Gruppe „Linkswende“ und Geschlechterverhältnis – eine Kritik

veröffentlicht am 6. Juni 2022

Kürzlich wurde eine Kritik an den geschlechter-politischen Positionen der deutschen Gruppe Marx21 veröffentlicht. [1] Marx21 gehört zur International Socialist Tendency (IST). In Österreich gehört dazu die Gruppe Linkswende.

In diesem Kontext werden im folgenden drei Texte der Gruppe Linkswende kritisch diskutiert:

Identitätspolitik und Klassenpolitik vom 17. Juni 2019
Marxismus und Feminismus: Eine „unglückliche“ Beziehung? vom 25. Mai 2015
und
Frauenbefreiung: Die sozialistische Strategie vom 5. November 2018.


Gliederung:
Identitätspolitik und Klassenpolitik
Die „marxistische Sicht“ – und was der Fehler an ihr ist
Marxistischer und feministischer Reproduktions-Begriff
Identität – Erfahrung – Solidarität
Nancy Fraser und Antidiskriminierungspolitik
Zu jedem Innen gehört ein Außen
Unterordnung feministischer, antirassistischer und anti-homophober Kämpfe unter „kollektives Identitätsbewusstsein als Klasse“ – die Nebenwiderspruchs-Politik der Gruppe Linkswende
Verdienst und Grenzen der leninschen Ökononismus-Kritik


Identitätspolitik und Klassenpolitik

In dem erstgenannten Artikel heißt es zwar zunächst recht wohlwollend über sog. Identitätspolitik:

„Andere [als Martin Luther King], wie Malcolm X, einer der Anführer der Nation of Islam, gingen einen konfrontativeren Weg. Sie beharrten darauf, dass die schwarze Bevölkerung genau auf ihre Identität als Afroamerikaner, die von den Weißen als Rechtfertigung für die Unterdrückung verwendet wurde, stolz sein soll.
Dazu gehörte auch das bewusste sich Lossagen von weißen Schönheitsidealen und die Betonung: ‚Black is beautiful‘. Bekannte Vertreter_innen der Black Power-Bewegung, wie Angela Davis, trugen stolz ihren Afro-Look und halfen so vielen Menschen, Selbstbewusstsein für den weiteren Kampf um Gleichberechtigung zu gewinnen.“

Die „marxistische Sicht“ – und was der Fehler an ihr ist

So dann wird aber unter der Überschrift „Hauptnenner Klasse“ behauptet:

„Trotz dieser Erfolge gibt es aus marxistischer Sicht aber einen entscheidenden Punkt, den die Identitätspolitik vernachlässigt, nämlich, dass Unterdrückung als eine Funktion von Klassengesellschaften auftritt. Ausbeutung funktioniert nicht, ohne die Ausgebeuteten auf die eine oder andere Weise zu unterdrücken – mit Gewalt, Rassismus oder Sexismus.
Indem man sich nur auf das Element der Unterdrückung konzentriert, wird die tiefste Kluft in der Gesellschaft, die zwischen den Klassen, nicht nur ausgeblendet, sondern auch ihre Rolle als Basis der Unterdrückung verkannt. Das kapitalistische System basiert auf der Ausbeutung der Arbeiter_innenklasse durch die Klasse der Kapitalisten.“

Genau das ist der Fehler der „marxistischer Sicht“:

1. Daß etwas eine bestimmte „Funktion“ erfüllt (genauer: einen bestimmten Effekt hervorbringt) heißt noch nicht, daß es dieser „Effekt“ oder jene „Funktion“ auch die Ursache des in Rede stehenden Etwas ist [2].

2. Auch die bloße Funktionalität (im Unterschied zu: Ursächlichkeit) ist fraglich:

Wieso sollte es für Klassenherrschaft im allgemeinen oder das Kapital insbesondere ‚funktional‘ sein, daß Männer Frauen schlagen und vergewaltigen? [3] Streiken schlagende Männer weniger?
Warum sollte es für das Kapital ‚funktional‘ sein, wenn Frauen in die unentlohnte Hausarbeit gedrängt werden, wenn es im Gegenzug Männern einen ‚Familienlohn‘ zahlen muß, damit sie ihre Ehefrauen und Kinder unterhalten können?
Auch in Bezug auf die Lohndiskriminierung erwerbstätiger Frauen ist die Funktionalität-These nicht schlüssig: Für das Kapital ist vor allem die Lohnsumme für eine bestimmte Summe an Erwerbsarbeitszeit von Interesse – und nicht, wie diese auf Frauen und Männer verteilt wird. Der ‚Männer-Lohn‘ ist folglich nicht der ‚Standard-Lohn‘ demgegenüber der ‚Frauen-Lohn‘ einen Verkürzung darstellt; vielmehr sind Männer- und Frauen-Löhne Abweichungen (nach oben und nach unten) vom Durchschnitt. Der Durchschnitt ist das, was für das Kapital von Interesse ist. [4]

3. Selbst wenn wir uns auf die marxistische ‚Spaltungs-Theorie‘ (das Kapital habe ein Interesse, die Lohnabhängigen nach irgendwelchen anderen Kriterien ‚zu spalten‘ [über welche Mittel verfügt das Kapital, um dieses Interesse zu realisieren?]) einlassen, bleiben mehrere Fragen:
• Warum erfolgen diese ‚Spaltungen‘ z.B. gerade entlang von race und gender?
• Warum sind diese Spaltungen gerade in der Weise ‚organisiert‘, daß Weiße und Männer bevorteilt sowie Schwarze und Frauen benachteiligt sind?

4. Es ist falsch, das Verhältnis von Patriarchat und Rassismus einerseits und Klassenherrschaft als Verhältnis „Unterdrückung“ und „Ausbeutung“ zu denken.
Vielmehr sind alles drei Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, die nicht nur, aber auch auf „Unterdrückung“ beruhen – sie beruhen auch auf Integration, Subjektivierungen und Angeboten.

