Textilindustrie will Löhne noch weiter unter Hungergrenze drücken
Textilarbeiter:innen in der Türkei und Nordkurdistan sind schwerster Ausbeutung und Gesundheitsgefährdung ausgesetzt. Sie erhalten einen Lohn weit unter der Armutsgrenze.
Die Türkei ist eines der Billigproduktionsländer für Textilien in europäischen Fast-Fashion-Discountern. Um für den europäischen Markt Schuhe, Jeans und T-Shirts möglichst billig zu produzieren, wird eine gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen möglichst verhindert und die Arbeiter:innen werden mit niedrigsten Löhnen abgespeist. Nach einer Statistik des Gewerkschafts-Dachverbandes TÜRK-IS lag die Hungergrenze für eine vierköpfige Familie im April dieses Jahres bei 17.725 Lira (505 Euro). Der Mindestlohn, mit dem mehr als die Hälfte der Arbeiter:innen in der Türkei und Nordkurdistan auskommen muss, beträgt dagegen nur umgerechnet 484 Euro. Dass Profitmaximierung jedoch auch nicht unter der Hungergrenze Halt macht, zeigen nun die neuen Forderungen der Textilverbände in der Türkei.
Sinan Öncel, Präsident des Verbandes der Vereinigten Marken (BMD), Berke Içten, Präsident des Verbandes der türkischen Schuhhersteller (TASD), und Ramazan Kaya, Präsident des Verbandes der türkischen Bekleidungshersteller (TGSD), verkündeten bei einem kürzlich abgehaltenen trilateralen Treffen ihre Erwartungen von der Regierung. Dazu gehört eine weitere Aufweichung des Mindestlohns durch die Einführung einer regionalen Flexibilisierung, gleichzeitig sollen die Mindestlöhne durch die Steuerzahler:innen subventioniert und die Sozialversicherungsausgaben auf Seite der Kapitalisten gesenkt werden. Dabei sind die Großunternehmen in der Türkei bereits massiv steuerbegünstigt.
Im ANF-Gespräch äußert sich die Textilarbeiterin aus Denizli, die wir aus Sicherheitsgründen mit dem Pseudonym „Ayşe“ bezeichnen, zur Situation der Textilarbeiter:innen und ihren Forderungen.
„Die Schulden werden mit einem Federstrich weggewischt“
Zunächst fragen wir Ayşe zu ihrer Meinung zu den Forderungen der Textilunternehmer. Ayşe kritisiert, dass die Unternehmen bereits so massiv subventioniert werden, Millionengewinne in Dollars einführen und dennoch weitere Förderung aus Steuermittel verlangen. Sie warnte, dass eine regionale Flexibilisierung des Mindestlohns insbesondere darauf abziele, in den kurdischen Provinzen Billigstarbeitskräfte zu schaffen und führte aus: „Während es viele Subventionen gibt, die die Kapitalisten bereits erhalten, wie z.B. die Übernahme der Versicherungsprämien der Arbeit:innen durch den Staat, die Streichung ihrer Steuerschulden mit einem Federstrich, gibt es nun auch die Forderung der Kapitalgruppen nach einem regionalen Mindestlohn. Als ob es nicht genug wäre, dass sie Millionen von Dollar verdient haben. Regionaler Mindestlohn bedeutet: ‚Wenn wir die entsprechenden Anreize erhalten, werden wir Arbeitsplätze einrichten, aber die Löhne müssen niedrig sein, damit wir in diesen Regionen investieren können.‘ Dabei geht es um Gebiete, in denen die Industrie nicht entwickelt ist, wie z.B. in den Regionen im Osten und Südosten. Während der derzeitige Mindestlohn 17.000 TL beträgt, während unsere Löhne angesichts der Inflation dahinschmelzen und unsere Existenzprobleme daher immer größer werden, reicht es nicht einfach nur aus, irgendeinen Mindestlohn festzulegen. Die Lebensbedingungen in jeder Region mögen unterschiedlich sein, aber wenn wir in den Supermarkt gehen, zahlen wir überall im Land den gleichen Preis. Leider ist dies kein Faktor, der unsere Kaufkraft direkt verändert. Während Millionen Dollars von der Regierung mit einem einzigen Federstrich vernichtet werden, gibt es eine Kapitalistenklasse und ihre Sprecherregierung, die uns das Leben mit 1.000 TL auf dem Konto zur Hölle macht.“
„Wir arbeiten, ohne das Tageslicht zu sehen“
Ayşe beschrieb, dass der Mindestlohn schon jetzt nicht einmal das Nötigste abdecke und dass eine regionale Flexibilisierung des Mindestlohns eine weitere Verschlimmerung der Lage der Arbeiter:innen bedeute: „Ich bin Textilarbeiterin, ich arbeite seit Jahren, und ich weiß nicht, was ich mir morgen zu essen kauen kann. Wir haben auch nichts von dem Lohn für Überstunden, die wir täglich machen. Wir arbeiten fast, ohne das Tageslicht zu sehen. Dieses System kann so nicht weitergehen. Das Ziel der Bosse ist nicht, den Mindestlohn in den Metropolen zu erhöhen, sondern ihn in den Provinzen, in denen die Industrie nicht entwickelt ist, zu senken. Ja, die Mieten sind in Städten wie Istanbul höher. Der Mindestlohn ist aber der niedrigst mögliche Lohn. Der Mindestlohn sollte so hoch sein, dass man davon menschenwürdig leben kann. In Großstädten sollten die Löhne der Arbeiter:innen entsprechend den Lebensbedingungen höher sein. Egal wie die Bosse für den regionalen Mindestlohn werben, Arbeiter:innen und Gewerkschaften müssen sich dagegen wehren.“
