Was gibt es Neues im „Anarchismus“? Nationale Selbstbestimmung und die Übereinstimmung von Interessen mit dem Kapital?!

veröffentlicht am 8. Juni 2023

Die folgenden Zeilen sind eine kurze Antwort auf einen Artikel von Wayne Price, der auf der Website der Czech Anarchist Federation (AFed) veröffentlicht wurde. Die Verzögerung unserer kurzen Antwort lässt sich nur dadurch erklären, dass wir lange gebraucht haben, um uns von dem Text „Are Anarchists Giving in to War Fever?“ [ursprünglich wurde dieser Text auf Englisch im Anarkismo-Netzwerk veröffentlicht] zu erholen. Wir gingen davon aus, dass selbst eine programmatisch so disparate und verwirrte Organisation wie AFed zumindest nicht von den Grundprinzipien des Anarchismus abweichen kann, da sie diese ja bereits in ihrem Namen trägt. Aber wir haben uns geirrt.

Im Kontext des Krieges in der Ukraine versuchen Wayne Price (und sein Herausgeber AFed) unter dem Deckmantel besonderer Bedingungen und kritischer Unterstützung grundlegende Elemente der bourgeoisen Ideologie in den Anarchismus (den wir für eine revolutionäre Bewegung und Teil des allgemeinen Kampfes des Proletariats gegen die Diktatur des Kapitals halten) einzuführen, die in direktem Widerspruch zum anarchistischen Programm für die Emanzipation der Menschheit stehen. Dieses Programm entstammt nicht aus dem Text dieser oder jener Anarchistin und Anarchist, sondern wurde in Opposition zum Kapitalismus, im Kampf gegen ihn und als seine Negation entwickelt.

Anarchistinnen und Anarchisten für die Nation?

Wen genau unterstützen die „Anarchistinnen und Anarchisten“ der AFed in der Ukraine? Wayne Price versucht, uns davon zu überzeugen, dass es die „unterdrückte Nation“ ist. Er erklärt: „Anarchistinnen und Anarchisten lehnen den Nationalismus ab, aber nicht das Ziel der nationalen Selbstbestimmung (…) einschließlich der Freiheit eines Volkes, das politische System zu wählen, das sie wollen (z. B. einen demokratischen Staat, einen zentralisierten Staat oder gar keinen Staat [Anarchie]) – und ihre Freiheit zu entscheiden, welches ökonomische System sie wollen (Staatssozialismus, Kapitalismus, libertärer Sozialismus).“

Dass „Anarchistinnen und Anarchisten“ mit dem Begriff der Nation operieren, ist neu für uns! Denn bisher sind wir davon ausgegangen, dass Anarchistinnen und Anarchisten gegen die Nation und ihre materiellen Folgen wie der Nation-Staat, die nationale Selbstbestimmung, die nationale Einheit und letztlich sogar gegen den Krieg zwischen den Nationen sind.

Revolutionäre Anarchistinnen und Anarchisten haben schon immer antinationale Positionen vertreten, und das aus gutem Grund. Wenn wir argumentieren, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Entwicklungsstand der materiellen Produktion entsprechen und auch Prinzipien, Ideen und Kategorien hervorbringen, die diesen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen, dann ist klar, dass auch diese Ideen, diese Kategorien, nur historische und vergängliche Produkte sind, die erscheinen und verschwinden. Eine solche Idee ist auch die Nation, ein künstlich geschaffenes Gebilde, ein historisches Produkt der Entwicklung der Produktivkräfte, das der Bourgeoisie dazu diente, ihre Revolution durchzuführen, ihre Herrschaft zu etablieren. Und auch, um das Proletariat an ihr Projekt zu binden, es in Nation-Staaten aufzuteilen und es davon zu überzeugen, dass seine Interessen mit denen der Kapitalisten derselben Nationalität identisch sind, damit sie es physisch und ideologisch besser kontrollieren kann.

Die Nation ist ein künstliches Bündnis der Ausgebeuteten und der Ausbeuter. Die „Unabhängigkeit, Kultur und nationale Freiheit des Volkes“, die sich Wayne Price ausdenkt, ist nur ein Terrain, auf dem uns die Bourgeoisie nach Belieben ausbeuten und uns glauben machen kann, dass unsere Arbeit erträglicher ist, wenn wir von einem Sklavenhalter, der unsere Sprache spricht, zur Arbeit gejagt werden.

Die Etablierung des Proletariats als Klasse wird ständig durch die Konkurrenz zwischen Proletariern als freie und gleichberechtigte Verkäufer von Waren, von Arbeitskraft, unterminiert. Alle ideologischen, politischen und militärischen Kräfte festigen diese Atomisierung, auf die sich der soziale Frieden und die bourgeoise Ordnung stützen. Das Proletariat zerfällt in das Volk, diese bourgeoise Negation des Ausgebeuteten als universelles Wesen, als eine Klasse, die im Antagonismus zum Kapital steht. Und diese Negation gipfelt schließlich in dem Massaker im kapitalistischen Krieg.