„Genauso wie es unzutreffend ist, den Kapitalismus auf Unterdrückung zu reduzieren, so ist auch falsch, Patriarchat und Homophobie auf Unterdrückung zu reduzieren; und von einer hauptsächlichen Unterdrückung von Sexualität im Kapitalismus auszugehen, ist eine – durch Foucault [5] zurecht kritisierte – freudomarxistische und Frankfurter Schule-Annahme von Reich und Marcuse.
Für ein Verständnis der Komplexität und Stabilität jedenfalls moderner Herrschaftsverhältnisse ist zentral, sich mit dem zu beschäftigen, was Michel Foucault über Karl Marx sagte:
‚Was hat Marx getan, als er [bei] seiner Analyse des Kapitals auf das Problem des Arbeiterelends stieß? Er hat die übliche Erklärung abgelehnt, die aus diesem Elend die Wirkung einer natürlichen Knappheit oder eines abgekarteten Diebstahls macht. […]. Marx hat die Anklage des Diebstahls durch die Analyse der Produktion ersetzt. Mutatis mutandis ist das ungefähr das, was ich machen wollte. Es geht nicht darum, das sexuelle Elend zu leugnen, aber es geht auch nicht darum, es negativ mit Repression zu erklären.‘ Es gehe vielmehr um die ‚positiven Mechanismen‘, die es hervorbringen. [6]
Oder anders gesagt: Bevor ein Streik von Lohnabhängigen niedergeschlagen, eine Organisation von Lohnabhängigen verboten werden kann usw., muß es sie zunächst einmal geben: die Lohnabhängigen. Das ist die Produktivität der Macht. Die gesellschaftlichen Gruppen müssen zunächst einmal hervorgebracht werden, bevor sie unterdrückt werden können. Und ‚unterdrückt‘ werden dann auch weniger die (funktionierenden) Lohnabhängigen, als vielmehr rebellierende Lohnabhängige; weniger die (funktionierenden) Frauen als vielmehr rebellierende Frauen.
Statt einseitig auf die Unterdrückung zu fokussieren, haben Michel Foucault und Louis Althusser deshalb das untersucht, was Foucault ‚subjektivierende Unterwerfung‘ [7] nannte. ‚das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es […] (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert […]. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung.‘ [8]
Weder Foucault noch Althusser haben diese Analyse vorgenommen, um Unterwerfung als Freiheit zu feiern, sondern um aufzuzeigen, daß die Freiwilligkeit selbst Bestandteil der herrschenden Verhältnisse ist. ‚Der Modus der Gewalt zeichnet sich durch ein direktes Einwirken auf Körper aus, während Macht indirekt auf Subjekte wirkt.‘ [9] Macht und Freiheit sind ‚keine Gegensätze, die einander ausschließen‘, sondern sie schließen ‚einander ein, so dass Freiheit zu einem charakteristischen Element einer Machtbeziehung wird: »Macht wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur sofern diese ›frei‹ sind« [10]. ‚Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit von Macht‘ [11].
Statt allein von ‚Unterdrückung‘ zu reden, wäre also besser von ‚Herrschaft‘ zu reden, die zwar Unterdrückung einschließt, aber sich nicht auf Unterdrückung reduziert, sondern immer auch ‚Angebote’, Hegemonie, Subjektivierung/Identifizierungsangebote (z.B. früher als gute Hausfrau und Mutter; heute eher als toughe ‚Managerin’, die Familie und Beruf unter einen Hut bringt; früher eher als guter Arbeiter und heute eher als guteR SelbstunternehmerIn usw.) beinhaltet.“ [12]

5. Zwar „basiert“ das „kapitalistische System“ auf der Ausbeutung der Lohnabhängigen durch die kapitalistische Klasse, aber das kapitalistische Klassenverhältnis ist nicht die einzige Determinante der gesellschaftlichen Struktur.

„rassistische und sexistische Lohndiskriminierung und Arbeitsteilung [modifizieren] in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit die ‚Reinform’ der kapitalistischen Produktionsweise“. [13]

„auch das patriarchale Geschlechterverhältnis – und nicht nur die (kapitalistischen) Klassenverhältnisse – [ist] kein bloßer Teilbereich, kein bloßer Nebenwiderspruch, kein bloßes Symptom, keine bloße ‚Erscheinungsebene’, sondern selbst eine Determinante der gesellschaftlichen Struktur; selbst einer von mehreren Grundwidersprüchen“ [14]

6. Jedenfalls ist das Patriarchat älter als die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in den Klassenverhältnissen und auch älter als Klassenherrschaft überhaupt.
Daß „die Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen durch die Männer vor der Entstehung des Privateigentums und der Klassengesellschaft“ geschah [15], wurde – auf der deskriptiven Ebene – teilweise auch bereits von Marx und Engels erkannt (allerdings zogen sie daraus keine analytisch-theoretischen Konsequenzen):

a) Nach der Darstellung in der Deutschen Ideologie ging die „Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind,“ (MEW 3 [16], 32) dem Moment, wo das „Klassenverhältnis zwischen Bürgern und Sklaven [...] vollständig ausgebildet“ ist (ebd., 23) und sogar dem Moment, wo das „immobile Privateigentum [...] als“ noch „abnorme, dem Gemeindeeigentum untergeordnete Form“ entstand (ebd.), voraus. Die Arbeitsteilung in der Familie bestand nach dieser Darstellung dagegen schon zur Zeit des Stammeigentums (ebd., 22):

„Die erste Form des Eigentums ist das Stammeigentum. […]. Die Teilung der Arbeit ist auf dieser Stufe noch sehr wenig entwickelt […]. Die gesellschaftliche Gliederung beschränkt sich daher auf eine Ausdehnung der Familie: patriarchalische Stammhäupter, unter ihnen die Stammitglieder, endlich Sklaven.
Die zweite Form ist das antike Gemeinde- und Staatseigentum, […].“ Nun erst „[n]eben dem Gemeindeeigentum“ – „entwickelt sich schon das mobile und später auch das immobile Privateigentum, aber als eine abnorme, dem Gemeindeeigentum untergeordnete Form.“ (ebd.)

