Zwei Seiten von Silvester

veröffentlicht am 7. Februar 2023

Silvester brachte beide Seiten zum Vorschein. In Berlin wurde wild und ausgelassen gefeiert und geböllert. Dabei kam es zu mehreren Sachbeschädigungen. Die Polizei und andere Einsatzkräfte wurden zeitweise vertrieben.
In Wien endete eine mehrtägige mediale Hetzkampagne, die von der Mehrheitsgesellschaft kräftig beklatscht wurde, in recht rabiaten Fällen von Polizeigewalt. Diese wollte mit einem Großaufgebot jede Eskalation im Keim ersticken. Dafür wurden sogar in einem Fall Schusswaffen eingesetzt, was wiederum fast niemand interessierte.

Die eine Seite

Armutsbetroffene Jugendliche gehören zu den großen Verlierer*innen der Pandemie. Während der Ausgangsbeschränkungen mussten sie auf öffentlichen Plätzen mit Polizeikontrollen rechnen. Privaten Orte standen ihnen jedoch meist nicht zur Verfügung. Durch die Nachwirkungen, durch die Wirtschafts- und Inflationskrise steigt der Druck gerade in den unteren sozialen Schichten. Und der Ausblick ist nicht gerade rosig. Die Hoffnung, dass es besser werden wird, verschwindet mehr und mehr. Kurz gesagt: Diesen Jugendlichen wurden und werden Lebensjahre und Lebenschancen in einem unglaublichen Ausmaß gestohlen!

Da in diesem Land Armut erheblich rassifiziert ist, mischt sich Rassismus mit diesen Formen sozialer Benachteiligung. Das Ergebnis ist das Wissen, in dieser Gesellschaft ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Egal ob am Wohnungsmarkt oder am Arbeitsmarkt. Die guten Jobs, die schönen Wohnungen sind für andere Leute, nicht für einen selbst, reserviert ist. Auf der Straße ist es das Wissen, dass die Polizei bei Kontrollen gerade die rausfischen wird, die offensichtlich nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Dass haargenau dann der Knüppel besonders locker sitzt.

Zu Silvester und bei anderen Parties kommt das übliche Balzverhalten. Jungs, die gerne zeigen wollen, wie groß, cool und stark sie nicht sind. Doch im Gegensatz zu ihren Altersgenoss*innen aus besseren sozialen Schichten fehlen ihnen die privaten und sicheren Räumen, wo sie sich gefahrlos ausprobieren können. Sie müssen das zwangsweise im öffentlichen Raum machen, und stoßen dabei auf ein ganz anderes Echo.

Dass es in dieser Gruppe immer wieder kracht, dass es zu größeren und kleineren Ausschreitungen kommt, ist wenig verwunderlich.

Die andere Seite

Die Mehrheitsgesellschaft lebt in einem Reichtum, für den es sowohl im historischen als auch im globalen Vergleich nur wenige andere Beispiele finden lassen. Gleichzeitig befindet sie sich in einer Phase der multiplen und tiefgehenden Krisen. Da noch dazu Lösungsansätze weitgehend fehlen, besteht die reale Möglichkeit, dass diese Phase des Luxus langsam dem Ende zu geht. Ist ein Szenario, in dem ein (Groß?) Teil mehr oder weniger deutliche Verluste hinnehmen wird müssen, jedoch ein existenzsichernder Lebensstandard nicht gefährden wird. Ein anderer Teil wird existentielle Sorgen bekommen. Eine kleine Minderheit, wahrscheinlich die, die jetzt schon zu den obersten 0,1% gehören, wird von den Krisen profitieren. Doch diese Erkenntnis ist so bitter, dass sie fast niemand wahrhaben will. Die simple Tatsache, dass so wie es ist, nicht bleiben wird, wird mit aller Macht verdrängt.

Diese Weigerung, der Realität ins Auge zu schauen, führt zu einer Aggression, die sich gegen all jene richtet, die mit einer der Krisen in Verbindung gebracht werden. Die Forderungen daraus sind ein fortwährender Schrei nach mehr Law&Order. Die Lösung für die Klimakrise? Härtere Strafen für Klimakleber*innen. Die Lösung für die sozialen Probleme? Härtere Strafen für die Jugendlichen, die zu viel Krach machen, die zu viel böllern. Es ist das klassische „Shoot the Messenger“ Verhalten. Die, die vielleicht sogar unbewusst eine der Krisen aufzeigen, werden für die Krisen selbst verantwortlich gemacht. Mensch wünscht ihre Entfernung und hofft so, sich auch von den von ihnen aufgezeigten Problemen distanzieren zu können. Es ist eine vergebliche Liebesmüh, den alten Status Quo aufrecht zu erhalten.

Die Angst als permanentes Hintergrundrauschen, führt gepaart mit der Unfähigkeit, auf die Veränderung reagieren zu können, zu wollen, zu einer massiven Wahrnehmungsverzerrung. Da wird ein fünfminütiger Stau zum einem Akt des Terrors erklärt, da werden kleinere Krawalle zu einem Bürgerkrieg aufbauscht, Diese Bedrohungen, selbst wenn sie nur subjektiv wahrgenommen werden, führen zu einem erhöhten Schutzbedürfnis. Daraus folgt wiederum ein lauterer Ruf nach mehr Polizei und härteren Strafen.

Silvester

Silvester brachte beide Seiten zum Vorschein. In Berlin wurde wild und ausgelassen gefeiert und geböllert. Dabei kam es zu mehreren Sachbeschädigungen. Die Polizei und andere Einsatzkräfte wurden zeitweise vertrieben.
In Wien endete eine mehrtägige mediale Hetzkampagne, die von der Mehrheitsgesellschaft kräftig beklatscht wurde, in recht rabiaten Fällen von Polizeigewalt. Diese wollte mit einem Großaufgebot jede Eskalation im Keim ersticken. Dafür wurden sogar in einem Fall Schusswaffen eingesetzt, was wiederum fast niemand interessierte.

Ich könnte mich an dieser Stelle über die Mehrheit der Linken beschweren, die sich abseits von dem ganzen Geschehen halten, dadurch jedoch auch schon eine Seite gewählt haben – die Seite der Ruhe und der Verdrängung, die eben eine der Voraussetzungen für die momentane Brutalisierung ist. Doch das will ich nicht, da ich selbst ja das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, der fehlenden Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten kenne. Doch es ist höchste Zeit, Auswege aus diesem Dilemma zu suchen.

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