründe? Warum kommt es zu der Gewalt? Um welche Art der Gewalt handelt es sich, wessen Gewalt ist es? Leute wie Esken wollen das Bild vermitteln: Wir sind die, die immer gegen Gewalt sind. Ist das schlecht? Jede*r ist gegen Gewalt. Noch der letzte genozidale Militär wird aufrichtig glauben, sein Morden dient dem Ende irgendeiner Gewalt oder Not. Gewalt ist nicht die „Ausnahme“ in der Welt, in der wir leben, sie ist der Normalfall. Es ist so trivial und eigentlich weiß es jeder: Krieg ist Gewalt, Vertreibung ist Gewalt, das Europäische Grenzregime ist Gewalt, Rassismus ist Gewalt, Feminizide sind Gewalt. Mehr noch: Ein Leben in Prekarität und Unsicherheit, im schlimmsten Fall Hunger ist Gewalt. Und das Iphone, auf dem ihr diesen Text lest, ist vergegenständlichte Gewalt, in Form gegossen in Kobaltminen und Menschenschinderfabriken. Libysche Folterlager sind Gewalt, bezahlt von der Bundesregierung. Türkische Angriffskriege mit bundesdeutschem Kriegsgerät sind Gewalt. Handelsverträge sind Gewalt, Austeritätsmaßnahmen sind Gewalt. Die Liste ist endlos – und es ist trivial, jeder Mensch weiß das.

Aber die Gewalt dieses Systems ist man gewohnt, seit man das Licht der Welt erblickte. Und wieder und wieder und wieder und wieder wird einem gesagt, man könne sie eben nicht ändern, sie sei unveränderlich, notwendig oder das kleinere Übel. Man begegnet ihr mit einem Schulterzucken, oder wenn man progressiv und links ist, dann mit einer allzeit gemäßigten Kritik, zu deren Überbringung an die zuständigen Stellen man sich doch bitte auch das Zugticket zu lösen hat.

Aber wehe es kommt zur „außerordentlichen“ Gewalt. Zur Gewalt derer, die man selber nicht kennt, denn sie kommen so selten in den Bundestag, die Zeitungsredaktion und die hübschen Restaurants, in denen man zu Abend isst. Selbst in die Clubs nicht, in denen man ganz cool feiert, schon wegen der Türsteher. Diese „außerordentliche“ Gewalt, die zeiht man des Zivilisationsbruchs. Und beschwört die Härte genau jenes Systems, das man zuvor noch wohlfeil kritisiert hatte.

Es sind dieselben Leute, die sich noch vor zwei Wochen – man will ja auch sein Profil schärfen – Martin Luther King in die Timelines geschwungen haben: a riot is the language of the unheard. Und die „radikaleren“ von ihnen, die hießen gar die Aufstände gut: solange sie weit weg sind und die involvierten Personen einfach „Schwarze“ sind, aber keine konkreten Menschen. Nur je näher etwas kommt, desto wirklicher ist es. Und eigentlich schaut man auf den Pöbel herab. Was in den USA noch ein mit dem Fernglas zu beobachtender Schwarzer Jugendlicher, der für seine Rechte kämpft, war – im eigenen Backyard ist es ein sinnloser Gewalttäter, ohne politische Gesinnung, gar nicht progressiv. Ja hatte der denn überhaupt die neuesten Studien zur Funktion der Polizei gelesen, bevor er sich an dem Streifenwagen verging? Es ist ein altes Phänomen in Teilen der Linken: Der Refugee ist super welcome – außer der konkrete, der dann bei einem einziehen will, weil der ist für Palästina oder gar Gaddafi oder redet anders als man selber, im schlimmsten Fall ist er sogar Muslim. Man mag die konkreten Menschen nicht, wenn ihnen die Etikette fehlt. Man glaubt auch gar nicht, dass es so etwas wie politische Überzeugungsarbeit geben sollte. Man will mit denen sein, die denselben „Diskurs“ pflegen, die „im Rahmen“ sind und die das Einmaleins des progressiven Humanismus auch dann noch aufsagen können, wenn ihnen eigentlich schon längst zum Heulen ist.

Die abstrakten Menschen, die in der Türkei, wenns hart kommt in den USA, die dürfen sich gelegentlich wehren. Aber doch nicht DIESE HIER. Die language of the unheard, sie muss schon gestochenes, akademisches Hochdeutsch sein, ansonsten versteht das doch keiner. Und wenn die language of the unheard dann Unterschichtsslang oder gar irgendwas ausländisches ist, dann lieber mit der anderen language übertönen: tatütata, Hier spricht die Polizei.

Aber was heisst denn dieses Martin-Luther-King-Zitat, das alle kennen eigentlich? Es heißt nicht: Fetischisiert jeden Riot, weil das ist so super geil – ein wenig die Kehrseite von dem linksliberalen Quatsch. Es heisst: Menschen, die jeden Tag getreten werden, auf dem Amt, in der Schule, auf Arbeit, Menschen, die jeden Tag von den Bullen getriezt werden, dann nach Hause kommen und sich noch von den Eltern anhören können, „was hast du wieder gemacht, Junge?“, weil an allem müssen sie Schuld sein, der Staat, der Chef, der Lehrer, die sind ja integer – diesen Menschen reicht es an einem Punkt. Das ist nicht hübsch und zielgerichtet. Im schlimmsten Fall richtet die Wut sich gegen Ihresgleichen. Im besseren Fall gegen ein paar Scheiben von McDonalds oder Autos der Polizei. Führt das zur Revolution? Nein. Sollten deshalb Leute, die 10 000 Euro als Abgeordnete einer Regierungspartei verdienen und schulterzuckend sagen, na mehr als drei Dutzend Kinder konnte ich leider nicht aus Moria in die Bundesrepublik holen, Lektionen über „Gewalt“ verteilen und gleichzeitig die Gewalt des Staates gegen diese Jugendlichen beschwören? Sicher nein.

Eine proletarische Linke muss sich mit den Problemen in der eigenen Klasse auseinandersetzen. Sie kann spontane Wutausbrüche nicht fetischisieren, sondern muss sich Gedanken machen, in welcher Form sie die Wut organisieren kann. Aber sie sollte wissen, auf welcher Seite sie steht.

Denn die liberale Linke weiß das ganz sicher. Sie glaubt an diesen Staat, seine Polizei, seine Gesetze, seine Ökonomie. Sie will sie nicht ändern, sondern im besten Fall einige wenige Symptome abmildern, um ihr eigenes Geschäftsmodell in der kommenden Wahl bestätigt zu bekommen. Und sie wird stets, wenn irgendeine Gewalt von unten kommt, auf der Seite der Gewalt von oben stehen.

gefunden auf: https://lowerclassmag.com/2020/06/21/stuttgart-wir-sehen-genau-bei-welcher-gewalt-ihr-schreit/

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