Warum möchten die USA eine Neustrukturierung der Peschmerga?

veröffentlicht am 22. November 2020

Was ist die Absicht hinter dem Plan der US-Führung, die Peschmerga neu zu organisieren und in eine moderne Armee zu verwandeln, fragt die Journalistin Meral Çiçek.

Als der „Islamische Staat” (IS) 2014 das Kalifat ausrief, kam dies einer Einladung zur Rückkehr für die US-Truppen gleich, die sich Ende 2011 offiziell aus dem Irak zurückgezogen hatten. Im August 2014 – bereits einen Monat bevor die Internationale Anti-IS-Koaliton gegründet wurde – führte die US-Armee in der Nähe der südkurdischen Stadt Mexmûr ihren ersten Angriff gegen den IS durch. Die Rückkehr der US-Truppen in den Irak war damit öffentlichkeitswirksam verkündet.

Zeitgleich verabschiedete der US-Kongress im Rahmen des Anti-IS-Kampfes ein „Train and Equip Program” für den Irak. Von den 1,6 Milliarden Dollar, die für das Programm vorgesehen waren, waren 353,8 Millionen für Südkurdistan vorgesehen. Von nun an stellte Washington kontinuierlich militärische Unterstützung zur Verfügung. Im Jahr 2017 belief sich die US-Unterstützung für Südkurdistan – Waffen, militärische Ausbildung und Gehälter für die Peschmerga – bereits auf 1,4 Milliarden Dollar. Die größte Militärunterstützung erfolgte im Jahr 2017, als die Operation zur Befreiung Mossuls aus den Händen des IS stattfand. Vor dieser Operation erhielt das südkurdische Peschmerga-Ministerium 415 Millionen Dollar an Hilfszahlungen. Die jährlichen US-Hilfszahlungen umfassen auch eine monatliche Zahlung von 20 Millionen Dollar für die Auszahlung der Peschmerga-Gehälter.

Selbst nach der Zerschlagung der IS-Herrschaft im Jahr 2017 dauerte die Hilfe der USA für Südkurdistan an. Der US-Kongress bewilligte 365 Millionen Dollar für 2018 und 290 Millionen für das Jahr 2019. Im Rahmen der Auszahlung der für 2020 vorgesehenen 250 Millionen Dollar Hilfszahlungen fand in der südkurdischen Stadt Hewlêr (Erbil) vor wenigen Tagen eine zweite Übergabezeremonie statt. Im September und November diesen Jahres wurden somit in zwei Tranchen militärische Güter übergeben, unter anderem 150 Humvee-Fahrzeuge (High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle).

Auch wenn die jüngsten Lieferungen wie eine Fortsetzung der seit sechs Jahren andauernden militärischen Unterstützung Washingtons für Südkurdistan erscheinen mögen, hat sich der Rahmen des im Kontext des Anti-IS-Kampfes entwickelten „Train and Equip”-Programms mittlerweile verändert. Denn in den Gebieten, die gemäß der politischen Landkarte seit Oktober 2017 von der kurdischen Regionalregierung kontrolliert werden, wird praktisch keine IS-Präsenz mehr verzeichnet. Auch beteiligten sich die Peschmerga in den letzten drei Jahren nur an sehr wenigen Militäroperationen. Diese Lage würde es eigentlich nicht erforderlich machen, die US-Militärhilfe für Südkurdistan auf fast unverändertem Niveau fortzusetzen. Vorausgesetzt, wir betrachten die Frage vor dem Hintergrund der IS-Gefahr.

Ohnehin stellt Washington die erwähnte Unterstützung nicht mehr im Rahmen des Anti-IS-Kampfes zu Verfügung. Vor der Übergabezeremonie, die vor wenigen Tagen stattfand, traf sich der Kommandant der in Südkurdistan stationierten US-Kräfte mit Vertretern des Peschmerga-Ministeriums. Er teilte während dieses Treffens mit, die US-Hilfe erfolge im Rahmen „der Neustrukturierung und Neuorganisierung der Peschmerga-Kräfte unter Aufsicht der Internationalen Koalition”. Was also ist die Absicht hinter dem Plan der US-Führung, die Peschmerga neu zu organisieren und in eine moderne Armee zu verwandeln?

Die bewaffneten Kräfte Südkurdistans befinden sich eher unter der Kontrolle zweier Parteien – der PDK (Demokratische Partei Kurdistans) auf der einen und der YNK (Patriotische Union Kurdistans) auf der anderen Seite – als von der Regierung kontrolliert zu werden. Westliche Staaten, insbesondere England, haben diesen Umstand in den vergangenen Jahren immer wieder als zu lösendes Problem auf die Tagesordnung gesetzt. Sie drängen alle Seiten dazu, die Peschmerga unter dem Dach eines Befehlszentrums zu vereinen. Diese Forderung ist also nicht neu. Doch sind die jüngsten Investitionen der USA in die Peschmerga nur im Rahmen dieser Agenda zu verstehen, oder existieren noch ganz andere Absichten?

In den USA ansässige Think-Tanks haben in ihren Analysen und Berichten insbesondere im vergangenen Jahr betont, Washington müsse die militärischen Zusammenarbeit mit Südkurdistan vertiefen. Sie verweisen darauf, dass dies von strategischer Bedeutung für die Sicherung US-amerikanischer Interessen im Mittleren Osten sei. Bei dem Thema „US-Interessen im Mittleren Osten” kommt einem meist zuerst der Konflikt mit dem Iran um die Hegemonie in der Region in den Sinn.

Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint die Vermutung durchaus berechtigt, dass die Neustrukturierungspläne für die Peschmerga nicht unabhängig von den regionalen Plänen der USA sind und dem Ziel dienen, den regionalen Einfluss des Iran zu brechen.

Militärische Kooperation und Unterstützung sind nichts Ungewöhnliches. Doch muss in diesem Fall die Priorität darin liegen, die Fähigkeit des kurdischen Volkes zu stärken, seine Existenz und Freiheit im Angesicht eines drohenden Völkermordes zu verteidigen. Sich in die Widersprüche und Konflikte anderer Kräfte verwickeln zu lassen, würde für die Kurdinnen und Kurden eine große Gefahr bedeuten. Das gilt ganz besonders in der aktuellen Phase.

Meral Çiçek studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während ihres Studiums begann sie, als Korrespondentin und Redakteurin für die einzige kurdische Tageszeitung in Europa Yeni Özgür Politika zu arbeiten, für die sie heute eine wöchentliche Kolumne schreibt. 2014 gründete sie mit anderen Frauen das Kurdish Women’s Relations Office (REPAK) in Silêmanî, dessen Vorsitzende sie ist. Außerdem ist sie Mitglied der Redaktion des dreimonatlich erscheinenden Magazins Jineolojî (kurd. „Wissenschaft der Frau”). Der hier veröffentlichte Artikel erschien erstmals am 17. November 2020 auf Türkisch unter dem Titel: ABD pêşmergeyi neden yeniden yapılandırmak istiyor?

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