DOES CONTEXT MATTER?

veröffentlicht am 16. November 2023

Mein scharfes Statement gegen den offenen Brief des sog. Literaturbetriebs hat neben großer Zustimmung auch einige Irritationen ausgelöst. Ob die Polemik wirklich sein müsse. Ich sei doch sonst immer so sachlich. Ob ich die Meinung und die gute Absicht der Unterzeichner nicht einfach respektieren könne. Überhaupt, was ich denn eigentlich sagen wolle. Ja sogar, ob mir meine Wut nicht vielleicht etwas über mich selbst mitzuteilen habe, wurde ich gefragt. Alles in – mehr oder weniger – genauso freundlicher Tonlage wie die vielen Anmerkungen und Fragen, die sich auf einzelne Punkte meines Postings bezogen.

Ich heiße Per Leo und bin für all diese Reaktionen dankbar. Und ich bin auch ein wenig stolz auf meine Crowd. Während anderswo gerade verbal alle Dämme brechen, wurde mein heftiger, auch verletzender Spott hier eher staunend als aggressiv quittiert. Insgesamt hat die Resonanz auf mein bekenntnishaftes Anti-Bekenntnis bei mir den Eindruck hinterlassen, dass es einen gewaltigen Aufklärungs- und Redebedarf gibt. Wie beginnen? Wenn ich die Kommentare jenseits von Dank und Zustimmung mal zusammenfasse, dann fließen sie für mich in einer Frage zusammen: Warum in aller Welt hat gerade dieser Brief dich so getriggert? Ich will eine Antwort versuchen. Weil sie lang, sogar sehr lang ausfallen wird, sei ihr ein kleiner Teaser vorangestellt.

Die folgenden Überlegungen werden auf die Behauptung hinauslaufen, dass die Solidarität mit der palästinensischen Sache in Deutschland zwar massenhaft existiert, aber sprachlos ist. Es gibt einen lauten Diskurs über diese Solidarität, aber sie selbst spricht nicht, oder wenn, dann kaum hörbar. Das Problem ist alles andere neu, doch mir scheint es bisher nur von anderen und vor allem anderswo beschrieben worden zu sein. Zum Beispiel von Edward Said, der in einem – unten verlinkten – Gespräch mit Salman Rushdie Ende der 1980er Jahre folgende Anekdote erzählte. Anlässlich irgendeines Vorfalls im Nahen Osten wurde Said zusammen mit dem stellvertretenden Botschafter Israels in ein amerikanisches Fernsehstudio eingeladen. Am Beginn des Gesprächs teilte der Moderator den Zuschauern mit, dass Edward Said und der Botschafter nicht bereit seien, im Gespräch direkt miteinander zu diskutieren. Said entgegnete, das treffe nicht zu. Er sei durchaus bereit, mit Mr. Netanyahu (yes, it’s him) zu reden, aber umgekehrt gelte das nicht.
– So, Mr. Ambassador, why aren’t you willing to talk with Professor Said?
– Because he wants to kill me.

1. Context matters. Ein Brief, der sich am 27. Oktober mit Israel und den Juden solidarisiert, kommt drei Wochen zu spät. Wäre die Aufforderung zur symbolischen Solidarität am 8. Oktober formuliert worden, als die Welt und insbesondere die jüdische Welt unter Schock stand, während auf der Sonnenallee gefeiert wurde, hätte man ihr nachkommen können oder nicht. Sie hätte jedenfalls keinen Anlass zur Kritik geboten. Und das moralische Urteil, das nie einen Kontext braucht, hätte in seiner Eindeutigkeit für sich stehen können: Erstens, es gibt keine Rechtfertigung für ein terroristisches Massaker. Zweitens, wer Mörder, Folterer, Sadisten, Vergewaltiger und Geiselnehmer bejubelt, hat jede moralische Glaubwürdigkeit verspielt. So einfach hätte es sein können. Aber so einfach ist es leider nicht mehr.
Denn inzwischen ist die moralische Eindeutigkeit des Attentats von der unerbittlichen Logik des Krieges eingeholt worden. Spätestens seit der Totalblockade des Gaza-Streifens, eigentlich aber schon, seit der israelische Verteidigungsminister dessen Bevölkerung als »human animals« bezeichnete, hat sich das lokale Verbrechen untrennbar mit dem internationalen Megakontext des Nahostkonflikts verknüpft. In rasender Geschwindigkeit wurde das moralische Urteil über das Massaker vom Langzeitgedächtnis dieses Konflikts verdrängt. Aber der Singular trifft es nicht. Denn genauer gesagt handelt es sich um zwei Langzeitgedächtnisse, zwei symbolische Erzählungen, die sich hermetisch gegeneinander verschließen, um die eigene Seite ins Recht, die andere ins Unrecht zu setzen.