Metaphorisch gesprochen waren die Geschlechter also die ersten ‚Klassen‘ – noch bevor es Klassen im strengen Sinne des Begriffs sowie Privateigentum gab.

b) Jahrzehnte später beschrieb Engels in seiner Schrift Der Ursprung der Familie, Privateigentums und des Staats für die Zeit vor [17] Entstehung des Privateigentums Folgendes [18]:

„Beim Frauenraub zeigt sich übrigens hier schon eine Spur des Übergangs zur Einzelehe, wenigstens in der Form der Paarungsehe: Wenn der junge Mann mit Hülfe seiner Freunde das Mädchen geraubt oder entführt hat, so wird sie von ihnen allen der Reihe nach geschlechtlich gebraucht, gilt danach aber auch für die Frau des jungen Mannes, der den Raub angestiftet hat. Und umgekehrt, läuft die geraubte Frau dem Manne weg und wird von einem andern abgefaßt, so wird sie dessen Frau und der erste hat sein Vorrecht verloren.“
(MEW 21, 25 - 173 [51]; https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band21.pdf)

Die Schlußfolgerung, daß es ein patriarchales Geschlechterverhältnis schon gab, bevor Privateigentum und Klassen entstanden wurde von Engels freilich nicht gezogen. – Warum nicht?

7. Das Verhältnis zwischen modernem Rassismus und Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise mag – eingedenk des Kolonialismus – enger sein, als der zwischen Patriarchat und kapitalistischer Produktionsweise; aber es gab auch schon ‚vor-moderne‘ / vor-kapitalistische Formen von Xenophobie.
Fraglich ist auch, ob sich der frühe (spanische und portugiesische) Kolonialismus bereits unter „Kapitalismus“ susbumieren läßt.

8. „Kluft […] zwischen den Klassen“ ist nicht die (materielle) Basis der (bloß psychischen oder ideologischen) „Unterdrückung“. Vielmehr haben Patriarchat und Rassismus in Form geschlechtshierarchischer und rassistischer Arbeitsteilung sowie in Form von patriarchaler und rassistischer Gewalt eine eigene materielle Basis.

Unklar bleibt auch, wie die Gruppe Linkswende zu ihrer These gelang, „die tiefste Kluft in der Gesellschaft“ (meine Hv.; wie läßt sich das messen?) sei „die zwischen den Klassen“.

Marxistischer und feministischer Reproduktions-Begriff

In dem Artikel wird Karl Marx mit folgendem Sätzen zitiert:

„Sowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß. Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion.“ (MEW 23, 591 – Das Kapital. Erster Band;
https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band23.pdf)

Im Anschluß an das Zitat heißt es in dem Linkswende-Artikel:

„Gleichzeitig wird ‚produktive‘ Arbeit als übergeordnet eingestuft, da sie Mehrwert schafft. Mit der Abwertung der Reproduktionsarbeit festigt sich der ideologische und politische Überbau aus festgeschriebenen Rollenbildern.“

Dies übersieht, daß Marx, wenn er von „Reproduktionsprozeß“ schreibt, nicht spezifisch, das im Auge hat, was Feministinnen als Reproduktionsarbeit bezeichnen (Haus- und Erziehungsarbeit) – vielmehr geht es Marx nicht nur (vielleicht nicht einmal vor allem) um die Reproduktion der Arbeitskräfte, sondern – jedenfalls am angegebenen Ort – gerade um die Reproduktion (Erneuerung) der Produktionsmittel (um die sog. „produktive Konsumtion“):

„Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z.B., verbrauchten Produktionsmittel, d.h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird. Ein bestimmtes Quantum des jährlichen Produkts gehört also der Produktion. Von Haus aus für die produktive Konsumtion bestimmt, existiert es großenteils in Naturalformen, die von selbst die individuelle Konsumtion ausschließen.“

Marx stellt daher auch keine „Abwertung der Reproduktionsarbeit“ fest. Auch bei der Produktion von Produktionsmitteln entsteht Mehrwert – Mehrwert entsteht immer bei Verausgabe von Arbeitskraft, deren Resultat (Produkt) von dem/der KäuferIn der Arbeitskraft nicht selbst konsumiert, sondern auf dem Markt weiterverkauft wird:

„Ein Schauspieler z.B., selbst ein Clown, ist hiernach ein produktiver Arbeiter, wenn er im Dienst eines Kapitalisten arbeitet […], dem er mehr Arbeit zurückgibt, als er in der Form des Salairs von ihm erhält, während ein Flickschneider, der zu dem Kapitalisten ins Haus kommt und ihm seine Hosen flickt, ihm einen bloßen Gebrauchswert schafft, ein unproduktiver Arbeiter ist. Die Arbeit des erstren tauscht sich gegen Kapital aus, die des zweiten gegen Revenue. Die erstre schafft einen Mehrwert; in der zweiten verzehrt sich eine Revenue. […] Ein Schriftsteller ist ein produktiver Arbeiter, nicht insofern er Ideen produziert, sondern insofern er den Buchhändler bereichert, der den Verlag seiner Schriften betreibt, oder sofern er der Lohnarbeiter eines Kapitalisten ist.“ (Theorien über produktive und unproduktive Arbeit, in: MEGA II.3.2, 443, 445MEW 26.1, 127, 128).

Die Gruppe Linkswende nimmt dagegen eine These von manchen Feministinnen (die Reproduktionsarbeit im feministische Sinne werde abgewertet – was, das auch immer genau heißen mag [19]), reißt diese aus ihrem Kontext gerissen und zwängt sie – ohne den begrifflichen und analytischen Kontext zu reflektieren – in Marx‘ Analyse, um den (falschen) Anschein zu erwecken, der Marxismus habe etwas Substantielles zum Geschlechterverhältnis zu sagen.

