Die aktuelle Situation in Rojava und die Perspektive der Kommunist:innen

veröffentlicht am 15. Juli 2023

Wie ihr vermutlich mitbekommt, wird die Revolution in Westkurdistan/Nord-und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava, nahezu tagtäglich angegriffen. Ob Drohnenangriffe auf Zivilist:innen, Artillerieangriffe auf Dörfer oder die Drosselung der Wasserzufuhr mit Staudämmen, die die sowieso schon trockene Region weiter austrocknen – jeden Tag bekämpfen der faschistische türkische Staat und seine jihadistischen Milizen das fortschrittliche Projekt der Selbstverwaltung in Rojava.

Warum finden diese Angriffe eigentlich statt? Was hat die Türkei dort zu suchen, wenn Rojava nicht innerhalb der Grenzen des türkischen Staates liegt?

Die Staatsgründung der Türkei jährt sich 2023 zum 100. Mal und seitdem ist die Türkei besonders besessen von der Idee, die ehemaligen Grenzen des osmanischen Reichs wirtschaftlich oder militärisch wiederherzustellen – von Aleppo bis Mosul, vom Balkan bis zum Kaukasus. Bei Widerstand geht das natürlich nur mit Krieg, den Erdoğan den Kurd:innen und der Rojava-Revolution angesagt hat. Um diesen Krieg, der gegen die Interessen der Arbeiter:innen ist, zu rechtfertigen, wird von “Terrorismusbekämpfung” und der “Etablierung einer Sicherheitszone” gesprochen. Dass in diesen besetzten “Sicherheitszonen” aber jihadistische Söldnermilizen, wie die “Freie Syrische Armee”, unkontrolliert wüten, beweist die wahre Gestalt dieser sogenannten “Sicherheit”. Diese Söldner haben ursprünglich als “Rebellen” im syrischen Bürgerkrieg gegen das Assad-Regime und gegen den IS gekämpft. Da sie teils mit, teils gegen die Streitkräfte Rojavas gekämpft haben, hat der türkische Staat sie mit Waffen und Geld beliefert, sie ausgebildet und verwendet sie mittlerweile für die Besatzung vieler Regionen in Nord- und Ostsyrien. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei die zweitgrößte NATO-Armee weltweit ist, mit fast halb so viel Militärpersonal wie die USA und dreimal so vielen Soldaten wie die deutsche Bundeswehr.

Aktuell nutzt das Erdoğan-Regime alle möglichen Taktiken, um Rojava anzugreifen. Beispielsweise werden Drohnenangriffe durchgeführt, welche erst vor kurzem Vertreter:innen der Selbstverwaltung von Rojava und weiteres Personal getötet haben. Am 22. Juni traf so ein Angriff Yusra Darwish und ihre zwei Mitarbeiter:innen Lîman Şiwêş und Firat Tûma. Sehr oft werden bei diesen gezielten Drohnenangriffen aber auch Zivilist:innen und ihre Kinder umgebracht. Der faschistische türkische Staat ist sich also nicht zu schade, einerseits mit jihadistischen Söldnern – Terroristen – zusammen zu arbeiten und andererseits mit brutalsten Methoden gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, um seine politischen Ziele zu erreichen. Es kann ihm also offensichtlich nicht um die Sicherheit von irgendjemandem oder um die Bekämpfung von Terrorismus gehen. Warum ist der türkische Staat bereit dazu, so weite Schritte zu gehen und Risiken in Kauf zu nehmen, um Rojava anzugreifen?

Einerseits weil die Revolution in Rojava eine ungeheure Bedrohung für den türkischen Staat und seine herrschende Klasse darstellt. Die Frauenrevolution und der solidarische Zusammenschluss aller Völker, so wie er in Rojava praktiziert wird, bedeutet eine tiefe Krise für die Türkei. Für wenig andere Staaten sind Rassismus und das Schüren von Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen von so grundlegender Bedeutung wie für die Türkei. Die Türkei wurde nach dem Niedergang des osmanischen Reichs vor 100 Jahren mit Genoziden, Massakern und Pogromen an Armenier:innen, Kurd:innen, Alevit:innen, Griech:innen, Assyrer:innen und weiteren Gruppen begründet. Schon ihr “Gründungsvater”, Mustafa Kemal, legte mit den Worten “Ein Staat, eine Sprache, eine Nation” die Grundpfeiler der Unterdrückung fest gegen alle, die nicht in das künstliche Bild des „türkischen Volks“ passen.