Ich will diese identitätsstiftenden Erzählungen im Folgenden Mythos nennen. Doch präziser wäre die Bezeichnung: politischer Mythos. Denn den Mythos, dem wir den Begriff verdanken, den griechischen, muss man von dem hier gemeinten unbedingt unterscheiden. Wo jener die Zirkularität des Denkens und Handelns als Problem erkennt und daher zur Tragödie und zur Philosophie drängt, da ist dieser Mythos ein Medium der schlechten Unendlichkeit. Und wo die Moral keinen Kontext braucht, da muss die historische Selbsterzählung, um machtvoll zu bleiben, sich zwanghaft gegen alle Kontexte abschotten.

2. Context doesn’t matter. Israel ist für die meisten seiner Bürger und Juden in aller Welt der Staat, durch den ein zweitausend Jahre andauernder Zustand der Wehrlosigkeit – von der Tempelzer­störung 70 n. Chr. bis zum Holocaust – sein Ende gefunden hat. Und wie jede Nationalsymbolik kennt auch die israelische nur die mythologische Ewigkeit. Weil sich die Institutionen der Gegenwart in den Figuren der Vergangenheit spiegeln, erscheinen die Israeli Defense Forces (IDF), deren Unbezwingbarkeit seit 1967 fester Bestandteil der nationalen Selbsterzählung ist, als heroische Wiedergänger der Makkabäer, der Verteidiger von Masada, der Aufständischen im Warschauer Ghetto. Und umgekehrt sind die Feinde Israels, bis 1973 die arabischen Staaten, in Gegenwart und jüngster Vergangenheit palästinensische Terroristen und islamistische Milizen, Wiedergänger der Seleukiden, der Römer, aber natürlich vor allem der Nazis. Ein kurzer Streifzug durch die aktuelle Bilderwelt der sozialen Medien genügt, um zu begreifen, wie mächtig dieser Mythos der ewigen Selbstverteidigung auch die gegenwärtige Selbstwahrnehmung strukturiert. Israel erscheint als kleine blau-weiße Insel im grünen Meer der muslimischen Welt, die von Marokko bis Indonesien reicht. Die Leichen des 7. Oktober liegen neben denen von Bergen-Belsen und Auschwitz. Und das Meme der Stunde ist ein Foto, auf dem Mohammed Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, einträchtig neben seinem Gastgeber Adolf Hitler sitzt. Die Botschaft des israelischen Mythos ist klar: Seit es existiert, sieht sich das kleine Volk der Juden in einem asymmetrischen Kampf mit der Vernichtungsabsicht seiner mächtigen Feinde konfrontiert.

3. Context doesn’t matter. Wenn es eine Tragik des Nahostkonflikts gibt, dann liegt sie darin, dass der palästinensische Mythos eine ähnliche Struktur hat wie der israelische. Auch hier findet ein Volk seine Identität, indem es sich selbst als Opfer eines übermächtigen Feindes entwirft. Anders als die Juden haben es die Palästinenser jedoch nie geschafft, ihre Feinde zu bezwingen. Sie sehen sich selbst als Gruppe, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine Koalition aus jüdischen Siedlern und imperialistischen Großmächten Stück für Stück von ihrem Heimatboden vertrieben und verdrängt worden ist, um heute zersplittert, marginalisiert und eingepfercht im besetzten Westjordanland und im »Freiluftgefängnis« Gaza von der Willkür Israels und den Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft abhängig zu sein. Ein zweiter Unterschied liegt darin, dass sich die Palästinenser, weil ihre Sache ein ums andere Mal erfolglos war, in immer wieder neuen Figuren des Kampfes entwerfen und sich immer neue Heldenkostüme anziehen müssen. Als Aufständische gegen die britische Mandatsherrschaft und in der ersten Intifada waren sie Wiedergänger der katholischen Iren; als Aufständische gegen die jüdische Besiedlung Verbündete der SS; als Fedayyin Kopien des Vietcong; als PLO der anti-imperialen Nationalbewegung Algeriens; und heute evozieren sie entweder mit dem Szenario des Apartheidstaates den schwarzen Befreiungskampf in Südafrika, oder mit dem Szenario des Dschihad den Befreiungskampf der muslimischen Welt gegen den Westen. Und auch hier ist, bei aller Vielfalt der Motive, die Botschaft klar: Seit es existiert, sieht sich das kleine Volk der Palästinenser in einem asymmetrischen Kampf mit der Unterdrückung durch den übermächtigen Zionismus konfrontiert.