Identität – Erfahrung – Solidarität

So dann wird in dem Artikel gesagt: „Eine typische Argumentation der Identitätspolitik ist das Hervorheben der persönlichen Erfahrung.“

Diese Beschreibung ist – jedenfalls für eine bestimmte Version von „Identitätspolitik“ – nicht verkehrt. Aber sie verweist auch auf ein Problem der heutigen Verwendungsweise des Ausdrucks „Identitätspolitik“:

• Heutzutage bezeichnete „Identitätspolitik“ in der pejorativen Verwendung durch nicht-feministische MarxistInnen, rechte SozialdemokratInnen und Rechte jede feministische, antirassistische sowie ‚queere‘ Politik.

• Um 1990 herum bezeichnete „Identitätspolitik“ dagegen speziell die essentialistische (was den Feminismus anbelangt: tendenziell biologistische) Variante feministischer, antirassistischer sowie schwuler und lesbischer Politik (der englische Begriff „queer“ drang damals gerade erst in den deutschen Sprachraum vor und Trans-Aktivismus spielte [hier] auch noch keine große Rolle).

In diesem zeitlichen (historischen) Kontext kritisierte die feministische Historikerin Joan W. Scott:

„Experience [... is] not the origin of our explanation, not the authoritative (because seen or felt) evidence that grounds what is known, but rather that which we seek to explain, that about which knowledge is produced. [...]. Experience is, in this approach, not the origin of our explanation, but that which we want to explain.“ [20]

Corinna Genschel [21] berichtete in der deutschen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Das Argument :

„Eine Politik der Toleranz und Integration einer ‚Minderheit‘ in die Normgesellschaft mit einer repräsentativen Politikvorstellung zeigte sich gescheitert. Form und Orte schwul-lesbischer Identitätspolitik waren an ihre Grenzen gestoßen.“

An anderer Stelle heißt es dazu:

„The view of identity politics […] as state-centered activism […] is response to the emergence of ‘queer politics’ in the late 1980s in the United States and a function of postmodern and poststructuralist theorie. […]. Queer Nation defined itself as the opposite of identity politics. So, rather than arguing for rights based on being gay or lesbian, queer politics sought to transcend group categories by bringing together marginalized people under one umbrella“ [22] /
„Die Ansicht, daß Identitätspolitik […] ein staats-orientierter Aktivismus […] sei, ist eine Reaktion [der Sache nach würde ich eher sagen: eine Verarbeitung] der Entstehung ‚queerer Politik‘ in den USA in den späten 1980er Jahren und ein Resultat postmoderner und poststrukturalistischer Theorien. […]. [Die Gruppe] Queer Nation verstand sich [eher: verstand ihre Politik] als das Gegenteil von Identitätspolitik. Daher versuchte queere Politik – statt für Rechte als Schwule und Lesben zu argumentieren – Gruppenkategorien zu transzendieren und Marginalisierte unter einen Dach [wörtlich: Schirm] zusammenzubringen“.

Und Sabine Hark [23] kritisierte:

„[...] wo eine bestimmte Identitätskonfiguration anstrebt, ‚die Stelle des Wirklichen‘ einzunehmen, um durch Selbst-Naturalisierung die eigene Hegemonie zu festigen und auszudehnen, ist von [...] revolutionärer Praxis nichts übrig geblieben als ein konkretistisches, reifiziertes, Politik lähmendes Fundament.“

In der Encyclopedia of Feminist Theories vermerkt Alan Peterson

„the deconstructive impulse with in social theory has led to some disenchant with identity politics“. [24] /
„der dekonstruktivistische Impulse in den Gesellschaftstheorien hat zu einiger Ernüchterung bezüglich Identitätspolitik geführt“.

Ähnlich heißt es in der Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies:

„In this view [social constructivist, postmodern, and poststructuralist theoretical traditions], status categories such as gay and lesbian create and regulate identities, so any activism in the name of such an identity is criticized for shoring up the very categories that responsible for subordination of theses groups.“ [25] /
„In dieser Sichtweise [aus sozial-konstruktivistischen, postmodernen und poststrukturalistischen Theorietraditionen] schaffen und regulieren Statuskategorien wie schwul und lesbisch Identitäten, sodaß jeder Aktivismus im Namen solcher Identitäten als Stützung genau der Kategorien, die für die Unterordnung dieser Gruppen verantwortlich sind, kritisiert wird.“

Dies waren allerdings ganz andere Kritiken an (essentialistischer) Identitätspolitik und empiristischem „Erfahrungs“-Kult als die Kritik der Gruppe Linkswende: Es sei nicht gerechtfertigt,

„anderen die Kritikfähigkeit abzusprechen und sie aus dem Kampf auszuschließen, schließlich macht genau das uns Menschen aus – dass wir uns in andere hineinversetzen können, darauf beruht die Forderung nach ‚Internationaler Solidarität‘.“

Also ob es darum ginge, anderen „Kritikfähigkeit abzusprechen“. Es geht geht darum, daß gesellschaftliche Positionierung – und die ist von Männern und Frauen im Patriarchat sowie Weißen und Schwarzen in einer rassistischen Gesellschaft genauso unterschiedlich wie die von KapitalistInnen und Lohnabhängigen in einer Gesellschaft, in der (in Bezug auf die Klassenverhältnisse) die kapitalistische Produktionsweise die herrschende ist, – Interessen zwar nicht strikt determiniert, aber nahelegt.