Die Gründung und Existenz von Nation-Staaten hat das eigentliche Wesen der Bourgeoisie – die Konkurrenz – nicht beseitigt, die die Bourgeois dazu zwingt, sich in Bezug auf die Verteilung der Produktionsmittel und Märkte auf allen Ebenen brutal zu bekämpfen und zu konfrontieren. Die Einheit innerhalb der Bourgeoisie (z. B. innerhalb eines Nation-Staats, internationaler Abkommen usw.) wird hergestellt, um die bestmöglichen Bedingungen im Handelskrieg (und auch im Klassenkrieg) zu erhalten. Diese Einheit kann jederzeit in verschiedene spezifische Fraktionen zerbrechen, die ihre Interessen in gegenseitigen Konflikten durchsetzen werden.

Daher ist jeder Frieden nur eine Phase eines bevorstehenden Krieges. Andererseits enthält jede Aktion des Proletariats – wie partiell auch immer -, in der es für sich und seine Interessen handelt, eine Bestätigung des Proletariats und seines Kampfes für die allgemeine soziale Revolution.

Deshalb wendet sich der Anarchismus als revolutionäre Bewegung von Anfang an gegen das Vaterland, die Nation und den nationalen Kampf und strebt die Abschaffung aller Grenzen und Nationen an. Revolutionäre Anarchistinnen und Anarchisten unterstützen keine Nation gegen eine andere, weder „die schwächere“ noch „die überfallene“ noch „die unterdrückte“. Revolutionäre Anarchistinnen und Anarchisten stehen auf der Seite des Proletariats auf beiden Seiten der Front.

Die Übereinstimmung von wessen Interessen?

Price erklärt die Tatsache, dass einige „Anarchistinnen und Anarchisten“ für die Interessen des ukrainischen Staates kämpfen, mit einer Art vorübergehender „Interessensübereinstimmung zwischen dem westlichen Imperialismus und dem ukrainischen Volk.“

Wenn „Anarchistinnen und Anarchisten“ das Gefühl haben, dass sich ihre Interessen „vorübergehend“ mit denen der Bourgeoisie überschneiden, sollten sie ernsthaft überlegen, um welche Interessen es eigentlich geht. Im Falle Russlands und der westlichen Mächte, die sich ihm entgegenstellen, geht es um die Ausweitung der Einflusssphäre und die Aufrechterhaltung des Status der Ukraine als Pufferzone.

Soweit wir wissen, ging und geht es den Anarchistinnen und Anarchisten als Teil unserer Klassenbewegung um die Herbeiführung einer sozialen Revolution. Um die Verwirklichung der Interessen der unterdrückten Klasse, um ihre Befreiung vom Joch des Kapitalismus, um dieVerwirklichung einer echten menschlichen Gemeinschaft.

Was ist also die Übereinstimmung der Interessen?

Genauso wenig wie es im Interesse des Proletariats liegt, neue Fabriken zu bauen (in denen es seine Lebensenergie in Schmutz und Schweiß für einen Hungerlohn eintauscht und damit nicht nur zur Bereicherung eines bestimmten Kapitalbesitzers, sondern vor allem zur Reproduktion des gesamten sozialen Kapitalverhältnisses beiträgt, das es versklavt), liegt es auch nicht in seinem Interesse, nationale Grenzen, die Unversehrtheit des Territoriums, die Demokratie oder die Menschenrechte zu verteidigen, die nur einen Rahmen für seine Ausbeutung und ein Instrument der Kontrolle darstellen.

Wayne Price beruft sich auf das Beispiel der Freunde von Durruti (A.d.Ü., eigentlich ‚Agrupación de los Amigos de Durruti‘ auf Spanisch). Aber er hat deren Kritik an der Einheitsfront nicht im Geringsten verstanden. Denn die Einheitsfront, die die Freunde Durrutis kritisieren, ist nicht nur eine einheitliche formale Organisation, die Beteiligung von Anarchistinnen und Anarchisten an der Regierung oder die Zusammenarbeit mit dieser oder jener Partei, sondern auch ein informelles Bündnis, ein einheitlicher Kampfkurs für und im Namen des bourgeoisen Programms, ein Verzicht auf das Programm des Proletariats und dessen Verschiebung auf die Zeit „nach dem Krieg“, also genau die oben erwähnte Einheit der Interessen.

Zwar forderten die Freunde Durrutis nicht den Rückzug der Anarchistinnen und Anarchisten von der Front, doch dies erwies sich aus historischer Sicht als entscheidender Fehler. Während die Proletarier an der aragonischen Front glaubten, mit ihrem Kampf die laufende soziale Revolution gegen die Faschisten zu verteidigen, führten die demokratischen antifaschistischen Parteien im Hinterland eine Konterrevolution durch. Mit anderen Worten: Anstatt in den Schützengräben zu frieren und unter dem Mangel an Vorräten und Munition zu leiden, hätten die Anarchistinnen und Anarchisten Spaniens nach Barcelona und Madrid gehen sollen, um die Kräfte zu bremsen, die unter dem Deckmantel einer vereinigten antifaschistischen Front die Herrschaft des Kapitals Schritt für Schritt wiederherstellten. Die spanische Revolution wurde sowohl von den Faschisten als auch und vor allem von den demokratischen Parteien, die ihnen den Boden bereitet hatten, besiegt.