„Es gibt keine einzige Textilfabrik mit einer Gewerkschaft und einem Tarifvertrag“
Ayşe berichtete über die gewerkschaftliche Organisierung: „Die Situation der Arbeiter:innen in Denizli unterscheidet sich nicht wesentlich von der in Uşak und Afyon. Es gibt keine einzige Textilfabrik mit einer Gewerkschaft und einem Tarifvertrag. In Denizli wurden die Beschäftigten der Filidea Tekstil, die zur Abalıoğlu Holding gehört, entlassen, weil sie einer Gewerkschaft beigetreten waren. Der Rechtsstreit der beiden entlassenen Arbeiter:innen und ihr Widerstand vor dem Tor dauert an und geht nun schon in den dritten Monat. Die Löhne betragen den Mindestlohn oder zweitausend, dreitausend Lira mehr. Maschinisten, Weber und Färber können nur mit Überstunden 30.000 Lira erreichen. Der Präsident der Industriekammer besitzt ebenfalls eine Textilfabrik, und letzten Monat wurde in Evrensel berichtet, dass er keine Körperschaftssteuer zahlt. Die Bosse können von Subventionen und Steueramnestien nicht genug bekommen. Wenn die Arbeiter:innen ihre Rechte einfordern, sagen sie, dass die Umsätze zurückgegangen sind.
Er-Bakir hat letztes Jahr für 28 Milliarden Lira Umsatz erzeugt. Ist das eine Situation am Rande des Bankrotts? In Denizli arbeiten beide Eheleute in der Textilindustrie und müssen Überstunden machen, um die Miete bezahlen und ihre Kinder zur Ausbildung schicken zu können. Die Mieten beginnen bei 10.000 Lira und gehen bis zu 20.000 Lira. Eine Einzimmerwohnung kostet 10.000 Lira. Wenn die Familie in einer Zweizimmerwohnung leben möchte, kostet sie 15.000 Lira. Mit anderen Worten: Zwei Leute arbeiten, damit einer von ihnen die Miete bezahlen und der andere einkaufen kann. Die Bosse kümmern sich nicht um diese beklagenswerte Situation. Die Arbeiter müssen ihre Rechte einfordern. Bei dem kleinsten Protest droht ihnen die Entlassung. Wir müssen geduldig, mutig und vorsichtig sein. Die Bosse handeln nach einem gut durchdachten Plan, und wir Arbeiter müssen uns organisieren und geplant kämpfen.“
„Das Vertrauen in Gewerkschaften nimmt ab“
Ayşe hat die allgemeinen Forderungen der Beschäftigten, ihre Sicht auf den gewerkschaftlichen Kampf und die Lage der Gewerkschaften wie folgt zusammen: „Wir wollen einen existenzsichernden Lohn, der nicht von der Inflation aufgefressen wird, und angemessene Arbeitszeiten, die es uns ermöglichen, unser Sozialleben zu führen und Zeit mit unseren Kindern und unseren Familien zu verbringen. Wir wollen gewerkschaftliche Rechte und Freiheiten. Wenn wir uns nicht gegen die Firmenchefs zusammenschließen, werden wir zu diesem Leben verdammt sein. In Denizli, wo die Textilindustrie stark ist und die Bosse immer neue Gewinnrekorde brechen, gibt es keinen einzigen gewerkschaftlich organisierten Betrieb. Es gibt große und kleine Widerstandsaktionen, aber das reicht nicht aus. Die Entlassungen haben zugenommen. Selbst die kleinste gewerkschaftliche Forderung kann zur Entlassung führen. In einem solchen Angstumfeld ist die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen das Letzte, was sie sich wünschen ...
Außerdem sind die von Hak-Iş und Türk-Iş organisierten Kundgebungen sehr durchsichtig. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Arbeiter:innen einzuladen. Die Arbeiter:innen sehen das natürlich. Türk-Iş hat beschlossen, in jeder Provinz Demonstrationen zu organisieren, in Denizli haben 20–30 Leute teilgenommen, unterstützt von anderen Organisationen. Wenn ihr die Arbeiter:innen nicht aufruft, geht zu den Arbeitern:innen. Werdet in den Fabriken aktiv. Aber das Ziel ist nicht, die Stimme zu erheben, sondern die Stimme der Arbeiter:innen zu unterdrücken. Für die Gewerkschaftsbürokratie reicht es aus, das Einkommen der Gewerkschaft auf einem bestimmten Niveau der Beiträge zu halten, um den Sitz zu behalten. Deshalb wächst das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften. Dennoch ist es notwendig, sich in den Gewerkschaften zu organisieren und dieses Verständnis von Gewerkschaften zu ändern. Wird das also immer so weitergehen? Nein, es wird sich ändern, wenn wir uns organisieren und uns um unsere Forderungen zusammenschließen. Ansonsten werden wir unser Leben damit verbringen, darauf zu warten, dass andere den Mindestlohn festlegen und über unser Leben entscheiden.“
ANF -news