„In the 1970s, the Combahee River Collective declared in ‚A Black Feminist Statement‘ [26] (1977) that black women need to rely principally on other black women for their liberation – that no other group besides themselves would be as consistent and committed to winning their freedom. This claim presupposes that one’s politics are at least partially determined by one’s social identity, a claim rooted in Marx’s view that one’s ideas and beliefs are related to one’s material conditions.“
(Linda Martin Alcoff, identity politics, in: Lorraine Code [Hg.], Encyclopedia of Feminist Theories, Routledge: New York / London, 2000, 263 - 264 [263])

Daß Problem an vielen MarxistInnen ist, daß sie ihren (sonstigen) Materialismus vergessen, wenn es um Geschlechterverhältnis und Rassismus geht; daß sie dann in Phrasen über „Kritikfähigkeit“, „Lernprozesse“ [27] und „Gerechtigkeit“ verfallen – die sie in Bezug auf die Klassenverhältnisse (auf Grundlage ihrer materialistischen Analyse) zurecht zurückweisen.

Weiter heißt es in dem Linkswende-Artikel – ebenfalls an dem diesbzgl. entscheidenden Punkt vorbeischreibend:

„Außerdem heißt es nicht, dass alle Personen, die theoretisch einer bestimmten Identität angehören, auch die gleichen Erfahrungen machen. So ist zwar möglicherweise ein Milliardär ebenso betroffen von antimuslimischem Rassismus wie ein Arbeiter in einem Wiener Vorort, Ersterer wird aber kaum Probleme damit haben, aufgrund seiner Religionszugehörigkeit eine Arbeitsstelle zu finden.“

Die allerwenigsten werden behaupten, daß alle Frauen zum einen, alle Schwarzen zum zweiten und alle Lohnabhängigen zum dritten ausschließlich gemeinsame Erfahrungen machen. – Der entscheidende Punkt ist,
• daß Frauen zum einen und Schwarze zum anderen bestimmte „Erfahrungen“ – unabhängig von ihrer Klassenlage – gemeinsam haben,
• genauso wie auch Lohnabhängige bestimmte „Erfahrungen“ – unabhängig von ihrer Sexuierung bzw. Rassifizierung – gemeinsam haben.

Nancy Fraser und Antidiskriminierungspolitik

Des weiteren heißt es in dem Linkswende-Artikel:

„Ein Problem an der Orientierung an der eigenen Identität als Grundlage für politisches Handeln ist die Konzentration auf das Individuum. Die amerikanische Feministin Nancy Fraser betont, dass Feminismus früher auf eine grundlegende Kritik der bestehenden Verhältnisse abzielte, Diskriminierung also als politisches Problem wahrnahm. Heute jedoch bestehe die Gefahr, sich dem neoliberalen Trend der individuellen Lösungen einzugliedern.“

Auch in diesen Sätzen geht alles durcheinander:

• Gerade Antidiskriminierungspolitik tendiert dahin, individualistisch zu sein – nämlich auf einzelne diskriminierende Handlungen und deren Akteure (Täter) zu schauen – und den gesellschaftsstrukturellen Kontext zu vernachlässigen. [28]

• Und Nancy Fraser steht nun auch nicht gerade für eine „grundlegende Kritik der bestehenden Verhältnisse“, sondern verkennt mit ihrer Unterscheidung zwischen Anerkennungs- und Umverteilungspolitik den Charakter der grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnis und verbleibt mit „Umverteilungspolitik“ im Rahmen einer sozialdemokratischen Konzeption.
Mittlerweile spricht sie zwar auch von „Sozialismus“ [29]; es bleibt aber bei dem Fehler, daß „Nancy Fraser und mehr noch ihre Fans die Abhilfe gegenüber den in der Tat bestehenden Mängeln der Anerkennungs- bzw. Differenzpolitik in mehr ‚Umverteilung‘ zwischen den Klassen oder – nunmehr – mehr Antikapitalismus sehen“ [30]. – Warum sollten Veränderung im Verhältnis zwischen den Klassen zu Veränderungen zwischen den Geschlechtern führen? Welche Kausalität besteht da angeblich?

Zu jedem Innen gehört ein Außen

Weiter heißt es in dem Linkswende-Artikel:

„Dass sich Linke der Identitätspolitik bedienen, ist zwar nichts Neues, historisch gesehen war es aber eher ein Mittel der rechten beziehungsweise konservativen Seite. Wenn von Identität die Rede ist, gibt es automatisch immer jemanden, der bestimmt, wer zu dieser Community gehört und wer nicht.“

Das ist ja aber gerade die de-konstruktivistische Kritik an (essentialistischer) Identitätspolitik; sie zeigt auf, daß

„[j]ede Konstruktion eines wir ist nur möglich durch die gleichzeitige Definition eines ihr“ – also durch eine immer umkämpfte „Grenzziehung“ [31].
„Identitäten werden durch Abgrenzung und Ausgrenzung hergestellt“ – das Außen einer Identität ist ein „‚konstitutive Außen‘ (Derrida, Butler)“. [32]

(Dies verweist auf ein weiteres Problem der heutigen Verwendung des Ausdrucks „Identitätspolitik“: Zwar nicht in dem hier besprochenen Linkswende-Artikel, aber ansonsten wird öfter von „postmoderner Identitätspolitik“ gesprochen; beide Wörter [Substantiv und Adjektiv] werden dabei in vager Breite verwendet; ignoriert wird, daß De-Konstruktion gerade Essentialismus-Kritik heißt; daß de-konstruktivistischer Feminismus gerade Kritik essentialistischer Identitätspolitik, die um ein vermeintliches weibliches „Wesen“ kreist, heißt. [33])

Unterordnung feministischer, antirassistischer und anti-homophober Kämpfe unter „kollektives Identitätsbewusstsein als Klasse“ – die Nebenwiderspruchs-Politik der Gruppe Linkswende

Des weiteren heißt es in dem Artikel es müsse,

„klar gesagt werden, dass nur mit der Abschaffung der wesentlichsten Trennlinie innerhalb der Gesellschaft – eine Klasse beutet die andere aus – der Unterdrückung dauerhaft die Basis entzogen werden kann. Anstatt uns in unterschiedliche Identitäten wie Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aufteilen zu lassen, braucht es ein kollektives Identitätsbewusstsein als Klasse.“

Nur wird in dem Artikel weiterhin kein Argument dafür vorgebracht,
• warum die Klassenausbeutung die „Basis“ für „Unterdrückung“ von Frauen, Schwarzen, Queers usw. sein soll;
• warum es richtig sein soll, die Gemeinsamkeit als Klasse den Unterschieden zwischen Frauen und Männern; Schwarzen und Weißen überzuordnen – statt alle Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse gleichzuordnen.