4. Context doesn’t matter. Weil mit dem ungelösten Konflikt seit über hundert Jahren auf beiden Seiten unzählige Erfahrungen einhergehen, die das eigene Narrativ zu bestätigen scheinen, ist das aktuelle Geschehen nach einem kurzen Moment des moralischen Schocks wieder fest in der Hand der nahöstlichen Doppelmythologie. Wo die einen den Vernichtungswillen der Hamas und die schlimmste Massengewalt gegen Juden seit der SHOAH sehen – da sehen die anderen eine Luftwaffe, die Kinder tötet, und die größte Zwangsumsiedlung von Palästinensern seit der NAKBA. Mythos bedeutet in diesem Zusammenhang eben nicht Fiktion, sondern: Deutung. Man begreift ein schwer auszuhaltendes Geschehen, indem man es wiedererkennt. Das ist menschlich. Und eigentlich ist es gut. Im Krieg aber, insbesondere wenn er kein begrenztes Ziel verfolgt, nähren sich die gegenläufigen Mythen aneinander und erschweren, gerade weil sie so zwingend erscheinen, das Umdenken, die Neudeutung, ohne die es keinen Frieden geben kann. Warum nicht?
Nichts entkräftet den Mythos zuverlässiger als die Frage nach den Gründen eines Unglücks. Sie zu stellen hieße, nach den vielfältigen Ursachen, Verflechtungen, Bedingungen, kurz: nach Kontexten zu suchen – vor allem aber sich auf den Kontext aller Kontexte im Krieg einzulassen: die Perspektive des Feindes. Doch der Mythos immunisiert sich selbst gegen diese Versuchung, indem er das Bündnis mit der kontextlosen Moral sucht. Und so endet die zentrale Frage nach der Ursache immer wieder nur im logischen Zirkel: Schuld ist der Täter. Und wenn es auch einzelne sein mögen, die das Verbrechen begehen, das Kollektiv des Täters scheint mitschuldig, weil es ihn gewähren ließ. Die manifeste Opfererfahrung verhindert die Reflexion über die eigene Verstrickung in das Geschehen, der Mythos der Mitschuld das Mitgefühl mit dem feindlichen Kollektiv. Auf beiden Seiten.

5. Context matters. Was hat all das mit uns zu tun? Sehr viel. Der Doppelmythos des Nahostkonflikts ist eine der mächtigsten Symbolwelten der globalen Gegenwart. Er kann in unterschiedlichen Kontexten Sinn stiften und Bedeutung erzeugen. Die arabisch-muslimische Welt und die Länder des globalen Südens erkennen im palästinensischen Mythos ihren post-kolonialen Kampf gegen die Übermacht des Westens wieder. Der Westen wiederum ist zerteilt in Gruppen, die sich einerseits in Konfrontation mit dem »barbarischen« Islamismus und der Feindseligkeit »unzivilisierter« Kulturen und/oder in schuldbewusster Reflexion über die eigene Judenfeindschaft im israelischen Mythos wiedererkennen; und in Gruppen, die sich andererseits protorevolutionär in Konfrontation mit dem kapitalistischen way of life und/oder in schuldbewusster Reflexion über die eigene Kolonialgeschichte mit dem palästinensischen Mythos identifizieren.
Als würden diese zwei Varianten des Doppelmythos nicht schon genug Unübersichtlichkeit stiften, wird die symbolische Lage noch komplizierter, wenn man zudem die innere Struktur der westlichen Gesellschaften in den Blick nimmt. Denn diese können sich nicht nur als Ganzes – sei es konfrontativ oder schuldbewusst – in Opposition zur »islamischen Zivilisation« und/oder dem »globalen Süden« begreifen. Sie sind auch hochdivers, funktional ausdifferenziert und von multiplen Konfliktlinien durchzogen. So hängt die Neigung zur einen oder anderen Seite auch von der sozialen und politischen Position ab. Die Rechte tendiert zu Israel, die Linke zu den Palästinensern, wobei sie aber mittlerweile auch in dieser Frage gespalten ist; der Kulturbetrieb wiederum hat eine Schlagseite zur Israelkritik, Wirtschaft und politische Klasse zur Israelsolidarität; postmigrantische Milieus aus der arabisch-muslimischen Welt erkennen – neben der kulturellen Verbundenheit – im palästinensischen Mythos oft die eigene prekäre Lage wieder; einwanderungskritische Milieus der Mehrheitsgesellschaft sehen sich umgekehrt durch die arabisch-muslimische Feindseligkeit gegen Israel in ihren Vorurteilen bestätigt.