Jetzt gibt es keine proletarische Revolution in der Ukraine, und die Proletarier an der Front sterben unbestreitbar nur für den bourgeoisen Staat und seine Interessen. Deshalb können wir nur wiederholen, worauf viele vor uns hingewiesen haben. Das Proletariat hat kein Interesse daran, seinen Staat zu verteidigen oder für die Demokratie zu kämpfen. Weder die Demokratie noch „unser eigener Staat“ sind ein Terrain, das dem Klassenkampf förderlich ist – ganz im Gegenteil.

Die Losung des ukrainischen Proletariats lautet nicht „Ruhm für die Ukraine“ (eine bessere, demokratischere, sozial gerechtere und überhaupt eine, die es in der Realität der kapitalistischen Verhältnisse nicht geben kann), sondern „Kein Mensch aus der Fabrik, kein Pfennig aus dem Lohn!“

Welche Solidarität?

Wir können die kapitalistische Welt und ihre tiefen sozialen Widersprüche nur durch die Perspektive des proletarischen Kampfes verstehen, der notwendigerweise internationalistisch ist und sein muss. Das Proletariat, egal in welchem Land es sich befindet und mit welchen Bedingungen es konfrontiert ist, bildet eine einzige internationale Klasse und hat es mit ein und demselben Feind zu tun, das liegt in der Logik der Sache.

Die Bourgeoisie und ihre Ideologen (auch wenn sie sich schön „ Anarchistinnen und Anarchisten“ nennen) leugnen den universellen Charakter der Kampfbedingungen des Proletariats, indem sie die Besonderheiten dieser oder jener Situation betonen.

Die Bourgeoisie versucht, uns das Terrain aufzudrängen, auf dem sie uns am besten besiegen kann. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie lässt das Proletariat „vergessen“, dass es die einzige universelle Klasse ist, und zwingt ihm das Terrain der Konfrontation auf, das ihr am besten passt. Auf diese Weise kann sie den Rahmen des Krieges diktieren, in den sie uns schickt: die internationale vereinte Kraft der Bourgeoisie gegen die isolierte Aktivität unserer Klasse, die sich auf dieses oder jenes Gebiet beschränkt. Die bourgeoise Politik für das Proletariat, die sozialdemokratische Politik, hält das Proletariat eines jeden Landes innerhalb seiner Grenzen und verwandelt den „Internationalismus“ unserer Klasse in Sammelaktionen, Petitionen, parlamentarische Interpellationen und „Solidarität“ durch Überweisungen und unterstützende E-Mails. Diese Form der Aktivität ist nicht nur völlig harmlos für die Bourgeoisie, sondern verwandelt auch die Notwendigkeit direkter Aktionen gegen das Kapital in Kollaboration mit der Bourgeoisie.

Anarchistinnen und Anarchisten sind nicht an dieser Art von „Solidarität“ mit den Proletarierinnen und Proletariern (nicht mit dem Volk) in der Ukraine interessiert, sondern daran, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um denselben Kampf, dieselben Interessen, dieselbe Kampfgemeinschaft auf der ganzen Welt zu fördern. Dieser falschen „Solidarität“ setzen wir eine echte Solidarität entgegen, die das Ergebnis eines gemeinsamen Kampfes ist.

Was soll man zum Schluss sagen?

Jemand sollte Wayne Price sagen, dass die Positionen, die er vertritt (nicht nur in Bezug auf den Krieg in der Ukraine), nicht die von Anarchistinnen und Anarchisten sind, sondern die von Liberalen.

Und die Anarchistische Föderation sollte sich überlegen, ob sie nicht das Wort „anarchistisch“ aus ihrem Namen streichen sollte, da es völlig unvereinbar mit den Positionen ist, die sie vertritt. Heute steht die AFed mit mehr als einem Fuß im Lager der Kriegstreiber, die das gegenseitige Massaker an Proletariern in der Ukraine im Namen der Verteidigung einer imaginären Demokratie, der nationalen Selbstbestimmung und anderer Konzepte unterstützen, die dem Proletariat (und erst recht den Anarchisten) völlig fremd sind.

Und wenn sich der gegenwärtige Kriegskonflikt auf das übrige Europa ausweitet, wird die AFed dann vielleicht unsere Brüder und Schwestern im Namen der gleichen fehlgeleiteten und im Wesentlichen bourgeoisen Ideologie zur Schlachtbank schicken?

Klassenkrieg/Class War/Tridni Valka [ CW ] & Antimilitaristische Initiative [ AMI ] – Mai 2023

Deutsche Übersetzung : https://panopticon.blackblogs.org/2023/06/02/tridni-valka-und-antimilitaristische-initiative-was-gibt-es-neues-im-anarchismus-nationale-selbstbestimmung-und-die-uebereinstimmung-von-interessen-mit-dem-kapital/

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