Verdienst und Grenzen der leninschen Ökononismus-Kritik

Der Linkswende-Artikel endet mit folgendem Lenin-Zitat:

„der Volkstribun sein, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.“
(LW 5, 355 - 551 [437] – Was tun?; http://kpd-ml.org/doc/lenin/LW05.pdf)

Das war eine richtige und damals fortschrittliche Position gegenüber dem sog. Ökonomismus in der Sozialdemokratie der damaligen Zeit. Aber damals gab es auch noch nicht die theoretischen und politischen Errungenschaften der Neuen Frauenbewegung und der anti-rassistischen Kämpfe seit den 1960er Jahren. Heute wissen wir, daß Patriarchat und Rassismus nicht bloße „Erscheinungen […] der kapitalistischen Ausbeutung“ sind und daß es zur Überwindung von Patriarchat und Rassismus des Kampfes von Frauen und Schwarzen bedarf.

Die International Socialist Tendency, zu der die Gruppe Linkswende gehört, zitiert gerne den Satz von Karl Marx, „daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß“ (MEW 16, 14 - 16 [14] – Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation; https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band16.pdf).

Dies schließt ‚Klassenverrat‘ in mehr oder minder vielen Einzelfällen nicht aus; aber auf solche Einzelfälle läßt sich keine Strategie stützen.

Entsprechend gilt: Die Überwindung von Patriarchat einerseits und Rassismus andererseits kann nur das Werk von Frauen einerseits und Schwarzen andererseits sein – eine mehr oder (nach aller Erfahrung: eher) minder große Zahl von Männern und Weißen als Verbündete nicht ausgeschlossen.

Fortsetzung folgt.


[1Als eine .pdf-Datei: https://web.archive.org/web/20220526193348/https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Geschlechterpolitik_von_Marx_21_REV_indy.pdf;
dreiteilig als als .html-Seiten:
Zur geschlechter-politischen Position der Linkspartei-Strömung Marx21
https://tinyurl.com/byabt34b (http://www.scharf-links.de/90.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=79984&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=da19bebf8e)
Marx21 / Geschlechterverhältnis – Teil II: Weibliche Definitionsmacht oder „sachliche Untersuchung“ nach Art International Socialist Tendency?
https://tinyurl.com/yc3n5nmp (http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=80003&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=3e546006c4)
Marx21 / Geschlechterverhältnis – Teil III: Zurück zu den theoretischen Positionen von Marx21
https://tinyurl.com/ycktt9x5 (http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=80038&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=26b240e12e).

[2Vgl. dazu
• am Beispiel der zur Zeit von Marx „konstatierbare[n] ‚Funktionalität‘ auch und gerade der Errungenschaften der Arbeiterbewegung für den Akkumulationsprozeß des Kapitals“: Dies Funktionalität „wird [von Marx] nicht mit ihrer [der Fabrikgesetzgebung] Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn für die Akteure kurzgeschlossen“
sowie
• am Beispiel der Ausschließlichkeit der Thematisierung „ökonomische[r] Funktionalität“ (durch den Bielefelder Ansatz der feministischen Theoriebildung [hier: Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof]): Die „Ausschließlichkeit verstellt […] den Blick auf […] Eigendynamiken“ (Marianne Braig / Carola Lentz, Wider die Enthistorisierung der Marxschen Werttheorie, in: PROKLA H. 50, März 1983, 5 - 21 [16, 17]; https://prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1486/1418)
sowie außerdem
• „the danger of functionalist approaches lies in their over-emphasis on the smooth, at worst conspiratorial, reproduction of dominance and subordination and their failure to recognize the concrete historical conflicts and contradictions that characterize the formation and development of social relations.“ (Michèle Barrett, Women’s oppression today. Problems in Marxist Feminist Analysis, Verso: London, 19855, 23; https://archive.org/details/womensoppression00mich/page/264/mode/2up)

[3Vgl. verallgemeinernd: „It is not clear why any relationship should obtain between specific forms of male dominance and, for instance, the interests of capital“ (ebd., 24).

[4Vgl. beide – von mir unterschiedenen – Gesichtspunkte bzw. Konstellationen in einem Satz zusammenziehend: „it is unclear to me why it should be in the interest of capital generally to pay women wages that require the payment of larger wage to their husbands to enable them to support their wives.“ (ebd., 26).

[5Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band Der Wille zum Wissen, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 19958, S. 18: „Alles in allem geht es [in diesem Buch] darum, den Fall einer Gesellschaft zu prüfen, die seit mehr als einem Jahrhundert lautstark ihre Heuchelei geißelt, redselig von ihrem Schweigen spricht und leidenschaftlich und detailliert beschreibt, was sie nicht sagt, die genau die Mächte denunziert, die sie ausübt, und die sich von den Gesetzen zu befreien verspricht, denen sie ihr Funktionieren verdankt.“ Siehe dazu dann Kap. II „Die Repressionshypothese“ sowie Kap. III „Scientia Sexualis“, wo Foucault die Entstehung der Sexualwissenschaft im 19. Jh. analysiert.
In Kap. II zeigt Foucault für den Bereich der Schule (40-43) und ähnlich für die Bereiche der Beichte (28-32, bes. 30 oben), der Policey(wissenschaft) (im damaligen weiten Sinne von Policey) (35-39), der Justiz (43-45, bes. 45 untere Hälfte) sowie anhand literarischer Beispiele (32-35), daß seit dem 17. Jh. zwar „anders“, aber „nicht weniger, [sondern] im Gegenteil“ (40) mehr über Sex geredet und geschrieben wird – und zwar „nicht außerhalb der Macht oder ihr zum Trotz […], sondern genau dort, wo sie sich entfaltet und als ein Mittel zu ihrer Entfaltung; überall wurden Sprechanreize eingerichtet, Abhör- und Aufzeichnungsanlagen, Verfahren zum Beobachten, Verhören und Aussprechen.“ Außerdem wird Sexualität von einer bestimmten Art von Handlungen zu einer Identität (als HeterosexuelleR, Schwuler, Lesbe usw.) und auch dadurch (ge)wichtiger (58).

