Notes of Lesvos – Eine Scheiße jagt die nächste: Pushbacks und das neue Camp

veröffentlicht am 25. Dezember 2022

Ein zweiteiliger Text über die aktuelle Situation auf Lesbos

Teil 1

Grenzen existieren nicht. Genau wie die Dinge, die wir lang und breit diskutieren, die aber niemand je gesehen hat: Gesellschaft, Frankreich, Zeit oder irgendwelche Konzepte. Es gibt Meere, manche beinah unüberquerbar. Es gibt Gebirgspässe, felsige Berge, Seen, deren Nebenflüsse sich im Horizont verlieren; Es gibt auch Wüsten, immer unbewohnt, seltsam unbewohnt; Es gibt Sprachen und Geschichten, Traditionen und Parentallinien und Linien der Freundschaft. Aber es gibt keine Grenzen. Das ist der Grund warum so viel Ausrüstung benötigt wird um ihre nichtexistierende Existenz zu beweisen. Wachtürme, Stacheldrahtzaun, Wachhäuser, Pässe, und Männer in Uniform, sowie Scanner, Drohnen, Sensoren, die Wunder der Infrarot-Technologie und Kameras nur dafür gemacht sind, diese Fiktionen der Pflicht zu überwachen und zu kontrollieren: Die Grenzen.

-Bye Bye Saint Eloi, die 10 Angeklagten der TarnacAffaire

Lesbos ist in den letzten 1,5 Jahren sehr viel ruhiger geworden als die Jahre davor, wo die Insel von Krawallen und Pogromen durchschüttelt wurde und zuvor das menschenunwürdige Camp Moria abgebrannt ist. Im nächsten Camp in Kara Tepe sind nur noch circa 2500 Menschen untergebracht, ein Zehntel von Moria. Somit haben auch die Faschos Ruhe gegeben. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum Lesbos aus den Medien verschwunden ist.
Nichtsdestotrotz sind Menschen hier und machen weiter die Arbeit die anfällt, wenn man People on the Move (ich nutze im weiteren Text Migrant*innen, um eine deutsche Entsprechung für migrants zu verwenden, was teilweise eine Selbstbezeichnung ist) unterstützen will: Rechtshilfe, Wohnungssuche, medizische Hilfe, Lebensmittel und andere materielle Grundbedürfnisse, sozialer und emotionaler Support und Transport.
Dieser Text entsteht nicht nur aus dem Bedürfnis heraus, wieder einmal von einem Ort der Grenzpolitik Europas zu berichten und Menschen upzudaten, damit Solidarität aufrechterhalten wird, sondern auch weil auf Lesbos ein neues Camp gebaut wird und somit eine negative Veränderung für alle Beteiligten passiert, die hier alle etwas beunruhigt und frustriert.
Ein weiteres Thema sind die Pushbacks die natürlich nie aufgehört haben, sondern normale und alltägliche Praxis der griechischen Küstenwache und Frontex geworden sind. Im ersten Teil, wird diese grausame Praxis genauer beschrieben, wie sie hier auf und um die Insel stattfindet. Es wird um Gewalt und Mord gehen.
Im zweiten Teil sind Vermutungen und das vorhandene Wissen über das neue Camp festgehalten, sodass schon frühzeitig informiert werden kann und Leute sich organisieren. Wer sich fragt, was man denn woanders als auf Lesbos selbst gegen die Scheiße hier tun kann, merke sich bestimmte Firmennamen (die ihre Sitze natürlich in den westeuropäischen Ländern haben) und/oder nehme die Infos hier vom Ort des Geschehens, um sie zu verbreiten, damit es in Europa nicht heißen kann: „Wir haben es nicht gewusst.“