Andererseits ist auch die kommunistische Vorhut – also die kommunistischen Revolutionär:innen in Rojava – eines der Hauptziele der Angriffe des türkischen Staates. Sie sind ein besonders großer Dorn im Auge, weil sie die größte Bedrohung für den türkischen Staat darstellen. Sie sind es, die den Arbeiter:innen in der Türkei und Kurdistan zeigen, dass dieser Krieg nicht ihr Krieg ist, sondern der Krieg der türkischen herrschenden Klasse. Wenn sich also die Rojava-Revolution weiterentwickelt, Rojava einen international anerkannten Status bekommt und sich die Revolution nach Südkurdistan (Başûr) ausweitet, könnte der türkische Staat Nordkurdistan (Bakûr, im Osten der Staatsgrenzen der sogenannten Türkei) nicht mehr als seine Kolonie besetzen. Der Widerstand von allen Seiten wäre zu groß. Dies ist der Hauptgrund für den türkischen Staat, seine kolonialen Besatzungsangriffe in Rojava und Başûr zu intensivieren. Deshalb plant er seit Monaten eine weitere Bodenoffensive in Rojava, die jederzeit beginnen könnte. Auch wenn der Angriff mit Bodentruppen herausgezögert wird, wird in der Zwischenzeit ein “Krieg niedriger Intensität” mit ständigen Drohnenattacken praktiziert, der die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten und demoralisieren soll.

Gegen diese Angriffe hat sich die revolutionäre kommunistische Bewegung in Rojava (Tevgera Komûnîst a Şoreşger, TKŞ) in ihrem Statement “Wir werden die aggressiven Angriffe mit unserem Widerstand und unserer Organisation besiegen” geäußert.

In ihrem Statement betont TKŞ, dass “der faschistische türkische Staat und seine Söldner ihre Invasionsdrohungen nach den Wahlen in der Türkei verstärkt haben und dutzende von Drohnen- und Artillerieangriffen durchgeführt wurden. Zuvor gab es Aufklärungsflüge von Drohnen in den zur Türkei angrenzenden Städten Nord- und Ostsyriens.Im Zuge der Angriffe gab es Gefallene und Verwundete bei den revolutionären Kräften, und auch zivile Gebiete wurden beschädigt.

Erdoğan kennt keine Grenzen in seiner Feindseligkeit gegenüber den Kurd:innen. Er will ein Hindernis für das befreite Leben der Menschen vor Ort sein. Er will das Selbstverwaltungssystem und die Errungenschaften der Revolution beseitigen, und wir müssen uns gegen seine Unterdrückungspolitik wehren. Wir akzeptieren die Invasion und die Drohungen des faschistischen türkischen Staates nicht. Diese Angriffe müssen sofort beendet werden. Der türkische Staat und seine Söldner müssen sich sofort aus den besetzten Gebieten zurückziehen.

Die Besatzung zielt in erster Linie darauf ab, die Selbstverwaltung zu beseitigen, die für die Einheit der Kurd:innen, Araber:innen und aller anderen Menschen in der Region verantwortlich ist. Wir rufen unser Volk auf, sich gegen diese Angriffe zu erheben und sich um die revolutionären Kräfte zu scharen.

Wir werden die Invasoren durch verstärkten Widerstand, Selbstverteidigung und die Organisierung des Volkes besiegen. Wir werden niemals klein beigeben. Der Sieg wird dem widerständigen Volk gehören.“

Syrien war vor kurzem auch wieder in den Nachrichten, als am 20. und 21. Juni das Astana-Treffen in Kasachstan stattgefunden hat. Bei dem „International Meeting on Syria“, wo Russland, Türkei und Iran gemeinsam einen „Friedensprozess für Syrien“ besprechen. Während des Treffens fanden auch wieder Angriffe des faschistischen türkischen Staates auf Kurdistan zusammen. Diese Angriffe reichten von weit im Westen Rojavas in Şehba über Qamişlo bis nach Slemanî in Südkurdistan. Während dieser Angriffswelle wurden Zivilist:innen, Bedienstete der Autonomieverwaltung und Soldaten der syrischen Armee getötet. Bei einem früheren Angriff wurden Soldat:innen der Streitkräfte Rojavas (Syrian Democratic Forces, SDF) getötet, als sie Zivilist:innen retten wollten, die bei einem Angriff auf Şehba verwundet wurden. Das Erdogan-Regime verwendet diese Angriffe als Mittel der Einschüchterung. Ihre Botschaft: sie lehnen die Bedingungen des syrischen Assad-Regimes ab, die türkische Besatzung syrischer Gebiete zu beenden.

