freesenegal - Eine Revolte für die Freiheit

veröffentlicht am 5. Juni 2023

Region Westafrika - Am 1. Juni 2023 kam es in Senegal nicht unerwartet zu einem Aufstand. Schon Tage und Wochen zuvor waren auf allen größeren Kreuzungen und Straßen schwer bewaffnete Terror-Einheiten von Polizei, Gendarmarie und Militär in Dauerbereitschaft. Grund war eine Tribunal gegen den populären Oppositionspolitiker Ousmane Sonko, der ein Jahr vor den nächsten Wahlen für zwei Jahre ins Gefängnis soll.

dafa doy - es reicht
Graffity in Dakar 2021

Sonko wurde in Ziguinchor, wo er das Amt des Bürger*innenmeisters* ausübt vorübergehend verhaftet. Oder wie es viele Leute ausdrückten: entführt und an einen unbekannten Ort gebracht. Mittlerweile ist er wieder frei, das haben die Proteste bewirkt, bei denen mindesten 16 Menschen ermordet wurden.

Zur Vorgeschichte

Sonko wurde vorgeworfen, vor zwei Jahren eine junge Masseurin vergewaltigt zu haben. Ende Mai sollte er erneut zu einer Anhörung nach Dakar, erschien aber nicht vor Gericht. Er wurde offiziell vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, jedoch wurde ihm unmoralisches Verhalten vorgeworfen und er wegen "Verderben der Jugend" verurteilt. Er soll für zwei Jahre ins Gefängnis und eine hohe Geldstrafe zahlen. Dieses Urteil könnte seine Kanditatur bei den Präsidentschaftswahlen 2024 verhindern.

Für den Großteil der Anhänger*innen von Ousmane Sonko steht außer Zweifel, dass es sich bei den Strafen um ein politisches Manöver der derzeitigen Machthaber*innen rund um Macky Sall handelt. Denn Sonko stellt aufgrund seiner Beliebtheit in der Bevölkerung eine Bedrohung für den Machterhalt der derzeitigen Regierung und deren Wiederwahl dar. Darüber hinaus wird gemutmaßt, dass Macky ein drittes Mal zu den Präsident*innenschaftswahlen antreten will.

Für seine Anhänger*innen ist Sonko der nächste Präsident Senegals - und wird vierlerorts als "Präsident Sonko" bezeichnet. Insbesondere bei den jungen Menschen gilt er als Hoffnung auf Veränderung. Eine Veränderung, die sich die Menschen bereist 2012 erhofften, als Macky Sall, der jetzige Präsident, den damaligen Amtsinhaber Abdoulaye Wade besiegte. Dieser strebte eine dritte Amtsperiode als Präsident an, was viele ablehnten. Bei Protesten im Vorfeld der Wahlen wurden mehrere Menschen ermordet. Macky Sall wurde in der Stichwahl damals von allen Oppositionskanditat*innen unterstüzt - und zum neuen Präsidenten* gewählt.

Das Land war tief gespalten, nicht wenige trauerten Wade nach. Und Macky enttäuschte in den kommenden Jahren viele Menschen. Nichts desto trotz wurde er ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt.

Politische Willkür und Polizeiterror

Dass Macky nicht die erhoffte Veränderung bzw. Demokratisierung brachte - in einer der Vorzeigedemokratien Afrikas - liegt auf der Hand. Seinem Kabinett wird ebenso wie dem seiner Vorgänger*innen Korruption vorgeworfen. Die soziale Situation der sehr jungen Bevölkerung ist prekär. Viele Menschen leben von einem Tag auf den anderen, von der Hand in den Mund. Es gibt eine hohe Erwerbsarbeitslosigkeit, die Löhne sind niedrig und die Preise hoch, wenngleich sie aufgrund von Protesten nicht in die Höhe geschossen sind, wie andernorts.

Als vor zwei Jahren, im März 2021, Ousmane Sonko festgenommen wurde, kam es zu breiten Protesten. Spätestens seit damals ist klar, mit welchen Methoden die Regierung gegen Widerstand vorgeht: mit massiver Polizeigewalt, 14 Menschen wurden ermordet. Speziell aufgefallen sind damals meist in zivil auftretende Spezialeinheiten, die willkürlich und extrem brutal gegen all jene vorgehen, die sie als oppositionell einschätzen. Leute wurden bis in ihre Wohnungen verfolgt und misshandelt. Unter den Ermordeten fanden sich auch Kinder. (Mehr dazu hier und hier sowie auf freesenegal.news)

Zwei weitere Morde durch die Exekutive gab es im Juni 2022, und mindestens zwei Menschen starben im Mai 2023, darunter ein Polizist*. Bisher wurde keiner* der Täter*innen zur Rechenschaft gezogen.