Fast jeden Tag kommen Menschen auf der Insel an, durchschnittlich 50 bis 100 pro Woche (nach neuen Zahlen der UNHCR). Fast jeden Tag, wenn wir die Boote der griechischen Küstenwache (Hellenic Coast Guard – HCG) aus dem Hafen der 30 000 Einwohner*innen-Stadt Mitilini auslaufen sehen, wissen wir ungefähr was sie jetzt tun werden. Wir sehen Europa bei der Arbeit. Sie werden Menschen, die sich meistens zu Dutzenden auf Schlauchbooten auf den nationalen Gewässern (zwischen Lesbos und dem türkischen Festland gibt es nur nationale Gewässer, da diese immer bis zu 12 Seemeilen vom Festland entfernt als „national“ gelten) bewegen, „zurückpushen“. Ein Pushback gehört zu den Staatsmaßnahmen, die Menschen zurück über die Grenze zwingen unter Missachtung ihrer individuellen Umstände und ihr Recht auf Asyl.
Pushbacks sind schon viele Jahre Praxis, galten sie jedoch als Ausnahmen. In den Jahren der sogenannten „Flüchtlingskrise“ hat die HCG hauptsächlich Menschen aus dem Wasser gerettet und sie an Land und ins Camp gebracht von wo aus der Asylantrag gestellt werden kann.
Seit in Griechenland die New Democracy Regierung 2019 an die Macht kam und einer Agenda der „geschlossenen Grenzen“ folgte, hat sich die Lage drastisch verändert. Im Frühling 2020 bezeichnete sie Migrant*innen als „Bedrohung“, eine neue „Krise“ wurde heraufbeschworen und organisierte Faschist*innen halfen dem Staat bei der Arbeit, indem sie demonstrierende Migrant*innen angriffen und teilweise schwer verletzten. Das waren die Pogrome des Frühlings 2020, welche Folge einer erstarkenden extremen Rechten in Griechenland und speziell auf Lesbos als Brennpunkt waren. Für die Regierung sind die neuen Camps, von denen im zweiten Teil die Rede sein wird, auch „detention center“ genannt, nur im Einhergehen mit einem starken Rückgang der Einwanderung, bzw. einer drastischen Reduzierung der Migrant*innen möglich. Dafür brauchen sie die grausame Praxis von Pushbacks, Mord und Kriminalisierung von sowohl den einreisenden als auch solidarischen Menschen. Pushbacks können sehr unterschiedlich ablaufen und es gibt keine erkennbaren Muster, keine Gründe warum sie in manchen Fällen so und in anderen anders ablaufen. 2015 war es gängig, dass die HCG ganz nah an den Schlauchbooten Manöver machten, die hohe Wellen erzeugten, sodass die Boote zurück Richtung Türkei trieben mit der Gefahr, dass sie kentern oder Menschen über Bord fallen könnten. Die starken Veränderungen traten aber jenen Frühling 2020 auf.
Da gibt es sowohl Pushbacks auf dem Wasser als auch am Land. Bei ersteren, versuchen die Coast Guards die Motoren der kleinen Boote mit einem langen Stab oder mit den eigenen Händen zu zerstören oder ins Wasser zu werfen, um dann das Boot auf dem offenen Meer treibend zurückzulassen. Als wäre das nicht pervers genug, werden Menschen teilweise auf unbewohnten Inseln abgesetzt, gefoltert und dort sich selbst überlassen. Überlebende erzählen davon, dass sie tagelang ohne Essen und Trinken auskommen und Meerwasser trinken mussten. Eine Situation zu überleben, in der man auf offenem Meer (viele der Menschen können nicht schwimmen und sitzen in aufblasbaren Booten mit nicht ausreichenden Schwimmwesten) von Männern in Uniform mit einem spitzen langen Stab angegriffen zu werden, kann schwere traumatische Folgen haben.
Brutal sind außerdem die Pushbacks am Land. Menschen kommen auf der Insel an und müssen zunächst durch die Wälder im Landesinneren zum Camp kommen (haben sie es einmal dahin geschafft, sind sie zwar vor Pushbacks sicher aber da gehen die nächsten Strapazen los). Wenn sie sich nicht extrem gut verstecken, werden sie von der HCG (mithilfe von Frontex) gefunden. Dann springen aus einem schwarzen Van ohne Nummernschilder oder Symbole eine Gruppe vermummter Männer raus und nehmen die Menschen fest. Sie durchsuchen sie bis auf die Haut, nehmen ihnen Geld, Handys und Wertsachen ab und bringen sie an Orte, die sie als „Quarantäne“ bezeichnen. Dort warten die Menschen oft tagelang, werden geschlagen und verprügelt. Dann werden sie in Handschellen mitgenommen und entweder in ein Boot gesetzt und in türkischem Gewässer ausgesetzt (wo sie von der türkischen Küstenwache gerettet werden) oder direkt ins Wasser geworfen. Wir rechnen immer damit, am Strand einen der Körper zu finden.
Diese Infos sind von Überlebenden erzählt und in seltenen Fällen noch auf Video oder Foto festgehalten, denn die allermeisten Handys werden ja abgenommen. Der Staat versucht also systematisch zu vertuschen, dass Pushbacks passieren, er negiert sie öffentlich obwohl sie zum Haupttool geworden sind, um die Migration zu „managen“.