6. Context matters. Und was hat das mit Deutschland zu tun? Sehr viel. Von allen westlichen Ländern ist keines so tief in die Doppelmythologie des Nahostkonflikts verstrickt wie Deutschland. Der wichtigste Grund liegt auf der Hand. Weil Deutschland das Land des Holocaust ist, unterhält die Bundesrepublik seit dem sog. Wiedergutmachungsabkommen von 1952 eine immer weiter ausgebaute Sonderbeziehung zu Israel, die neben diplomatischer, wirtschaftlicher, militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit immer schon auch eine kulturelle, um nicht zu sagen: ideologische Dimension besaß. Wie hältst du es mit Israel? – diese Frage hat im Gefolge von »1968« auch den politisch-kulturellen Diskurs der Bundesrepublik geprägt. Dass sie heute jedoch eine Bedeutung angenommen hat, vor der die Kulturkämpfe der 60er und 70er regelrecht verblassen, hat eine Reihe von Ursachen.
Zum einen haben die Konfliktparteien im Nahen Osten seit dem Scheitern des Friedensprozesses und dem Beginn der zweiten Intifada ideologisch und moralisch aufgerüstet. Man könnte auch sagen: Die die in den 90er Jahren noch vorhandene Bereitschaft, den Konflikt in seinen politischen und historischen Kontexten zu begreifen, ist auf beiden Seiten weitgehend verstummt. Während man für die palästinensische Sache zunehmend im Zeichen eines anti-rassistischen bzw. post-kolonialen Kampfs gegen »Apartheid« kämpft, wird von israelischer Seite die Feindseligkeit der arabisch-muslimischen Welt im Allgemeinen, der Palästinenser im Besonderen immer rigoroser als Ausdruck von »Antisemitismus« gedeutet. Zum anderen hat sich die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren rapide globalisiert. Nicht nur massenhafte Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern, auch die weltweite Vernetzung durch soziale Medien und transnationale Subkulturen hat den Nationalcontainer der Bundesrepublik wenn nicht gesprengt, so doch rissig gemacht. An undichten Stellen regnet, an einigen Lecks dringt die Weltgesellschaft regelrecht in unsere gute Stube ein.
Im gleichen Zeitraum hat aber zudem die bis in die 80er Jahre hinein eher anlassbezogene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Züge einer Zivilreligion angenommen. Auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität scheint es, als wollten sich die post-arischen Deutschen in ihrem zweiten Nationalstaat durch das Holocaustgedenken ihrer moralischen Läuterung vergewissern. Es ist ihnen aber bis heute nicht klar, wie tiefgreifend sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit durch die Institutionen und Monumente der sog. Erinnerungskultur verändert hat. Die Vielzahl der Opfergruppen und die historische Einheit des Tatzusammenhangs, die für Wissenschaft und die Geschichtskultur der 80er und 90er Jahre noch zentral war, stehen heute zunehmend im Schatten einer einseitigen Fokussierung auf den Holocaust. Die historische Erforschung des NS als Tätergesellschaft und des Zweiten Weltkriegs als einem integrierten Gewaltgeschehen, die in den 90er noch in voller Blüte stand, ist mittlerweile zum Orchideenfach geworden.
Diese Akzentverschiebung hatte einen doppelten Preis. Zum einen wurde der Massenmord an den europäischen Juden, bei allen unstrittigen Besonderheiten, aus seinen Kontexten isoliert und als »crime of all crimes« zum juristisch-moralischen Paradigma des »Genozids« verdinglicht. Zum anderen wurde, ganz im Sinne des unvermeidlich partikularistischen Genozidbegriffs, das »Nie wieder!«, das sich in den 80er Jahren als post-nationalsozialistischer Konsens herausgebildet hatte, immer stärker im Rahmen eines identitätspolitischen Paternalismus interpretiert. Aus dem universalistischen »Nie wieder Diktatur«, »Nie wieder Nationalismus und Krieg«, »Nie wieder eine rassistische Hierarchie des Lebenswerts« wurde zunehmend »Nie wieder Auschwitz« – und daraus wurde in den letzten Jahren allmählich: »Nie wieder Antisemitismus«. Wenn heute in Büchern oder Artikeln von »deutscher Erinnerungskultur« die Rede ist, dann werden die Cover und Zeitungsseiten fast zwanghaft mit einem Foto des Holocaustmahnmals illustriert. Und wenn der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung seinem Amt im Zeichen »unserer hart erarbeiteten Erinnerungskultur« Gravität verleihen will, lässt er sich zwischen den Betonstelen eben dieses Mahnmals fotografieren.
