Gerechtigkeit für Nahel und alle anderen - Die Hintergründe

veröffentlicht am 9. Juli 2023

Seit den 1960er Jahren unterdrückt der französische Staat Menschen, die aus seinen ehemaligen Kolonien in Nord- und Westafrika einwandern und beutet sie aus.
Sie kamen, um zu arbeiten und erhofften sich ein besseres Leben als in der Peripherie.
Der französische Staat, die weiße Gesellschaft hatte niemals vor, dass die Menschen auf Dauer bleiben und sich ein Leben Frankreich aufbauen sollten.
Sie lebten zunächst in Slums und später in Projekten "Cités" genannt, am Rande großer städtischer Zentren. Diese Gebiete sind heute als ,,Banlieues" bekannt.

Als klar wurde, dass diese überwiegend schwarzen und arabischen Migranten zu einem festen Bestandteil der Bevölkerung wurden, betrachtete der französische Staat diese Menschen schnell als Problem. Alle politischen Parteien, welche an die Macht kamen, verfolgten eine Ausnahmepolitik. Das perfide Ziel war, eine "Rassengrenze" zu errichten und diese Menschen zu einer Kategorie von Menschen zu erklären, die ständigen Kontrollen, Repressionen ausgesetzt sind und als Bedrohung für die soziale Ordnung beschrieben werden. Einwandererviertel von Arbeitern wurden hauptsächlich durch Polizei verwaltet.
Das ist auch so geblieben. Die Polizei und die Präfekturen sind fast ausschließlich für Verwaltung und Kontrolle des Alltags in den "Cités" verantwortlich, die zu Experimentierfeldern der für Frankreichs eigene Art von Polizeiarbeit geworden sind.

Die Bewohner erleben täglich Demütigungen, Einschüchterungen und Vergeltungsmaßnahmen durch die Polizei. Jugendliche mit Migrationshintergrund
werden nicht nur vom politischen Leben ausgeschlossen, sondern ständig kontrolliert, beleidigt und verhaftet. So ist der Mord an Nahel ein weiteres trauriges Beispiel für diese strukturell rassistische Politik und Polizeigewalt. Denn es war noch viel schlimmer, als die Berichte über den Mord zu Anfang durch die Netze und Medien gingen. Inzwischen ist mehr bekannt, weil ein Freund und Mitfahrer im Auto von Nahel sein Schweigen gebrochen hat. Als die Motorradpolizisten Nahel und seinen Freund anhielten, kam es unmittelbar zu Polizeigewalt. Ein Polizist sagte:" Bewegen sie sich nicht, sonst schieße ich." Dann begannen die Polizisten damit, Nahel durch das Fenster zu schlagen und einer traf ihn dabei mit dem Kolben seiner Waffe am Kopf. Durch diese Schläge löste Nahel versehentlich die Bremse und trat aufs Gaspedal, woraufhin einer der Polizisten ihn erschoss. Das wurde von seinem Mitfahrer, welcher zunächst aus Angst wegrannte, bestätigt und ist auch durch Filmmaterial inzwischen belegt.

Am Marsch, zu dem die Mutter am 29. Juni 2023 aufrief, nahmen ca. 15000 Menschen teil. Auf einem der Schilder stand:" Wie viele Nahels wurden nicht gefilmt?" Als der Marsch die Präfektur von Nanterre erreichte, griffen die Bullenschweine die friedliche Demonstration mit Tränengas an. Das entzündete eine neue Welle von Zusammenstößen mit der Polizei, die sich bis in das schicke Geschäftsviertel La Défense ausbreiteten. Es ist unmöglich, alle Bezirke und Städte zu nennen, welche sich am Abend des 29. Juni 2023 der Bewegung angeschlossen haben, denn es waren so viele. Die Ankündigung der Regierung, den Mord zu untersuchen, beeindruckte die Menschen nicht.