Für alle Leser*innen, die noch an den Rechtsstaat glauben: Diese Vermummten Männer und die Vans: Das ist kein Action-Film, das sind Staatsverbrechen. In einem Video eines anonymen Menschen, der Pushbacks-Täter ist, erfährt man, dass Menschen, denen viele Jahre Gefängnis drohen, scheinbar auch manchmal die Wahl gelassen wird: lebenslang Knast oder dem Staat beim morden helfen. Es zeigt sich also in einer absurden Perversion wie die Staatsmacht sich zu helfen weiß, wenn sie menschliche Ressourcen zur Exekution braucht. Ihr fragt euch wahrscheinlich, wie es möglich ist, dass eine Praxis, die ganz klar internationale und nationale Gesetze bricht, systematisch angewandt werden kann? Einige von vielen Gesetzen, die da gebrochen werden sind das Recht auf Unversehrtheit, Schutz vor Folter und natürlich das Recht auf Asyl.
Mögliche Antworten könnten sein, dass es für einen Prozess den Willen der Betroffenen braucht. Das kann Risiken nach sich ziehen, da sie noch einmal versuchen würden nach Griechenland zu kommen und es Auswirkungen auf den Asylantrag haben kann. Außerdem muss die Klage innerhalb von 3 Monaten in lokalen Gerichten eingereicht werden, was unmöglich ist, angesichts dessen, dass die Beweissammlung schwer und langwierig ist. Zwei Prozesse wurden vom Europäischen Gericht der Menschenrechte abgelehnt, da den Menschen vorgeworfen wurde, beim illegalen überschreiten der Grenze selbst straffällig geworden zu sein.
Nicht nur, dass man diese Schweine kaum belangen kann, wird das ganze auch noch kräftig von der EU finanziert: Für 2021 bis 2027 ist ein Budget von 43 Milliarden Euro vorgesehen (das meiste geht an European Defense Fund, Asylum and Migration Fund, Integraded Border Management Fund und ironischerweise an die European Peace Facility). Frontex ist natürlich auch ganz vorne mit dabei und bekommt zurzeit eine satte Förderung in Höhe von 5,6 Mrd Euro. Mit dieser Kohle wird Militärrüstung und Überwachungstechnologie wie Drohnen, Satellitenkameras, Zeppeline, Boote, Waffen und nicht zu vergessen ihr neues Headquarter in Warschau finanziert. Außerdem gibt die EU eine Milliarde pro Jahr an die Türkei für Grenzschutz und beginnt nun das ganze auszuweiten und anderen Grenzländern, wie z.B. Marokko, Tunesien, Lybien, Ägypten 4 Mrd zu bieten.
Waffenproduzenten, Lobbygruppen und Beratungsfirmen sind schwer in der repressiven Grenzpolitik involviert und machen Profit. Ein gutes Beispiel ist die McKinsey Co., die den EU-Türkei Deal entworfen hat (und dabei 992,000 Eier kassiert) und weltweit in Projekte involviert ist, die mit Überwachung der Grenzen zu tun haben.
Rüstungskonzerne wie Airbus (Firmensitz in Bremen) und Gemalto entwickeln die Technologien dafür und die ThalesGroup designt die Grenzkontrollsysteme der EU.
Ein Beispiel für die enge Verknüpfung zwischen Verursachung von Flucht und der extremen Abwehr gegen Fliehende, ist die DamenGroup. Das niederländische Unternehmen produziert Militärschiffe, unter anderem das Hellenic Coast Guard Flagship am Hafen von Mitilini. Es profitiert aber auch von der Herstellung großer Fischerei-Schiffe, die an den Küsten Westafrikas den Atlantik maßlos überfischen und vertreibt damit Millionen Menschen, die von Fischerei lebten. Auf der Suche nach einem besseren Leben, werden diese Menschen dann von einem Boot ein und derselben Firma, die ihnen ihre Lebensgrundlage genommen hat, brutal zurückgepusht.

All die beschriebenen Situationen und Infos, sind nichts Neues. Menschen in Europa wissen von den Toden im Mittelmeer und der Ägäis. Die meisten Menschen überkommt eine tiefe Ohnmacht, selbst uns hier auf der Insel. Da ich diesen Text aber nicht mit Resignation enden lassen will, rufe ich zu Kreativität auf. Aktionen gegen besagte Firmen, Demos gegen Pushbacks und Frontex oder auch einfach Geldspenden an autonome Organisationen hier vor Ort können einiges bewirken. Denn wir sind zwar überall noch zu wenige, arbeiten aber hart daran, dass der Aufschrei größer wird bis die Autoritäten sich nicht mehr trauen, zu negieren. Über die grausame Grenzpolitik Europas zu sprechen, genauso wie über strukturellen Rassismus, Klimawandel und Machtspielchen der Politik kann nie schaden und die ein oder andere zum handeln motivieren. Auch wenns am Weihnachtstisch mit dem veganen Gänsebraten sein muss, klärt auf wo ihr nur könnt!

Teil 2 über das neue Camp auf Lesbos folgt in Kürze.

!!! PUSHBACKS = MURDER !!!

FIGHT BORDERS EVERYWHERE

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