Wir haben es also mit einem doppelten Prozess zu tun. Auf der einen Seite hat sich in der Berliner Republik die politische Elite und ein gewichtiger Teil der Mittelschicht notdürftig, unbeholfen, aber allerbesten Willens auf das Holocaustgedenken als Minimalkonsens des zweiten deutschen Nationalstaats verständigt. Im Verbund mit einem ebenso vagen wie dramatischen Bekenntnis zur Sicherheit Israels als »Teil der deutschen Staatsräson« hat das, zwar nicht intendiert, aber dafür umso zwingender dazu geführt, dass das Erbe des Nationalsozialismus heute ganz anders interpretiert wird als noch vor 30 Jahren. In einer atemberaubenden dialektischen Volte ist aus einem Anlass zur deutschen Selbstaufklärung eine Verstrickung in den israelischen Mythos geworden.
In scharfem Kontrast dazu steht der zweite Prozess. Massenhafte Zuwanderung aus der arabisch-muslimischen Welt, aber auch zionismuskritischer Israelis und israelkritischer Juden haben zusammen mit transnational organisierten Subkulturen – vor allem dem Kunstbetrieb, einigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen sowie Protestbewegungen wie Black Lives Matter (und, wer hätte das gedacht, Fridays for Future) – dem palästinensischen Mythos zu einer starken Präsenz in Deutschland verholfen. Doch was symmetrisch klingt, ist es nicht. Während nämlich die Identifikation mit Israel fraktionsübergreifend in der politischen Klasse (Stichworte: Staatsräson, BDS-Resolution), im Journalismus (Stichworte: Springer, F.A.Z., Springer, Sascha Lobo, Springer, taz) und in der Zivilgesellschaft (Stichworte: Zentralrat der Juden, Deutsch-Israelische Gesellschaft, Antisemitismus-Definition der IHRA, antideutsche Zellen) verankert ist, hat die Offenheit für die palästinensische Perspektive, von Identifikation ganz zu schweigen, in Deutschland einen prekären Status. Dass hier wie dort ideologisch argumentiert wird, ist trivial. Nicht trivial ist dagegen die Asymmetrie der Konsequenzen. Wenn ich mich selbst zitieren darf:
»Beide Seiten betreiben Propaganda. Aber: Sie sind nicht gleich stark. Einseitige Parteinahmen für die Palästinenser können in Deutschland voraussetzungslos des israelbezogenen Antisemitismus bezichtigt werden. Und weil der Vorwurf mit zirkulärer Logik seine Begründung als Gewissheit voraussetzt, finden Vorwürfe in die Gegenrichtung kau Gehör. Denn sie werden nicht nur voraus­setzungslos, sondern unter den Voraussetzungen eben jener Seite wahrgenommen, gegen die sie sich richten. Die Behauptung, die Besatzung der palästinensischen Gebiete habe ein Apartheidsystem etabliert, gilt dann nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil es Israel ›delegitimiert‹; die Kritik des Zionismus als Siedlungskolonialismus mit rassistischer Grundlage nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil es Israel ›dämonisiert‹; die Forderung nach einem Rückkehrrecht für die Vertriebenen nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil ihre Erfüllung zu einer Majorisierung der jüdischen Bevölkerung führen würde und sie damit ›das Existenzrecht Israels infrage stellt‹ usw. Man hat es also nicht mit einer Symmetrie aus Meinung und Gegenmeinung zu tun, sondern mit einem ideologischen Gefälle, an dessen oberen Ende die eine Seite ihr Wissen pausenlos herabrollen lässt, während die andere ihr alternatives Wissen gegen einen Steinschlag aus Vorwürfen hinaufwuchten muss.«
Wer das für eine Behauptung hält, möge die Probe aufs Exempel machen. Wie viele Vertreter der israelischen Seite haben mit Ächtung oder ihrem Job bezahlt? Kein einziger. Und umgekehrt? Peter Schäfer, ein international renommierter Judaist, musste als Chef des Jüdischen Museums Berlin zurücktreten, nachdem Benjamin Netanjahu (!) eine Jerusalem-Ausstellung als zu palästinenser­freundlich kritisiert und kurz darauf eine Mitarbeiterin einen offenen Brief verlinkt hatte, in dem jüdische (!) Wissenschaftler Kritik an einer aus ihrer Sicht zu israelfreundlichen Antisemitismus­definition üben; Nemi El-Hassan, eine Journalistin mit palästinensischen Wurzeln, wurde vom WDR de facto entlassen, nachdem eine anti-islamische Plattform öffentlich gemacht hatte, dass sie als Jugendliche mit Hidschab an einem Protest gegen die Bombardierung von Gaza teilgenommen hatte; zahllose Veranstaltungen und Kulturereignisse wurden abgesagt, exemplarisch seien genannt: ein zionismuskritischer Workshop an der Kunsthochschule Weißensee (organsiert von einer Israelin), ein Stück am Metropoltheater München (eines palästinensischen Autors), eine Preisverleihung auf der Buchmesse (an eine palästinensische Autorin), eine Konferenz der Bundeszentrale für Politische Bildung (organisiert von einer Südafrikanerin und einem Amerikaner, beide jüdischer Herkunft). Zu diesen besonders prominenten Fälle gesellen sich die Medienskandale um die Ruhrtriennale 2020, die documenta 15, die Konferenz »Hijacking Memory«, die Dauererregung über »BDS-Kontakte«, den »importierten Antisemitismus« aus der muslimischen Welt usw. usw. Die Asymmetrie der Konsequenzen ist ein präzises Spiegelbild der asymmetrischen Kräfteverhältnisse in Israel und Palästina.

