Senegal: Versöhnung oder Verhöhnung? Das Amnestiegesetz der Regierung Sall

veröffentlicht am 7. März 2024

Westafrika - Mehr als 1300 willkürlich Verhaftete, unzählige Verwunderte und Gefolterte sowie mindestens 60 Ermordete seit 2021. All das soll ohne Aufklärung bleiben? Wenn es nach Macky Sall und seinem Gefolge geht, dann ja. Sie nennen das einen Prozess der "Versöhnung", damit die Unruhen im Senegal ein Ende haben. Doch in Wirklichkeit gießen sie damit noch mehr Öl ins sprichwörtliche Feuer. Und das aus reinem Machtrausch, wie es den Anschein erweckt.

Vorneweg: Absage der Wahlen und "nationaler Dialog"

Im Senegal hätten am 25. Februar 2024 Wahlen statt finden sollen. Doch der scheidende Präsident Macky Sall sagte diese am 3. Februar, dem Vorabend des Beginns zum Wahlkampf, kurzerhand mittels Verordnung ab. Das Parlament setzte einen neuen Wahltermin am 15. Dezember fest. Der Verfassungsrat erklärte beides für verfassungswidrig und forderte den Präsidenten* auf, so bald wie möglich einen neuen Wahltermin festzulegen. Dieser sagte zu, den Vorgaben des Verfassungsrates zu folgen, hielt aber vorher noch einen "nationalen Dialog" ab, der von der Opposition und großen Teilen der Zivilgesellschaft boykottiert wurde.

Der Wunsch fast aller Kanditat*innen zu den Präsident*innewahlen, von Opposition und Zivilgesellschaft ist klar: Anstatt einen scheinheiligen Dialog zu veranstalten, sollte es so schnell wie möglich Wahlen geben, auf jeden Fall noch vor dem 2. April, dem Ende der Amtszeit von Sall. Doch derzeit sieht es nicht danach aus.

Zu Salls Dialog kamen neben seinen Anänger*innen laut Dakar Matin (28. Feb 2024) vor allem "’enteignete’ Phantomkandidat*innen, Gewerkschaftsvertreter*innen, ruinierte Industrielle, pleite Geschäftsleute und gescheiterte ehemalige Minister*innen". Es waren aber auch "’religiöse’ Führer* und ’Couturiers’, wandernde Sänger*innen, Häuptlinge* entvölkerter Dörfer und andere Aktivist*innen der Republik" anwesend. Viele von ihnen kamen dem Bericht zu Folge mit Briefumschlägen, die mit der Bitte um eine Audienz oder sonstigen Wünschen an Präsident* Macky Sall gefüllt waren.

Die Anwesenden machten es möglich, dass Sall seine "Versprechen" einhalten konnte. Das umstrittene Amnestiegesetz, um das es in diesem Artikel geht, und der Vorschlag eines neuen Wahltermines. Allerdings nicht vor dem 2. April, sondern erst am 2. Juni. Und als Draufgabe den Wunsch, dass Sall bis zur Ernennung einer*s Nachfolger*in im Amt bleiben soll. Darauf wird hier nicht weiter eingegangen.

Zurück zum Amnestiegesetz

Amnestie? Für wen? Für die Mörder*innen und Folter*innen während der brutalen Niederschlagung von Protesten, der Verfolgung von Opposition und Medien in den Jahren 2021 bis 2024? Das Amnstiegesetz von Macky Sall und seinem Gefolge will genau das. Dafür werden Leute, die seit 2021 grundlos und ohne Anklage im Gefängnis saßen und teilweise gefoltert wurden, nun nach und nach freigelassen. Die Amnestie bedeutet, dass es für sie weder eine Entschädigung noch eine Verfolgung der Täter*innen geben wird.

Von Amnestie betroffen sind dem Gesetzestentwurf zufolge "alle Handlungen, die wahrscheinlich als Straftat oder Strafvollzug eingestuft werden und zwischen dem 1. Februar 2021 und dem 25. Februar 2024 sowohl im Senegal als auch im Ausland begangen wurden und sich auf Demonstrationen beziehen oder politische Motive haben, einschließlich derjenigen, die von Kommunikationsmedien begangen werden, unabhängig davon, ob ihre Täter vor Gericht gestellt wurden oder nicht". (Dakar Matin, 04. Mar 2024)

"Die Amnestie beinhaltet, ohne jemals zu einer Wiedergutmachung führen zu können, den vollständigen Erlass aller Haupt-, Neben- und Zusatzstrafen sowie das Verschwinden aller Verwirkungen, Ausschlüsse, Behinderungen und Entrechtungen, die mit der Strafe verbunden sind", so das Dokument laut Nachrichtenagentur APS (04. Mar 2024).

Macky Sall nennt dies Aussöhnung bzw. Versöhnung und feiert es als große Tat, als Beitrag zum Frieden im Senegal. Das umstrittene Amnestiegesetz soll laut dem umstrittenen Präsidenten* das "politische und soziale Klima" beruhigen, den "nationalen Zusammenhalt" stärken, den "nationalen Dialog" konsolidieren und "bestimmten Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, die volle Teilnahme am demokratischen Leben ermöglichen". In Wirklichkeit ist dieser "Versöhnungsprozess" eine reine Verhöhnung der Gefolterten und Ermordeten, der grundlos Gefangenen und ihrer Freiheit beraubten Leute. Es ist eine Verhöhnung von Demokratie und Menschenrechten. Korrupte Politiker*innen werden ebenso entlastet wie brügelnde, folternde und mordende Angehörige von Polizei, Gendarmerie und Militär.

Das mehr als umstrittene Amnestiegesetz

Der Gesetzentwurf zur Verabschiedung einer Generalamnestie für politische Sachverhalte zwischen Februar 2021 und Februar 2024 wurde am 28. Februar vom Minister*innenrat verabschiedet und dem Präsidenten* der Nationalversammlung, Amadou Mame Diop, weiter geleitet. Dieser berief am Montag Nachmittag, 4. März die "Konferenz der Präsident*innen" (der Nationalversammlung) ein, um über den "Arbeitskalender für die Prüfung anhängiger Fälle" zu beraten.

Laut der senegalesischen Nachrichtenagentur APS werden die Mitglieder des Ausschusses für Gesetze, Dezentralisierung, Arbeit und Menschenrechte der Nationalversammlung am Dienstag den Gesetzesentwurf prüfen. Dieser könnte schon am Mittwoch bei einer Plenarsitzung der Nationalversammlung den Abgeordneten zur Genehmigung vorgelegt werden.

Das Gesetz wird via Dringlichkeitsantrag durchs Parlament gebracht. Die Dringlichkeit für die Regierung besteht in erster Linie darin, dass sie ihre eigene und die Haut ihrer Scherg*innen retten wollen, indem sie eine Aufklärung der staatlichen Willkür verhindern - inklusive unzähliger unbegründeter Verhaftungen, Folterungen und Morde.

Das Vorgehen gegen Aktivist*innen, die Verfolgung von Opposition und Journalist*innen, das Agieren der Schlägertrupps von Macky Sall, die in ziviler Kleidung auf Demonstrant*innen losgingen und sie teilweise massiv misshandelten, all das soll nach dem Willen von Sall so schnell wie möglich vergessen werden. Wie das funktionieren soll, das fragen sich viele. Wie kann es ohne Aufklärung Gerechtigkeit geben? Was sollen sich Leute nach drei Jahren grundloser Haft ohne Gerichtsverfahren, in denen sie teilweise gefoltert wurden, nach ihrer Freilassung erwarten? Eine Aufklärung des Geschehenen, oder nicht?

Was werden sich die Scherg*innen des diktierenden Herrschers* denken, nachdem sie einen quais-Freispruch erhalten? Werden sie ihr Verhalten ändern oder sich ins Fäustchen lachen und bei nächster Gelegenheit wieder Schlagstock und Knarre sprechen lassen? Dass ihr brutales Agieren durch das umstrittene Amnestiegesetz nachträglich für Rechtens erklärt wird, muss wie eine Bestätigung klingen - und als Auftrag für die Zukunft: Macht nur weiter so, es kann euch eh nichts geschehen. Ihr habt Rückendeckung durch die Herrschenden.

Nein zur Generalamnestie

Y’en a Marre ("Wir haben die Schnauze voll") wurde 2011 von Rapper*innen und Journalist*innen aus Protest gegen eine unfähige Regierung gegründet. Ziel war unter anderem die Verhinderung einer dritten Amtszeit von Macky Salls Vorgänger Abdulai Wade und die Registrierung Jugendlicher für die Wahlen. Dazu ist anzumerken, dass im Senegal, wie in mehreren westafrikanischen Ländern, Staatsbürger*innen nicht automatisch wahlberechtigt sind. Sie müssen sich erst registrieren, um ins Wahlregister eingetragen zu werden und eine Wahlkarte zu erhalten, die bei den Wahlen vorgelegt werden muss.

Seither meldet sich die Y’En A Marre-Bewegung immer wieder zu Wort und fordert u.a. eine Landreform im Interesse der ärmeren Leute am Land. Am 1. März hielt sie gemeinsam mit weiteren Plattformen wie F24 eine Pressekonferenz zum Entwurf eines Amnestiegesetzes ab. Aliou Sané, der Koordinator von Y’En A Marre, vertrat laut Walfnet (01. Mar 2024) die Meinung, dass dieses Gesetz von der Bevölkerung größtenteils abgelehnt wird, insbesondere von den Familien der Opfer der Misshandlungen von 2021 bis 2024 sowie von politischen Inhaftierten.

Eine*r der Koordinator*innen von F24, einem Zusammenschluss verschiedener Organisationen der Zivilgesellschaft, die schon mehrere Demonstrationen organisierten, ergänzte: "Kein Amnestiegesetz kann von internationalen Verbrechen freisprechen, einschließlich Folter, grausamer und erniedrigender Behandlung, selbst wenn sie gesetzlich verjährt sind." Eine Politik, die darin besteht, ehrliche Bürger*innen unter unmenschlichen Bedingungen zu knebeln und einzusperren wird ebenso verurteilt wie das Amnestiegesetz. Es bedeutet u.a., dass keine Ermittlungen zur Aufzuklärung des Todes dutzender Bürger*innen eingeleitet werden. Laut Rapper Mad Sick "will Macky Sall seine Lieben schützen, indem er Gesetze und die Demokratie torpediert". Die Abgeordneten wurden dazu aufgerufen, ihre Funktion als Vertreter*innen der Bevölkerung wahrzunehmen und gegen dieses Gesetz zu stimmen.

Es sind durchaus unterschiedliche Interessen, die zur Ablehnung des Amnestiegesetzes führen. Die Unacois Jappo fordert Entschädigung für Investor*innen, die während der Proteste zwischen 2021 und 2024 ihr Eigentum verloren haben. "Tankstellen und Geschäfte wurden geplündert und niedergebrannt. Das sind enorme Verluste, die auf Hunderte von Millionen geschätzt werden." Der Staat wird aufgefordert, eine Bestandsaufnahme zu machen, damit diejenigen, die von den Demonstrationen betroffen sind, entschädigt werden. Das Amnestiegesetz wird abgelehnt, weil es Entschädigungen für Investor*innen gefährde. (Dakar Matin, 04. Mar 2024)

Rufe nach Aufklärung der Polizeibrutalität

Fast alle Oppositionsparteien im Senegal, zivilgesellschaftliche Organistionen und Menschenrechtsgruppen fordern spätestens seit Frühjahr 2021(!) Aufklärung. Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sind über die Vorgänge im Senegal besorgt. Sie forderten die Regierung in den vergangenen Jahren mehrfach auf, unabhängige Ermittlungen zu den Morden, zur Polizeibrutalität gegen Demonstrierende, den Einschüchterungen von Opposition und Zivilgesellschaft sowie zur Behinderungen der Presse einzuleiten.

Im Vorfeld der Wahlen berichtete Human Rights Watch ausführlich über die massive Repression insbesondere gegen die Opposition (Pre-Election Crackdown. Guarantee Fundamental Freedoms, End Arbitrary Detentions and Prosecutions, hrw.org, 22. Jan 2024). Es wird festgehalten, dass Macky Sall zwar faire und freie Wahlen versprochen hat, gleichzeitig jedoch in den vergangenen drei Jahren die Gefängnisse mit hunderten Oppositionellen füllte. "Die Behörden sollten die Gewalt der Sicherheitskräfte wirksam untersuchen, willkürlich Inhaftierte freilassen und das Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung garantieren."

Amnesty International bezeichnet das geplante Amnestiegesetz als Affront gegen die Opfer und deren Familien sowie einen beunruhigenden Bonus für Straflosigkeit. Seine Verabschiedung durch das Parlament würde ein Versäumnis des senegalesischen Staates darstellen, seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung für die Familien von mehr als 60 Menschen nachzukommen, die während der Proteste getötet wurden, von denen fünfzehn Anzeige erstattet haben und immer noch auf Gerechtigkeit warten.

Seydi Gassama, Geschäftsführer von Amnesty International im Senegal wies in einem Bericht nach den Protesten gegen die Wahlverschiebung auf die Systematik der Polizeibrutalität hin: "Dieses brutale Vorgehen zeigt, wie weit die Behörden zu gehen bereit sind, um die Menschenrechte und die Medienfreiheit zu unterdrücken. Die senegalesischen Behörden müssen diese Angriffe unverzüglich, gründlich, unabhängig, unparteiisch, transparent und wirksam untersuchen und die mutmaßlichen Verantwortlichen vor Gericht stellen." (amnesty.org, 13. Feb 2024)

Laut einem Bericht von Amnesty International Senegal ist die Verschärfung der Polizeiarbeit auf die Behauptung der Behörden zurückzuführen, dass Proteste eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen und dass sie eine Regierung stürzen können. Deshalb wird versucht, sie durch strenge Gesetze mit willkürlichen Verhaftungen und der Anwendung rechtswidriger Gewalt einzuschränken. Die Sicherheitskräfte verfügen über ein Arsenal an militärischer Ausrüstung (gepanzerte Fahrzeuge, Blendgranaten) und es kommt laufend zum Einsatz weniger tödlicher Waffen (Schlagstöcke, Tränengas, Gummigeschoße). Am stärksten betroffen sind der Menschenrechtsorganisation zu folge marginalisierte Gruppen und Minderheiten.

Sowohl im Rahmen der Ausbidung von Polizeieinheiten zur Niederschlagung von Protesten als auch bei den Mitteln für Ausrüstung ist die EU invoviert. Frankreich und Spanien, aber auch Deutschland und andere EU-Staaten hielten und halten in mehreren westafrikanischen Ländern mit EU-Geldern finanzierte Trainings ab, errichten moderne Polizeistationen, stellen Fahrzeuge zur Verfügung usw.

Eine der Polizeieinheiten, die nachweislich bei der Niederschlagung der Proteste im Senegal eigesetzt wurde, ist GAR-SI, eine spezielle Anti-Terror-Einheit, die mit Mitteln der Europäischen Union geschaffen, ausgerüstet und ausgebildet wurde, wie eine gemeinsame Untersuchung von Al Jazeera und der porCausa Foundation enthüllt.

GAR-SI Einheiten entstanden in mehreren Ländern der Sahelzone. Die erste Einheit im Senegal ist 300 Personen stark und wurde 2017 in der Stadt Kidira an der Grenze zu Mali gegründet. Kosten: mehr als 7 Millionen Euro. Die spezielle Interventionseinheit sollte Senegal vor möglichen Übergriffen bewaffneter Gruppen und grenzüberschreitender Kriminalität schützen und gegen die Bewegungsfreiheit von Migrant*innen vorgehen. Eine zweite, 250 Personen starke GAR-SI Einheit im Senegal wurde nahe der Stadt Saraya an der Grenze zu Guinea and Mali geschaffen. Kosten: ca. 4.5 Millionen Euro. Nicht enthalten in diesen Beträgen sind laufende Kosten und neue Ausrüstung.

Die GAR-SI Einheit wurden teilweise gemeinsame mit anderen Polizeieinheiten eingesetzt, wie dem Überwachungs- und Interventionsgeschwader (ESI) der senegalesischen Gendarmerie, um Operationen für die "innere Sicherheit" durchzuführen. Bei diesen Einsätzen mangelte es an Menschenrechtsgarantien, Befehle für Operationen außerhalb der Grenzgebiete werden informell und mündlich erteilt.

Die Vergebung gehört den Opfern...

In einem Kommentar auf Walfnet (01. Mar 2024) schreibt Aïda Gueye über die Bedeutung von Vergebung: Vorausseztung sei, dass die Täter*innen ihre Schuld eingestehen und die Opfer aufrichtig um Vergebung bittet. Reue und Schuld seien die Grundlage eines Versöhnungsprozesses. Es bedarf einer Aufklärung, um die Wahrheit wiederherzustellen. Damit ist sie nicht alleine. Zahlreiche Stimmen wurden in den vergangenen Tagen laut, die das "Amnestiegesetz" von Macky Sall ablehnen: Es wird genau das Gegenteil von dem erreichen, als das was die Herrschenden vorgeben. Es wird einen Prozess der Aufklärung verhindern und somit einer möglichen "Versöhnung" im Wege stehen.

Die ehemalige Premierministerin Aminata Touré war einst politische Verbündete von Macky Sall. Nun kritisiert sie ihn scharf und vertrat in einem Interview mit dem Radiosender Sudfm die Meinung, dass "Präsident Macky Sall den Wahltermin nicht festlegen will, weil er keine Übergabe an seine*n Nachfolger*in vornehmen will". Sie nahm ebenfalls zum Amnestiegesetz und dessen Bedeutung zur angeblichen "Versöhnung" im Senegal Stellung:

Vorrangig sei die sofortige und bedingungslose Freilassung von politischen Gefangenen, die von vornherein nie im Gefängnis hätten sein dürfen. Dies ist nicht als Amnestie zu verstehen, weil diese Gefangenen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit oder ihrer Zugehörigkeit zur Opposition zumeist willkürlich und grundlos ihrer Freiheit beraubt wurden.

Aminata Touré fragt, für wen es ein Amnestiegesetz braucht: "Sind es die Leute, die wir gesehen haben, die auf junge Menschen schießen? (...) Auf jeden Fall bin ich nicht dafür, denjenigen eine Amnestie zu gewähren, die absichtlich Kinder erschossen haben, Jugendliche, die in der Blüte ihres Lebens ihr Leben verloren haben. Ich bin gegen Straflosigkeit."

Der Wunsch nach Straflosigkeit dürfte neben Machtrausch einer der Gründe hinter der Wahlverschiebung mitsamt ihrer Folgen sein. Nicht für die Verbrechen der vergangenen Jahre verurteilt zu werden, falls doch andere Leute an die Macht kommen, ist ein Motiv der Herrschenden. Sie wollen keine Aufklärung, sie wollen "Versöhnung" und "Vergebung" - und diese mittels Gesetz den Menschen vorschreiben.

Laut Aminata Touré sollte "Versöhnung keine Entschuldigung sein, um Verantwortlichkeiten und Fakten auszulöschen, sondern ein Prozess, der auf Wahrheit und dem Eingeständnis von Fehlverhalten basiert. Die Politik ruft dazu auf, die Beziehungen zwischen den Generationen und das Vertrauen zwischen Jung und Alt wiederherzustellen." Voraussetzungen für Versöhnung seien ein "Verständnis für Verantwortlichkeiten, die Suche nach der Wahrheit und eine Stimme für die Opfer und ihre Angehörigen. (...) Aber bevor wir dahin kommen, müssen wir wissen, wer dafür verantwortlich ist. Und zwar nicht, indem man all das auslöscht, indem man es begräbt. (...) Es sind die Opfer und ihre Eltern, die vergeben, es ist nicht der Staat, der kommt und sagt, wir löschen alles aus und gehen. So funktioniert das nicht. Die Rechtsstaatlichkeit entspricht den Bestrebungen aller Mitglieder der Gesellschaft nach Gerechtigkeit, insbesondere der Opfer." (Dakar Matin, 04. Mar 2024)

Es sind vor allem die Angehörigen der unterschiedlichen Angaben zufolge 60 bis 80 Menschen, die bei den politischen Unruhen der vergangenen drei Jahre getötet wurden, die das Amnestiegesetz vehement ablehnen und sagen, dass es nur der Aufrechterhaltung der Straflosigkeit dient. Ein Verwandter eines am 26. Mai 2023 in Kolda erschossenen betont: "Wir fordern Gerechtigkeit, nicht ein Gesetz, das die Verbrechen und Erinnerungen unserer Lieben auslöscht." (Koldanews, 28. Feb 2024)

Wie geht es weiter?

Neben dem brutalen Vorgehen gegen Proteste kam es zu regelrechten Exekutionen. Der Tod von Baba Khan, 38, Vater einer siebenjährigen Tochter und Rapper mit einer schnell wachsendenen politisierten Anti-Sall Fangemeinde legt dies nahe. Einer ausführlichen Reportage von The Guardian (25. Feb 2024) zu folge sind im Senegal immer mehr Leute untergetaucht und fürchten um ihr Leben.

Angst haben auch Journalist*innen. Angst, ihren Job auszuüben und Misstände aufzuzeigen. Laut einem Artikel von Walfnet (04. Mar 2024) sind fünf Journalist*innen seit vergangenem Jahr wegen ihrer Arbeit inhaftiert. Den Journalist*innen wurden verschiedene Anklagen nach dem Strafgesetzbuch zur Last gelegt, darunter die Verbreitung von Falschnachrichten und die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Werden sie unter Hausarrest gestellt, wird ihnen verboten, über Details der gegen sie erhobenen Vorwürfe zu berichten. Laut dem* Chefredakteur* der Nachrichtenwebsite Dakar Matin geht es darum, "der Presse einen Maulkorb zu verpassen... und Druck auf diejenigen auszuüben, die Widerstand leisten."

Ein Zeichen der Versöhnung ist hier nicht zu erkennen. Gerade im Gegenteil, wie Walfnet berichtet: "Anfang Februar, nachdem Präsident Macky Sall beschlossen hatte, die ursprünglich für Ende des Monats geplanten Wahlen zu verschieben, häuften sich die Angriffe auf die Medien. Dutzende Journalist*innen wurden Opfer von Tränengas, Gewalt und Schikanen durch die senegalesische Polizei, als sie über Proteste gegen die Verschiebung der Wahlen berichteten." Das Committee to Protect Journalists (CPJ) dokumentierte wie mindestens 25 Journalist*innen, die in der Hauptstadt Dakar berichteten, von der Polizei körperlich angegriffen, kurzzeitig inhaftiert, mit Tränengas angegriffen oder schikaniert wurden.

Journalist*innen befinden sich in einer permanente "Spirale" der Angst. Trotz der anhaltenden Unruhen arbeiten sie weiter im Wissen, dass es Aussicht auf Verhaftungen, die Androhung von Gewalt und Zensur gibt. Ibrahima Lissa Faye, Präsident des Verbands der Online-Presseschaffenden APPEL sagte laut Walfnet: "Man kann jederzeit wegen der Verbreitung von Fake News ohne Fake News oder wegen Gefährdung der Staatssicherheit belangt werden: Sammeldelikte, die absolut nichts bedeuten, aber dazu dienen, Journalist*innen mundtot zu machen."

Als Baba Khan am 7. Juni 2023 in Dakar erschossen wurde, war die Situation ernst. Viel deutet darauf hin, dass sie jetzt noch schlimmer ist. Welche Auswirkungen hat ein Amnestiegesetz auf diese untragbare Situation? Nachdem es auf die Vorfälle bis zum 25. Februar 2024 beschränkt ist: Was wird mit eventuellen "Vorfällen" in den kommenden Wochen und Monaten?

Angesichts der Tatsachen, dass nach wie vor kein Wahltermin im Senegal fixiert ist (vom Regierungslager vorgeschlagen ist der 2. Juni) und Macky Salls Amtszeit am 2. April endet, ist es mehr als unklar, was in den kommenden Wochen noch alles geschehen wird. Gibt es nach den Enthaftungen der vergangnenen Wochen bald neue Verhaftungen? Was wird noch alles getan, um Bevölkerung und Opposition einzuschüchtern? Wie viele Unwahrheiten werden verbreitet werden, um vielleicht doch noch einen Sieg der derzeit Herrschenden bei den kommenden Wahlen zu sichern? Was wird geschehen, falls die Opposition gewinnt? Wird sich dadurch viel verändern? Welche Kanditat*innen werden in möglichen Stichwahlen aufeinander treffen? Falls es überhaupt dazu kommt...

Und wenn der Gesetzentwurf zur Verabschiedung einer Generalamnestie für politische Sachverhalte zwischen Februar 2021 und Februar 2024 beschlossen wird: Was wird sich verändern? Werden die zunehmenden diktatorischen Züge verschwinden? Wird die Opposition weiter verfolgt und versucht, mit konstruierten Vorwürfen einzelne Kanditat*innen von der Wahl auszuschließen? Werden Grundfreiheiten wie jene auf Versammlung, Vereinigung und freie Meinungsäußerung, Informations- und Pressefreiheit gewährleistet? Können Journalist*innen ungestört ihrer Arbeit nachgehen. Werden weiterhin Proteste untersagt? Wird das mobile Internet erneut abgeschalten? Dürfen Fernsehsender über Proteste berichten? Vor allem, wenn Menschen brutalst und unter Einsatz von riesigen Mengen an Tränengas vor den Straßen geprügelt werden? Wird weiterhin scharf geschossen? Was geschieht aus all jenen, die in den vergangenen Jahren an Misshandlungen und Morden an Oppositionellen und Aktivist*innen beteiligt waren? Wer trägt die Verantwortung?

Ausführliche Informationen zur Verschiebung der Wahlen und den Ereignissen der letzten Jahre sind in folgendem Bericht zu finden: "Macky Sall - Diktator!" Ein gescheiterter Putschversuch durch den Präsidenten* des #Senegal? (27. Feb 2024)

Berichte aus den vergangenen Jahren auf EMRAWI:

Nachrichten aus dem Senegal (fr):

Weitere Informationen (en):

Anmerkung der Moderation

Ergänzung: Dieser Artikel wurde bereits am 5. März 2024 geschrieben. Am 6. März lehnte der Verfassungsrat die Vorschläge des "nationalen Dialoges" ab und forderte den Präsidenten auf, einen Wahltermin vor Ende seiner Amtszeit festzulegen. Dieser wurde noch am selben Tag mit 24. März 2024 fixiert.

Das Parlament hat dem Gesetzesentwurf zum Amnestiegesetz am 6. März zugestimmt. Für Samstag den 9. März 2024 von 15 bis 18 Uhr organisieren AI Senegal und das Kollektiv der Opfer der Ereignisse vom März 2021 eine Demonstration in Dakar, bei der sie ihren Unmut gegen das Amnestiegesetz zum Ausdruck bringen sowie Aufklärund und Gerechtigkeit fordern.

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