Prinzipienreiter*innen mit Selbstbestätigungsfilm

veröffentlicht am 29. Juli 2022

Eine Soligruppe für Gefangene hat hier[1] kürzlich mehrere Texte von Malatesta wieder veröffentlicht. Vermutlich, um sich vor allem zu versichern, dass sie sich gegen ach so jegliche Herrschaft positionieren. Tatsächlich kann ich der Argumentation Malatestas weitgehend zustimmen. Umso bedauerlicher, dass die Soligruppe sie ahistorisch handhabt und sich nicht bereit zeigt, ihren Gehalt zu kontextualisieren und auf die heutige Situation zu übertragen.

Objektiv lässt sich durchaus sagen, dass der Krieg in der Ukraine – oder der in Syrien oder wo auch immer – nicht im Interesse des Großteils der Bevölkerung ist, sondern durch rivalisierende kapitalistische Staaten und andere autoritäre Akteure geführt wird. Anarchistisches Ziel muss es sein, dass der gegenwärtige Krieg beendet wird. Anarchistisches Ziel muss es aber eben auch sein, zu verhindern, dass Russland die Herrschaft über die Ukraine oder größere Teile von ihr erlangt, denn dies vermindert die Spielräume für soziale Kämpfe und den Grad sozialer Freiheiten und Rechte, welche die Ausgangsbedingung für etwaige zukünftige Verbesserungen – aufs Ganze gesehen, für die soziale Revolution – sind.

Die Einleitung, also das knappe Statement der Soligruppe strotzt vor romantischen Phrasen wie etwa: „Gegen die Kriege des Kapitalismus hilft nur Klassenkrieg, sozialer Krieg, Insurrektion/Aufstand und soziale Revolution. Wir haben kein Vaterland, wir sind Parias, wir werden keine eigene noch fremde herrschende Klasse verteidigen, es gilt sie alle anzugreifen und zu zerstören“. Liebe Genoss*innen ich glaube euch ja, das ihr das glaubt. Ich meine nur, dass fair wäre, dieses hochtönende Bekenntnis mit Inhalt zu unterfüttern und sich – statt sich vorrangig selbst zu versichern und in seinem Sektendasein wohlzufühlen – mit den Realitäten der russischen Invasion und des Regimes in Russland[2] auseinander zu setzen. Dies schließt selbstverständlich dessen Stützung durch Exportabhängigkeiten, Handelsbeziehungen, geostrategische Bedrohung, die raubtierkapitalistische Ausbeutung in den 90er Jahren, die Duldung von groben Menschenrechtsverletzungen durch westeuropäische Regierungen ein.

Besonders ärgerlich ist, dass im Statement mit groben Verdrehungen und Unterstellungen gearbeitet wird. Dies verwundert nicht, denn wo grundsätzlich nicht die Bereitschaft besteht, die eigenen Dogmen zu überdenken, verfallen ihre Verfechter in Stresssituationen eben in die Ultra-Orthodoxie. Genoss*innen auf die eine oder andere Weise in der Ukraine gegen die russische Invasion kämpfen zu unterstützen, ist nicht das gleiche, wie den ukrainischen Staat zu unterstützen. Zumindest dem Anspruch nach auf die Selbstorganisation und die Einmischung von Anarchist*innen im Krieg zu setzen, ist nicht das gleiche, wie eine Beteiligung am Krieg zu rechtfertigen. Mit dem Herzen bei ihnen zu sein bedeutet nicht, einem höchst problematischen Militarismus und Waffenfetischismus zu verfallen. Diese Position schließt auch nicht aus, Rheinmetall zu entwaffnen[3] und das 100 Mrd. Rüstungsbudget zu kritisieren.

Was übrig bleibt, sind moralisierende Todschlagargumente, die den pseudo-religiösen Charakter der Autor*innen offenbaren. Von „Verräter*innen“, „Konterrevolution“, „Reaktion“, „Reformismus“ und „Schande“ wird da herum posaunt. Mit diesem Bauchgefühls-Geblubber werden dann jene Genoss*innen diffamiert, welche sich differenzierter mit der Situation in Russland und der Ukraine auseinandersetzen. Dabei mutet es albern an, dass die Autor*innen über kaum eine Vorstellung von „Revolution“ zu verfügen scheinen. Dies nämlich würde bedeuten, sich einmischen und aktuelle Entwicklungen mitgestalten zu wollen – in Solidarität mit jenen, die sich für die Potenziale und Spielräume freiheitlicher gesellschaftlicher Transformation engagieren.

Wer dies nicht begreift und anerkennen möchte, verachtet Menschenleben für die eigene Prinzipientreue. Wenn das „anarchistisch“ sein soll, dann gute Nacht! Eure Denkweise (inklusive den Versatzstücken leninistischer Imperialismustheorie) kommt dem Bolschewismus näher als dem Anarchismus!

[1] https://emrawi.org/?Anarchistinnen-und-Anarchisten-haben-ihre-Prinzipien-vergessen-2235

[2] https://paradox-a.de/allgemein/das-leidige-thema-krieg-faschismus-und-emanzipation/

[3] https://rheinmetallentwaffnen.noblogs.org/

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