[6Michel Foucault, Nein zum König Sex. Ein Gespräch mit Bernard-Henri Levy, in: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Sexualität, Wissen und Wahrheit, Merve: [West]berlin 1978, 176 - 198 (180).

[7Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 19941, 238, 247.

[8Louis Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung) (1969/70), in: ders., Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, VSA: Hamburg/Westberlin, 1977, 108 - 153 (148, s.a. 140 ff. – Hv. getilgt).

[9Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität (Argument-Sonderband Neue Folge Band 251), Argument: Berlin/Hamburg, 1997, 304.

[10ebd., 305, der am – hier kursiv gesetzten – Ende des Zitates seinerseits Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Beltz Athenäum: Weinheim, 19942, 243 - 261 (255) zitiert.

[11Sabine Hark, deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Leske + Budrich: Opladen, 1996, 45.

[12Anmerkungen zur Präambel der Statuten der IV. Internationale unter teilweiser Berücksichtigung des Buches Was ist Trotzkismus? von Daniel Bensaïd und des Textes Who are we? der IV. Internationale, in: trend. onlinezeitung 9/2015, S. 12 f.

[14Ein umgedrehter Spieß. Zwanzig Thesen zum 1. Mai 2018; https://de.indymedia.org/sites/default/files/2018/05/Th_ad_fem_Kampf_kontra_pat_GV__mit_FN__FIN_1-5-18.pdf / https://web.archive.org/web/20190704201659/https://de.indymedia.org/sites/default/files/2018/05/Th_ad_fem_Kampf_kontra_pat_GV__mit_FN__FIN_1-5-18.pdf, S. 5 anknüpfend an die These der Roten Zora:
„die Frauenbewegung ist keine Teilbewegung wie die AKW-Bewegung oder der Häuserkampf, die sich überleben, wenn keine AKWs mehr gebaut werden und Spekulationsobjekte nicht länger zur Verfügung stehen. Die Frauenbewegung bezieht sich auf die Totalität patriarchaler Strukturen, auf deren Technologie, deren Arbeitsorganisation, deren Verhältnis zur Natur und ist damit ein Phänomen, das nicht mit der Beseitigung einzelner Auswüchse verschwindet, sondern erst in dem langen Prozeß der sozialen Revolution.“ („Widerstand ist möglich“. Die Rote Zora über ihr Selbstverständnis, in: Emma 6/1094, 39 - 41 [40])

[15Gerda Lerner, Die Entstehung des Patriarchats, Campus: Frankfurt [am Main] / New York, 1995, 25 zit. n. Revolutionäre Perspektive Berlin, Heraus zum feministischen Streik am 8. März 2019. Diskussionsbeitrag zu Patriarchat und Kapitalismus; https://perspektive.nostate.net/files/feminismus_2019_frauenstreik.pdf, S. 3.

[17Engels‘ Chronologie zeigt sich auch in der Reihenfolge der zitierten Seiten: zunächst der „Frauenraub“ (S. 51) – dann der Übergang zum Patriarchat (S. 58 - 61).

[18Siehe zur patriarchale Implikation des von Engels Dargestellten: Revolutionäre Perspektiven Berlin, „Frauenkampf heißt Klassenkampf?“; https://perspektive.nostate.net/files/feminismus_2016_positionierung.pdf, S. 3: „Praxis des Frauentauschs in den Stammesgesellschaften […], welcher auch Raub von Frauen und Vergewaltigung einschloss“.

[19Wird die Reproduktionsarbeit (im feministischen Sinne) von Konservativen nicht vielmehr sogar glorifiziert?

[20„Experience“, in: Judith Butler / Joan W. Scott (Hg.), Feminists Theorize The Political, Routledge: New York, 1992, 22 - 40 (26, 38); vgl. Joan W. Scott, Phantasie und Erfahrung, in: Feministische Studien 2/2001, 74 - 88 (74 f).

[21Fear of Queer Planet: Dimensionen lesbisch-schwuler Gesellschaftskritik, in: Das Argument H. 216, 4/1996, 525 - 537 (528).

[22Mary Berstein, Identity Politics, in: Nancy Naples (Hg.), Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies, Wiley Blackwell: Chichester, 2016, 1365 - 1367 (1365).

[23‚Jenseits‘ der Lesben Nation? Die Dezentrierung lesbisch-feministischer Identität, in: Verein Sozialwissenschaftliche Forschung für Frauen – SFBF – e.V. (Hg.), Zur Krise der Kategorien. Frau – Lesbe – Geschlecht, Selbstverlag: Frankfurt am Main, 1994, 89 - 112 (100), vgl. 89, 93 f, 98-100, 103.

[24identity, in: Lorraine Code (Hg.), Encyclopedia of Feminist Theories, Routledge: New York / London, 2000, 262 - 263 (262).

[25Mary Berstein, Identity Politics, in: Nancy Naples (Hg.), Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies, Wiley Blackwell: Chichester, 2016, 1365 - 1367 (1365).