7. Context matters. Hat all das etwas mit Migration zu tun? Ja, sehr viel. Wie jede ideologische Hegemonie wird auch diese von denjenigen, die sie ausüben, gar nicht bemerkt. Man findet die eigene, einseitige Sicht auf die Dinge einfach normal. Und nicht nur das, man hält sie auch für moralisch wertvoll. Nirgendwo aber ist die Identifikation mit Israel stärker moralisch aufgeladen als in Deutschland, wo das »Nie wieder!« ausbuchstabiert wird als Stolz auf ein wiedererwachtes »jüdische Leben« und als Kampf gegen den »israelbezogenen Antisemitismus«. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das eine ist so erfreulich wie das andere ein echtes Problem. Dass sich im Land des Holocaust wieder über 200.000 Jüdinnen und Juden aus allen Himmelsrichtungen niedergelassen haben, ist ein kleines Wunder. Und im Übrigen auch ein Zeichen dafür, dass sich in Deutschland seit 1945 ein paar Dinge zum Guten verändert haben. Umgekehrt ist es ein nicht zu beschönigendes Problem, wenn auf pro-palästinensischen Demonstrationen »Tod den Juden« und »Juden ins Gas« skandiert wird, oder wenn sichtbare Juden bzw. jüdische Einrichtungen durch Schmierereien und Brandsätze in Haftung für israelische Missstände genommen werden. Das Problem liegt aber gar nicht im Kampf gegen diese tatsächlich skandalösen Zustand. Sondern darin, dass die palästinensische Sache jenseits ihrer hässlichen Fratze so gut wie gar nicht vorkommt. Dazu gleich mehr.
Sehr wohl bemerkt wird die ideologische Hegemonie, die unselige Verschmelzung von Erinnerungskultur und Israelidentifikation, dagegen von all jenen, die um des Friedens in unserem Land – aber auch im Nahen Osten – willen bemüht sind, BEIDE Seiten zu sehen, ihre tragische Verschränkung zu verstehen und den Geist der Versöhnung in die Gesellschaft zu tragen. Weil er sich ständig mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, durch »Äquidistanz« das Problem des Antisemitismus zu verharmlosen oder gar mit ihm gemein zu machen, ist schon der Versuch anstrengend. Und absurderweise trifft dieser Vorwurf nicht zuletzt Israelis und Juden, die sich kritisch-selbstkritisch mit Israel auseinandergesetzt und vom israelischen Mythos emanzipiert haben und daher bereit sind, den Kontext aller Kontexte in den Blick zu nehmen: die palästinensische Perspektive. Ich will hier keine Namen nennen. Aber allein die Zahl der öffentlich sichtbaren dürfte dreistellig sein. Dass man sich in Deutschland gegenüber der Ambiguitätstoleranz dieser jüdisch-israelischen Position intolerant oder bestenfalls gleichgültig zeigt, belegten gerade wieder die Reaktionen auf einen offenen Brief, in dem eine Reihe namhafter Philosophinnen, Wissenschaftler, Künstlerinnen und Schriftstellern jüdischer Herkunft die repressive Gangart gegenüber pro-palästinensischen Versammlungen beklagte. (Ich habe ihn in der Kommentarspalte verlinkt). Dieser Brief wurde weitgehend ignoriert. Und nicht immer war es mit Ignoranz getan. So schrieb etwa ein germanischer »Freund« auf Facebook, er könne hier nichts als »jüdischen Selbsthass« erkennen; andere nannten den Brief antisemitisch. Ich denke mir das nicht aus. Es sind leider ganz alltägliche Erscheinungsformen einer deutschen Neurose, die den meisten gar nicht auffällt.
Vor allem aber wird die ideologische Hegemonie, die unselige Verschmelzung von Erinnerungskultur und Israelidentifikation, von denjenigen bemerkt, die sich mit den Palästinensern verbunden fühlen oder mit dem palästinensischen Mythos identifiziert sind. Hierfür kann es politische Gründe geben. Doch meist sind sie persönlicher Natur. Deutschland ist die Heimat der europaweit größten palästinensischen Diaspora, etwa 200.000 von ihnen leben hier. Zudem ist Deutschland ist die Heimat von Millionen Menschen, deren Wurzeln im arabischen und muslimischen Raum liegen. Und Deutschland ist die Heimat von weiteren Millionen, die aus anderen Regionen des globalen Südens zu uns gekommen sind. All diese Menschen haben, sei es herkunftsbedingt, sei es aus religiöser Solidarität, sei es aus Solidarität mit einem Volk in prekärer Lage ein hypersensibles Gespür für das Schicksal der Palästinenser sowie ein detailliertes Wissen über den Alltag im besetzten Westjordanland, die Lebensverhältnisse im abgeriegelten Gaza und die messianische, offen rassistische Umdeutung des zionistischen Projekts. Dass sie nicht ganz so sensibel für die zahllosen strategischen Fehler, die terroristische Gewalt, die islamfaschistische Despotie der Hamas und die antisemitischen Implikationen des Antizionismus sind, ist genauso unbestritten wie das Versagen der arabischen Staaten, die populistische Instrumentalisierung anti-israelischer Ressentiments und die fanatische Israelfeindschaft des Iran.
Doch das deutsche Problem liegt nicht in der Leugnung dieser Missstände, sondern in der asymmetrischen Zuweisung kollektiver Verantwortung. Man könnte auch sagen: im doppelten Standard. Denn während sehr laut und zu Recht beklagt wird, wenn Juden hierzulande in Haftung für die Verfehlungen Israels genommen werden, genügt auf pro-palästinensischen Demonstrationen ein einziger Schrei, der die berechtigte Solidarität und die legitime Kritik zur Judenfeindschaft hin überschreitet, um die palästinensische Sache als Ganzes zu diskreditieren. Oder um eine Menge, die aus unterschiedlichen Richtungen zusammenkommt, in erpresserischer Manier zur Distanz von einem Terrorismus zu zwingen, den die meisten Demonstranten genauso wenig unterstützen wie die meisten Juden Besatzung und Besiedlung des Westjordanlandes.
Das Problem der pro-palästinensischen Stimmen in Deutschland liegt aber nicht nur darin, dass man sie nicht hört. Sondern dass man, erstens, nur die lauten Stimmen auf der Straße wahrnimmt. Dass, zweitens, die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht bereit ist, die Stimmen der Straße zu unterschei­den: nämlich den antisemitischen Hass, die blinde Wut auf Israel von dem nicht minder starken, aber komplizierteren Ausdruck des Mitleids, der Hilflosigkeit und der Trauer angesichts eines unverschuldeten Leids, das jedem Menschen, der es an sich heranlässt, das Herz brechen muss. Und dass, drittens, all die nicht von Hass, sondern von Empathie und Solidarität erfüllten Menschen sich von einer exzessiv einseitigen Gesellschaft vorhalten lassen müssen, einseitig zu sein.

8. Context matters. Und was hat all das mit dem deutschen Literaturbetrieb zu tun? Sehr viel. Die bisher beschriebenen Zustände sind deutsche Normalität. Sie ist nicht schön, aber irgendwie haben sich alle in ihr eingerichtet, die einen selbstgerecht, die anderen unzufrieden und wütend. Seit dem 7. Oktober aber erleben wir einen Exzess der Selbstgerechtigkeit. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, erleben wir bald auch einen Exzess der Wut. Nach einem kurzen Moment der moralischen Eindeutigkeit, in dem wohlmeinende Menschen aus allen Richtungen der Gesellschaft vereint waren im Entsetzen über das Massaker der Hamas und den Jubel auf der Sonnenallee, herrscht wieder Krieg im Nahen Osten. Und da nach dem grausamen Verbrechen an Juden nun auch dieser Krieg vor allem auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wird, sind beide Mythen, der israelische wie der palästinensische, voll entflammt und im gegenläufigen Ausdruck von Trauer und Wut vereint. Die Frage nach der Schuld spielt dabei überhaupt keine Rolle. Sie ist, anders als beim Verbrechen, viel zu kompliziert, um sich inmitten des Geschehens eindeutig beantworten zu lassen. Es geht einzig und allein um die Berechtigung all der starken Gefühle, die sich in jedem Krieg, aber besonders in diesem immer und immer wieder regen. In welche Richtung sie sich neigen, ist wie jedes Gefühl eine Sache von Schicksal und Zufall. Mit beiden Seiten zu fühlen, erfordert im Krieg eine fast übermenschliche Kraft. Wer sie aufbringt, verdient nichts als Bewunderung. Fordern kann man sie nicht. Und wenn man menschliche Solidarität mit den Opfern eines Verbrechens erwarten kann – die politische Solidarität mit einem Staat im Kriegszustand zu fordern, läuft auf Erpressung hinaus.