Ende Mai 2023 beschäftigten sich die Gerichte erneut mit den Vorwürfen gegen Sonko. Doch dieser erschien nicht vor Gericht. Es lag etwas in der Luft, sichtbar u.a. durch die massive Präsenz der Terrorpolizeieinheiten, die sich wie bereits erwähnt überall im Land in Alarmbereitschaft befanden - und schwer bewaffnet auf den zündenden Funken warteten.

Bereits vor Beginn der Ausschreitungen kam es zu ersten Verhaftungen. So fordert Amnesty International in einer Aussendung vom 2. Juni die Freilassung der bereits Ende Mai verhafteten Mitglieder von unabhängigen Organisationen, u.a. dem Koordinator von Y’en a Marre (jetzt ist genug!), einer Gruppe die bereits 2011, also vor der Wahl von Macky Sall gegründet wurde, um gegen eine "wirkungslose Politik" zu protestieren und Jugendlichen bei der Registrierung zu den Wahlen zu helfen. (Anm: Im Senegal, wie in anderen Staaten Westafrikas, müssen sich die Leute, damit sie ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen können, erst registrieren und eine Wahlkarte beantragen. Nur die registrierten Wähler*innen sind berechtigt, ihre Stimme abzugeben.) Y’en a Marre war vor der Abwahl von Abdoulaye Wade aktiv, ohne eine Partei zu unterstützen und hat nach eigenen Angaben keine Verbindungen zu Macky Sall. Die Verhaftung erfolgte in Zusammenhang mit einem geplanten Besuch von Ousmane Sonko, der sich zu diesem Zeitpunkt in Hausarrest befand. Zu weiteren Verhaftungen kam es am 31. Mai und 1. Juni.

Der zündendende Funke

Am 1. Juni war es dann auch so weit. Ousmane Sonko wurde in Abwesenheit verurteilt. Die Veründung des Urteils mit zwei Jahren Haft wegen "Verderbens der Jugend" und seine vorübergehende Verhaftung führten zur Entladung der aufgestauten Wut. Es kam zu einem Aufstand und Kämpfen mit den erneut extrem brutal vorgehenden Polizeieinheiten in der Hauptstadt Dakar sowie an vielen weiteren Orten wie Kaolack, Mbur, Ziguinchor usw. Im Zuge der Proteste wurden Supermärkte geplündert und abgefackelt, viele Autos gingen in Flammen auf, darunter auch jene von führenden Politiker*innen, Straßen verwandelten sich in Schlachtfelder und ein Nebel von Tränengas machte vielen Menschen das Atmen schwer, selbst in ihren eigenen Häusern, in die sich so manche Tränengasgranate verirrte. Und Präsident Macky Sall flüchtete vor den aufgebrachten Massen aus seiner schwer bewachten Villa in Dakar - angeblich ins befreundete Frankreich. Es waren Tage des Ausnahmezustandes, in denen mindestens 16 Menschen ermordet wurden (in sozialen Netzwerken wird von 20 Ermordeten gesprochen). Hunderte Leute wurden oft willkürlich verhaftet und dabei teilweise extrem verprügelt, insbesondere von den bereits 2021 in zivil aufgetretenen Sondertrupps, die als Art "Leibgarde" von Macky Sall bezeichnet werden (siehe FreeSenegal @ mastodon).

Neben dem extrem brutalen Vorgehen durch die Exekutive auf den Straßen, verlagerte sich die Repression dieses mal auch ins Internet. Dieses wurde teilweise eingeschränkt, per Erlass die Nutzung von Internet auf Handys gesperrt und die Benutzung vieler soziale Medienplattformen eingeschränkt. Private Fernsehsender wurden in der Berichterstattung behindert und u.a. die Sendung von Walf TV gestört.

Soviel zu Demokratie und Meinungsfreiheit im Senegal. Oder wie ein von Al Jazeera Interviewter sagte: Es gibt kein Gesetz im Senegal. Was dann? Willkür, Korruption und koloniale Ausbeutung bestimmen nach wie vor das Leben von vielen Menschen. Gleichzeitig gibt es genügend Reiche, die das Leben genießen. Geschützt von einer u.a. mit europäischem Geld aufgerüsteten Exekutive, die kein Problem damit hat, die ihnen zur Verfügung gestellten Waffen einzusetzen.

Doch all dies kann die Menschen nicht mehr beeindrucken. Sie sagen, wie auf einem Graffity von 2021 in der lokalen Sprache zu lesen ist: Es reicht! - Dafa Doy!

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