Das Assad-Regime hat weder gegen die Tötung seiner Soldaten noch gegen das Massaker an den Vertreter:innen der Selbstverwaltung Einspruch erhoben. Es hat auch weder einen konkreten Zeitplan für den Abzug der türkischen Besatzungstruppen erhalten, den es erwartet hatte, noch eine Vereinbarung, wonach die syrische Armee Zugang zur berüchtigten M4-Autobahn erhalten sollte. In den Tagen nach dem Gipfeltreffen hat sich nichts geändert, das türkische Regime zeigt, dass es zugestimmte Abmachungen nicht einhält. Der behauptete Respekt für die territoriale Integrität Syriens ist leeres Diplomatengeschwätz. Erdogans neue Einschüchterungsversuche reichen bereits aus, um die Verlogenheit dieser diplomatischen Gespräche zu beweisen. Er hat erklärt, dass er seine Invasion nicht zurückziehen wird.

Es scheint so, als ob das Putin-Regime – Assads bester Verbündeter und Auftraggeber – das Astana-Treffen nutzte, um daran zu erinnern, dass es seinen militärischen Einfluss in Syrien auch inmitten des Ukrainekriegs nicht aufgeben wird. Dies gilt auch als eine diplomatische Machtdemonstration gegenüber den USA.

Das Erdogan-Regime hat durchgesetzt, dass in dem Pressestatement die Autonomieverwaltung als „illegal“ charakterisiert wird, obwohl das Assad-Regime die Autonomieverwaltung zumindest als Gesprächspartner betrachtet. In diesem Punkt konnte keine Einigung erzielt werden. Dies wird in der Legitimierung neuer Angriffe gegen die zivile demokratische Bevölkerung wahrscheinlich eine Rolle spielen. Der Faschismus der türkischen Besatzung hat allen von Idlib bis Serê Kaniyê seine eigene Illegalität aufgezwungen, indem er Panzer, Bomber und jihadistische Banden einsetzt. Damit verstößt er nicht nur gegen bürgerliches internationales Recht, sondern auch gegen Syriens territoriale Integrität. Dies wird ausgeweitet durch kolonialistische Verwalter, die der Bevölkerung türkische Bildung aufzwängen, sie assimilieren, die Bevölkerung durch Zwangsumsiedelungen austauschen und die natürlichen Ressourcen der besetzten Gebiete plündern.

In Syrien schafft das Erdogan-Regime die Voraussetzungen dafür, dass seinem Einflussbereich im Namen einer politischen Lösung bewaffnete Gewalt aufgezwungen werden kann.

Wenn die Erklärung von Astana auf die demokratische Vertretung der Autonomieverwaltung abzielt und gleichzeitig die Unrechtmäßigkeit der kolonialen Besatzung duldet, beweist sie einmal mehr, dass das Spiel der imperialistischen Staaten den Völkern Syriens keine Souveränität und Demokratie bringen wird.

Die US-amerikanischen und russischen Imperialisten, die es dem Faschisten Erdoğan erlauben, Syrien mit Drohnen, Panzern und Raketen zu bombardieren, die den Luftraum nicht schließen, bieten das syrische Volk und die demokratische Autonomieverwaltung als Opfer im Spiel der Machtsicherung in der Rivalität an. Ist dies ein grünes Licht für Erdoğans Faschismus, seine Besatzung auszuweiten? Das werden wir in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten sehen.

Aber es ist wieder einmal offensichtlich, dass die imperialistische Rivalität, selbst wenn sie als indirekter Faktor für den Schutz der Errungenschaften der Revolution genutzt wird, den regionalen reaktionären Staaten immer noch mehr nützen wird. Und es weist auf die absolute Notwendigkeit der Solidarität der demokratischen und sozialistischen Kräfte der Völker der Region hin, um die Errungenschaften der Revolution von Rojava zu schützen. Auch das iranische Mullah-Regime kommt dem Erdogan-Faschismus zu Hilfe, sowohl durch die Unterzeichnung der Erklärung als auch durch die Intensivierung seiner Angriffe auf die YRK (Guerilla-Kräfte in Ostkurdistan/Iran), mit der es einen Waffenstillstand geschlossen hatte. Es scheint, dass die Kolonialisten in Kurdistan versuchen, ihr Kriegsbündnis zu stärken. Dennoch geraten Imperialisten und regionale Kolonialmächte unweigerlich in Interessenkonflikte. In Syrien zum Beispiel wird die Ausweitung der kolonialen Besatzung durch die Türkei von den Staaten der Arabischen Liga aus eigenem Interesse bekämpft. Es sind jedoch die demokratischen und sozialistischen Kräfte der Völker, die die autonome Verwaltung und die Errungenschaften der Revolution schützen müssen. Die internationale Solidarität gegen die Kriegsangriffe des zionistischen Israel hat dem palästinensischen Volk Kraft gegeben. Jetzt wird die internationale Solidarität mit der Autonomieverwaltung und den Errungenschaften der Revolution den Völkern Nordostsyriens eine ähnliche Kraft verleihen.

https://young-struggle.org

Weiterlesen

zum Thema Staat & Herrschaft:

zum Thema Anti-Kolonialismus:

zum Thema Revolution: