#freesenegal - Zum Urteil gegen Ousmane Sonko und der Tragweite von Protesten und Repression

veröffentlicht am 11. Juni 2023

Region Westafrika - Am 1. Juni 2023 wurde Ousmane Sonko, Oppositionsführer* (PASTEF) und Kandidat für die Präsident*innenwahlen im Februar 2024 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nachdem das Urteil bekannt wurde, kam es in vielen Teilen des Landes zu Aufständen. Laut offiziellen Angaben wurden dabei 16 Menscchen ermordet, unabhängige Quellen sprechen von mindesten 30 Toten. Die Repression beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Tage Anfang Juni, seit Jahren geht die Exekutive willkürlich und brutal gegen die Opposition und unabhängige Aktivist*innen vor.

Der Bericht "freesenegal - Eine Revolte für die Freiheit" behandelt die Situation nach dem Urteilsspruch vom 1. Juni. Die Junge Welt schreibt zum Urteil:

"Ein Strafgericht in der Hauptstadt Dakar entschied am Donnerstag, der 48jährige habe eine Minderjährige in einem Schönheitssalon wiederholt missbraucht. Im Senegal ist Minderjährigkeit als unter 21 Jahren definiert. In einer weiteren Anklage wegen mutmaßlicher Vergewaltigung sprach das Gericht ihn frei. Sonko spricht von politisch motivierten Vorwürfen. Es blieb zunächst unklar, ob der in Abwesenheit verurteilte Oppositionspolitiker Berufung einlegen kann. Sonko kann bei den Wahlen im kommenden Februar voraussichtlich nicht antreten. Er gilt als der Herausforderer des amtierenden Präsidenten Macky Sall mit den besten Chancen.
Im Mai war Sonko bereits wegen Verleumdung zu einer sechs Monate langen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden, nachdem er Tourismusminister Mame Mbaye Niang vergangenes Jahr im Fernsehen der Unterschlagung beschuldigt hatte. Die Vorwürfe gegen Sonko haben in dem Land mit 17 Millionen Einwohnern immer wieder zu Protesten geführt." (1)

Es geht um mehr als eine*n Oppositionspolitiker*in

Die zahlreichen Proteste gegen die Regierung von Macky Sall, seit 2012 Präsident, sind politisch und sozial motiviert. Es sind vor allem Proteste einer unzufriedenen Jugend, die endlich eine Veränderung will, auf die sie seit dem Amtsantritt von Macky Sall wartet. Schon damals, als der vorherige Präsident Abdoulaye Wade abgewählt wurde, kam es zu Protesten, die Leute wollten weg von einem korrupten System. Während eine zunhemend reicher werdende Schicht in Luxus lebt, bleibt vielen nicht genug zum Leben. Von einem Tag auf den anderen muss das notwendigste organisiert werden. Und dabei gibt es genug Geld im Senegal, die Infrastruktur wurde in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut, zahlreiche Straßen errichtet und sogar eine alte Bahnlinie reaktiviert. Allerdings kommen viele dieser Infrastrukturprojekte nicht der großen Masse zu gute. Die Benutzung der Autobahnen ist kostenpflichtig und ein Ticket für die Verbindung der Aussenbezirke mit dem Zentrum von Dakar mit dem Zug viel zu teuer für Einheimische. Also in keinem Fall ein Projekt für den Klimaschutz, sondern eher ein Prestigeprojekt und eine luxurablerere Verbindung für Wohlhabende.

Die Proteste zur Unterstützung von Ousmane Sonko waren immer auch soziale Proteste. Es ging gegen steigende Preise, für eine bessere Lebenssituation der ärmeren Menschen und um Perspektiven für die zahlreichen jungen Menschen im Land. All das erhoffen sich die Menschen von "Präsident Sonko", wie der Oppositionspolitiker* bereits seit längerem genannt wird. Er verspricht soziale Veränderungen.

Und genau deshalb wird der Prozess, in dem es anfangs um eine Vergewaltigung ging, als politisch motiviert betrachtet. Denn es ist ein Weg, mit dem Macky Sall seinen größten Herausforderer loswerden kann.

Multiple Vorwürfe gegen "Präsident Sonko"

Amnesty International berichtete am 17. März, dass die Regierung die Repression im Vorfeld der Wahlen 2024 verschärft. (2) Sonko selbst sieht sich mit unterschiedlichen Vorwürfen konfrontiert.

So fand am 16. März ein Prozess wegen Verleumdung von Tourismusminister* Mame Mbaye Niang statt. Schon vor dem Prozess war über Sonko Hausarrest verhängt worden und Oppositionspolitiker*innen nicht erlaubt, ihn zu besuchen. So wurde am Tag vor genanntem Prozess, am 15. März, der oppositionelle Parlamentarier* Guy Marius Sagna mit Tränengas beschossen, als er versuchte, Sonko in dessen Haus zu besuchen.

Bei der Anreise zum Prozess wurde Sonko von der Polizei angegriffen. Diese schoss mit Tränengas herum, zerrte Sonko aus seinem Fahrzeug und fuhr ihn in einem Polizeiauto zum Gericht. Die Behörden waren mit dem von Sonko und seinen zahlreichen Sypathisant*innen gewählten Weg nicht einverstanden. Denn immer, wenn sich der populäre Oppositionspolitiker* in der Öffentlichkeit zeigt, eilen viele Menschen herbei, um "ihren Präsidenten*" zu begrüßen.
Kurz nach Beginn des Prozesses kam es zu Zusammenstößen zwischen der aufgebrachten Menge und der wie üblich brutal vorgehenden Exekutive. Der Prozess wurde auf 30. März verschoben.

Nach Vertagung des Prozesses verhinderte die Polizei die Abhaltung einer Pressekonferenz durch die Opposition, indem sie den Zugang zu den Räumlichkeiten der Republican Progress Party (PRP) belagerte, wo die Pressekonferenz hätte stattfinden sollen. Am Ende des Tages, so Amnesty, war mindestens eine Person tot, nachdem sie von einen Fahrzeug eines bewaffneten Schlägertrupps angefahren wurde. Die Schergen Mackys wurden immer wieder dabei beobachtet, dass sie ihre Autos mit voller Wucht in die Menge oder gegen einzelne Personen lenken.

Ousmane Sonko selbst wurde über Nacht in einem privaten Krankenhaus wegen Schwindel, Kopf- und Bauchschmerzen behandelt.

Repression gegen politische Opposition

Nicht nur gegen Sonko wird repressiv vorgegangen. Laut Amnesty wurden in den vergangenen Monaten gegen viele abweichende Meinungen von Politiker*innen und Medien hart durchgegriffen. So wurde der frühere Premierminister* Hadjibou Soumaré am 9. März wegen "Verleumdung" verhaftet, nachdem er Macky Sall in einem öffentlichem Brief fragte, ob dieser einer ungenannten französischen Politikerin*, die für ihren "Hass und der Ablehnung von Anderen" bekannt sei, 12 Millionen Euro spendete. Es war eine Anspielung auf den Besuch von Marine Le Pen in Jänner 2023. Zwei Tage vor der Verhaftung bezeichnete die Regierung den Vorwurf als "feig und unbegründet". Soumaré wurde am 13. Jänner enthaftet und unter juristische Beobachtung gestellt.

Ein Aktivist der antikolonialen FRAPP-France Dégage Bewegung ("Frankreich hau ab!"), wurde am 6. Februar in seinem Haus in Dakar wegen des Vorwurfes der Finanzierung von Aktivitäten zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verhaftet. Grund sind verschiedene Crowfunding Aktivitäten für Mitglieder von PASTEF, der Partei von Ousmane Sonko, sowie Beamte, die aus der derzeitigen Verwaltung entfernt wurden. Sie allen vertreten eine von der Regierung abweichende Meinung, ein Hinweis auf die fehlende Meinungsfreiheit in der Vorzeigedemokartie Afrikas.

Am 7. Dezember 2022 wurde Fadilou Keita, ein Mitglied des Kabinetts von Ousmane Sonko verhaftet. Der Vorwurf lautet die "Verbreitung falscher Nachrichten" und "Beleidgung staatlicher Institutionen". Bezug genommen wurde dabei auf ein Facebook Postin in dem der Beschuldigte ein Verbrechen hinter dem Verschwinden von Didier Badji, einem hoher Officier, und Sergeant Fulbert Sambou, einem Officier des Heeresnachrichtendienstes, im November vermute. Der Körper von Fulbert Sambou wurde am 23. November im Meer gefunden. Fadilou Keita ging in Haft in Hungerstreik, uns ist nicht bekannt, was danach geschah.

Eingestellte Medien und untersagte Proteste

Neben Oppositionspolitiker*innen und verschiedenen Organisationen, die sich gegen Korruption und für eine Stärkung der demokratischen Strukturen einsetzen, stehen Journalist*innen und Medien im Visier der staatlichen Behörden. Laut Amnesty wurde am 3. März Pape Ndiaye, ein* Journalist* von Walf TV verhört und festgenommen, nachdem er im Fernsehen über den Prozess wegen Vergewaltigung gegen Ousmane Sonko berichtete. Am 7. März wurde Ndiaye der Missachtung des Gerichts und der Verbreitung von Fake News beschuldigt. Amnesty international betrachtet die Verhaftung als willkürlich und Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Walf TV, ein privater Sender, wurde während der Proteste Anfang Juni von der Regierung abgedreht. Nicht zum ersten mal. Nachdem am 10. Februar die Behörden ein Treffen von PASTEF in Mbacké verboten, wurden die Proteste von den Sicherheitskräften gewalttätig attackiert. 69 Leute wurden festgenommen und 54 von diesen wegen "Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung" und "Zerstörung von Eigentum" inhaftiert. Am Tag des Protests in Mbacké musste Walf TV auf Anordung der staatlichen Regulierungsbehörde wegen "unverantwortlicher" Berichterstattung über die gewaltigen Protese off air gehen.

Am 9. Mai kam in Ngor eine Teenagerin* bei Protesten ums Leben. Es ging dabei um ein 6,300 m2 großes Grundstück, auf dem die Einwohner*innen von Ngor eine Hochschule errichten wollen. Die Behörden planen dort die Errichtung einer Kaserne für die Gendarmerie. Während der länger andauernden Proteste wurden zahlreiche Übergriffe durch die Gendarmerie dokumentiert. Videos zeigen die Anwendung von maßloser Gewalt gegen Demonstrant*innen, wie Kugeln in deren Richtung fliegen und Tränengas in geschlossene Räume. Gendarm*innen sind zu sehen, wie sie verhaftete verprügeln und ihnen Handschellen anlegen, oder sie als menschliche Schilder nutzen, während sie in verbarrikadierten Wohngegeden vorrücken. (3)

In den vergangenen Monaten wurden immer wieder Porteste der Opposition wegen der Gefahr der "Störung der öffentlichen Ordnung" verboten. Die Regierung versucht, die Oppostion mit allen möglichen Mitteln zu unterdrücken, um bei den Wahlen im kommenden Jahr an der Macht zu bleiben. Dabei werden die Verbrechen und Morde durch die staatlichen Schläger*trupps nicht verfolgt, es kommt weder zu Ermittlungen noch zu Anklagen.

Genannt seien die landesweiten Proteste im März 2021, bei denen es zu 14 Toten kam, darunter drei Kinder. Bis heute wurden keine Ermittlungen wegen dieser Exekutionen eingeleitet. 12 dieser Menschen starben durch Kugeln aus den Waffen der Sicherheitskräfte.

Die antikoloniale Dimension der Proteste

Dies alles sind nur einzelne Einblicke in das repressive Vorgehen durch die Scherg*innen von Macky Sall und dessen Clique. In der westlichen Berichterstattung ist über die Hintergründe nur wenig zu hören. Doch die Dimension der Proteste hat eine enorme Sprengkraft - nicht nur im Senegal, in vielen westafrikanischen Saaten (siehe zB die EndSARS/SWAT Proteste in Nigeria). Sehr oft richtet sich das Aufbegehren gegen die korrupten Eliten, die wiederum gute Kontakte untereinander und nach Europa pflegen. Von dort, aber auch aus der Türkei, China, Indien usw. werden Mittel für die Ausbildung von Exekutive und Militär sowie Ausrüstung zur Verfüfung gestellt. Darunter befinden sich u.a. die massiv verschossenen Tränengasgranaten, aber auch Räumpanzer und Wasserwerfer. Kriegsmaterialien zur Bekämpfung von Aufständen im Inneren. Zahlreiche Menschen wurden damit ermordet, gefoltert, misshandelt.

Die Proteste haben ebenfalls eine soziale Dimension. Insbesondere in Zeiten sogenannter "Krisen", während der Preise explodieren und Gewinne der Reichen steil ansteigen, verschlechtert sich die Lebenssituation vieler Menschen dramatisch. Ihre Reisefreiheit ist eingeschränkt, die Gehälter zu niedrig um halbwegs in Würde leben zu können. Ihre Umwelt wird durch Investitionen, Raubbau an Rohstoffen, unverantwortlichen Fischfang an den Küsten usw. zerstört, und somit vielen Menschen die Lebensgrundlage genommen. Es gibt in der Praxis oft weder Meinungs, noch Versammlungs- oder Pressefreiheit.

Kein Wunder, wenn viele Menschen dieser Situation entkommen wollen. Im Senegal waren dazu Stimmen zu vernehmen, dass die Leute nicht abhauen wollen, viel mehr sollten sich die Ausbeuter*innen vertschüssen. Einer von ihnen ließ sich sogar kurzfristig dazu hinreißen. Macky Sall ergriff Anfang Juni die Flucht vor der aufgebrachten Menge, angeblich zu seinen Verbündeten* nach Frankreich. Trotzdem und obwohl seine zweite Amtsperiode bald abgelaufen ist, will er das Ruder nicht aus der Hand geben und es wird angenommen, dass er im kommenden Jahr bei den Wahlen durch Umgehung der Gesetze ein drittes mal anzutreten versucht. Ohne die Konkurrenz durch Ousmane Sonko, dem Präsidenten der Herzen. Dieser soll, so der Plan, hinter Gittern weilen. Ob sich die Straßen so beruhigen lassen?

Fußnoten:

(1) https://www.jungewelt.de/artikel/452154.zwei-jahre-haft-f%C3%BCr-oppositionsf%C3%BChrer-im-senegal.html
(2) https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/03/senegal-authorities-intensify-repression-ahead-of-2024-election/
(3) https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/05/senegal-amnesty-international-denonce-lusage-excessif-de-la-force-a-ngor/
https://techforgood.social/@iresilience/110497594509510487 (Video von Al Jazeera)

Fotos und Videos auf: https://mastodon.social/tags/FreeSenegal

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