[26z.B.: https://www.blackpast.org/african-american-history/combahee-river-collective-statement-1977 / https://wgs10016.commons.gc.cuny.edu/combahee-river-collective-black-feminist-statement / https://monthlyreview.org/2019/01/01/a-black-feminist-statement.
Deutsche Übersetzung in: Natasha A. Kelly (Hg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Unrast: Münster, 2019; Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1172589550/04.
„identity politics“ kam dort nur an einer Stelle vor – und wurde (nach dem Kontext zu urteilen) vor allem im Sinne der Ablehnung von StellvertreterInnenpolitik verwendet: „This focusing upon our own oppression is embodied in the concept of identity politics. We believe that the most profound and potentially most radical politics come directly out of our own identity, as opposed to working to end somebody else’s oppression.“ (in der Version bei wgs10016 Absatz 11: https://wgs10016.commons.gc.cuny.edu/combahee-river-collective-black-feminist-statement/#pTfuoooieitcoipWbtmpaprcdoaotwesesIcBwtaprdttrbioflaapmhpuamwltorpqwtpbTbrhle)

[27So z.B. Marcus Staiger in seinem Telepolis-Artikel zu den #LinkeMeToo-Fällen in der deutschen Linkspartei: „In Grauzonen könnte auf Einsichts- und Lernfähigkeit gesetzt werden.“ / „Nichtsdestotrotz sollte der aktuelle Aufarbeitungsprozess auch unter dem Gesichtspunkt erfolgen, dass jeder und jede auch eine zweite Chance verdient hat und dass Menschen lernfähig sind.“ (https://www.heise.de/tp/features/Sexismus-Die-Linke-ist-kein-Safe-Space-kann-sie-auch-nicht-sein-Leider-7068339.html)
Siehe dazu die Kritik an „harmonisierende[m] Gerede über ‚Einsichts- und Lernfähigkeit‘ statt kämpferischem Feminismus“: Bitte kein Nachspielen des staatlichen Strafprozesses mit Unschuldsvermutung, Beweisführung und Pipapo; https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Bitte_kein_Pipapo_contra_Staiger_indy.pdf / https://web.archive.org/web/20220511205111/https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Bitte_kein_Pipapo_contra_Staiger_indy.pdf.

[28Vgl. demgegenüber
• den Vorschlag, „den individualisierenden Begriff ‚Diskriminierung‘ durch die strukturelleren Begriffe ‚Herrschaft und Ausbeutung‘ zu ersetzen“ (http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/tCSD_ohne_offiziellen_Aufruf.pdf, S. 1)
und
• die rhetorische Frage, „ist es des weiteren so, daß Diskriminierung nicht das Entscheidende, sondern vielmehr ein Symptom einer grundlegenderen Struktur von Herrschaft und Ausbeutung ist, der es den Kampf anzusagen gilt?“ (http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Sieben_einfache_Fragen_dt_engl.pdf)

[29„Für mich war der Begriff ‚Umverteilung’ schon ein Zugeständnis und in gewissem Sinne eine Alternative zum Sozialismus oder vielleicht ein ‚Sozialismus light’. Ein Sozialismus, den man sich nicht traut, beim Namen zu nennen. In anderen Worten: als die Arbeiter*innenbewegungen und andere radikale Bewegungen, die sozialistischen Bewegungen gegen die grundlegenden Regeln der kapitalistischen Gesellschaft kämpften, wie die Eigentumsverhältnisse, die Aneignung des Mehrwertes, etc. sprachen sie nicht von ‚Umverteilung’, sondern von einer strukturellen Umwandlung.“ (https://www.klassegegenklasse.org/nancy-fraser-es-ist-moeglich-einen-radikalen-feminismus-mit-klarem-profil-aufzubauen). Den Begriff „Revolution“ vermeidet Fraser allerdings weiterhin.)

[30Worin Nancy Fraser weiterhin irrt. Anerkennungspolitik versus Umverteilungspolitik? Anmerkungen zur neueren Debatte über Feminismus und Antikapitalismus; https://www.nd-aktuell.de/artikel/1052065.worin-nancy-fraser-weiterhin-irrt.html.

[31Sabine Hark, deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Leske + Budrich: Opladen, 1996, 94; Hv. i.O.

[33„So wird bspw. oft ‚Identitätspolitik‘ mit ‚Postmoderne‘ in einen Topf geworfen, und gleichzeitig ‚Postmoderne‘ sehr breit verstanden (unter Einschluß nicht nur der ‚Postmoderne‘ im engeren Sinne, sondern auch von Poststrukturalismus und De-Konstruktion; außerdem ohne Rücksicht darauf, ob ‚Postmoderne‘ von ihren VertreterInnen als vermeintlich schon eingetretene Realität oder vielmehr als Kritik an vermeintlich noch fortbestehenden ‚modernen‘ Zuständen verstanden wird).
Wenn nun unter ‚Identitätspolitik‘ auch noch pauschal alles verstanden wird, was irgendwie mit „Identitäten“ zu tun hat, dann befinden wir uns endgültig in einer Nacht, in der alle Katzen grau sind: Dann werden nämlich De-Konstruktion von Identität einerseits und Affirmation und Essentialisierung von Identitäten andererseits in einen Topf geworfen, obwohl es sich um gegensätzliche Positionen handelt.“ (https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Bitte_kein_Pipapo_contra_Staiger_indy.pdf / https://web.archive.org/web/20220511205111/https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Bitte_kein_Pipapo_contra_Staiger_indy.pdf, S. 4, FN 10)

Anmerkung der Moderation

Wir fordern alle Autor*innen dazu auf, ihre Beiträge in möglichst sensibler Sprache zu verfassen. Kommunikation, Konflikt und Auseinandersetzung sind spannend und wichtig. Sprache schafft einen Rahmen dafür, und bestimmt wer sich an der Auseinandersetzung beteiligen kann und will. Deswegen plädieren wir für simple Grundsätze, ua. keine Personen von Diskursen auszugrenzen, koloniale oder paternalistische Denkmuster zu sehen und sich den eigenen Mustern stellen.

Weil Wörter und Begriffe sich laufend ändern, für das Ziel eine deutliche und möglichst diskriminierungsfreie Sprache zu schreiben und zu sprechen - solidarisch mit den Schreibenden und Lesenden!

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