In dieser dritten Nacht brannten Autos, Motorräder, öffentliche Gebäude, darunter lokale und nationale Polizeistationen, Schulen, Stadtbibliotheken, Präfekturen und Rathäuser. Straßenmobiliar wurde ebenso zerstört, wie Supermärkte geplündert und Baustellen abgefackelt wurden. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wurden Feuerwerkskörper verwendet. Die haben sich in den letzten Jahren zur Selbstverteidigungswaffe der jungen Menschen entwickelt, die täglich Schikanen und Willkür ausgesetzt sind.

Der landesweite Aufstand kam nicht aus dem Nichts. Spontan ist er höchstens, weil er horizontal und unvorhersehbar ist und ständig neue Formen des Widerstands findet, die dem entsprechen, was ihn antreibt. Die Revolte ist die Antwort auf die rassistische Politik, wie der französische Staat die postkoloniale Einwanderungspolitik betreibt. Sie muss im Kontext der langen Geschichte rassistisch motivierter Polizeimorde verstanden werden.
1983 organisierten die Menschen den ,,Marche pour I’Egalité" ( Marsch für Gleichheit) als Reaktion auf eine Serie von Polizeimorden in den Vororten von Lyon und Marseille. In der Stadt Vaulx-en-Velin, einem Symbol staatlicher Polizeigewalt gegen nicht weiße Jugendliche kam es seit 1979 alle zehn Jahre zu Revolten. Die 1995 gegründete ,, Mouvement Immigration Banlieu" kämpfte für, ,,Wahrheit und Gerechtigkeit" für die Familien der Opfer von" Polizeifehlern" (ein Euphemismus, um die Akte extremer Polizeibrutalität zu beschreiben seitens der Behörden). Es war eine autonome, selbstverwaltete Organisation, welche die Diskurse der politisch, etablierten Parteien ablehnte. Im Jahr 2000 wurden sie aus ihren Räumen in Paris vertrieben.
2005 kam es dann zu diesem Aufstand, nachdem im Norden von Paris ( Clichy-sous-Bais) zwei Jugendliche, Zyed Benna und Bouna Traorè von Polizisten ermordet wurden. Sie wurden vorher ebenfalls verfolgt und schikaniert. Wir erinnern an Lamine Ding, ebenfalls 2005 ermordet; Adama Traoré, 2016 ermordet; Theo Luhaka, 2017 von Bullen vergewaltigt; Ibrahima Bah, 2019 von Polizisten getötet.

Es ist jedes Mal dasselbe. Die Bullen begehen einen Mord und lügen dann, um sich zu schützen. Mit viel Glück existiert ein Video, welches als Beweis genommen werden kann oder ein Protest zwingt die Behörden zu Ermittlungen und einem Verfahren. Doch auch in Frankreich führen Gerichtsverhandlungen gegen die Polizei fast nie zu einer Verurteilung. Das Gesetz dient den Interessen des Staates. In der Praxis hat die Polizei freie Hand und rechtliche Immunität. In den letzten Jahren wurde die Polizei immer mehr aufgerüstet. 2017 kam ein Gesetz, dass der Polizei das Recht von Schusswaffeneinsatz erlaubte, wenn Menschen sich einer Maßnahme widersetzen. Die Folge davon ist ein dramatischer Anstieg der Zahl jährlicher Todesopfer durch die Polizei. Die Polizei ist auch in Frankreich von Faschisten unterwandert. Im Falle des französischen Staates haben wir es mit fortgesetzten strukturellen Rassismus zu tun.

Ein Beispiel zeigt, wie der Staat die schützt, welche ihn verteidigen. Ein Sanitäter, der Nahel nach dem Schuss in die Brust behandelte, verriet den Medien den Namen des Polizisten, der geschossen hatte und wurde prompt zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt.

Aufstände sind inzwischen in Frankreich zu einem festen Bestandteil des politischen Ausdrucks geworden. Dieser könnte der bisher radikalste Aufstand sein. Wir werden sehen, wohin die Reise geht und hoffen auf Befreiung.

Sofie

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