Zum Exzess der deutschen Moral gehört aber nicht nur die einseitige Forderung nach Ausgewogenheit. Es gehört dazu auch die Skandalisierung und die Verzerrung der Einseitigkeit. Ich habe irgendwann aufgehört, die Berichte über den Antisemitismus in »Neukölln« zu zählen. Jedenfalls stand deren Zahl in einem grotesken Missverhältnis zu den ganz wenigen Reportagen, die versuchten, sich eine Innenansicht der Verhältnisse zu verschaffen. Die einfach mal mit Leuten sprachen. Und ihnen zuhörten. Diese seltenen Versuche machten unfassbar leise, verzagte und unsichere Stimmen hörbar, die – oft erst nach einem Wechsel ins Arabische – keinerlei Sympathie für die Hamas zeigten, aber zugleich zum Ausdruck brachten, wie schwer es ihnen fällt, ihrer deutschen Umwelt das eigene Anliegen zu vermitteln. Und warum? Weil sie ständig in Haftung genommen werden für Untaten, mit denen sie sich nicht identifizieren, während sie zugleich Missbilligung erfahren für eine Identifikation, die sich nicht in Solidarität mit Israel übersetzen lässt. Jouanna Hassoun, eine Sozialwissenschaftlerin palästinensischer Herkunft, die zusammen mit ihren jüdischen Kollegen Shai Hoffmann an deutschen Schulen Aufklärung in Sachen Nahostkonflikt betreibt, äußerte sich in einem Radiointerview kürzlich im gleichen Sinn. Es sei äußerst schwierig, öffentlich Solidarität und Empathie mit der Zivilbevölkerung in Gaza zu zeigen, ohne sich zugleich für diese Gefühle rechtfertigen zu müssen. Ein Gespräch auf Augenhöhe, so konnte man ihrer Schilderung entnehmen, sei praktisch nicht möglich, wenn die normale Haltung der Umwelt nicht in der Bereitschaft zum Zuhören, sondern der Forderung von Bekenntnissen besteht. Und diese erpresserische Haltung verbindet sich mittlerweile mit dem immer stärkeren Ruf nach Repression. Pro-palästinensische Versammlungen wurden reihenweise aufgelöst oder gar nicht zugelassen. Die Forderungen nach forcierter Abschiebung, leichterer Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder einem Israel-Bekenntnis beim Einbürgerungstest werden schriller, der Widerspruch gegen diesen Populismus der Mitte immer leiser.
Das Tragische an dieser moralischen Panik liegt nicht zuletzt darin, dass sich moderate, aber selbstbewusste, differenzierte und zugleich konfliktbereite Stimmen im Namen der palästinensischen Sache gar nicht entwickeln können. Kaum jemand ist bereit, sich einen missverständlichen oder auch nur irritierenden Satz wochenlang um die Ohren hauen zu lassen oder den eigenen Ruf dadurch zu ruinieren, dass man schlichte Selbstverständlichkeiten ausspricht. Elisabeth von Thadden brachte in der ZEIT diese Not gerade beklemmend auf den Punkt:
»[D]ie Suche nach Stimmen palästinensischer Intellektueller, Autorinnen, Juristen ist gegenwärtig oft ergebnislos, wenn wir sie darum bitten, der deutschen Öffentlichkeit ihre Perspektive auf die Katastrophe im Nahen Osten darzulegen. Ein Anwalt bedauert, ihm fehle die Zeit, eine Schriftstellerin kann den üblichen Regeln eines Interviews nicht zustimmen, eine Journalistin gibt das Risiko zu bedenken, dem sie sich aussetzt, wenn sie in Deutschland spricht, ein Unternehmer, der im Westjordanland tätig ist, ringt mit den Worten. Es vergehen gegenwärtig auch Tage der ungeschriebenen und ungedruckten Texte. Manche der Absagenden zögern auch, zweifellos, um ihre Haltung zu überdenken und um sich nicht in den eigenen Milieus ins Abseits zu stellen. Einsamkeit ist im Krieg für niemanden angenehm. Es wird um Verständnis gebeten: Man sei erschöpft, habe keine Worte mehr. Danke, dass Sie uns fragen, heißt es dann, aber ein Gespräch, das die Würde wahrt, sei nicht möglich, es führe nach aller Erfahrung zu nichts. Unterdessen füllen die israelischen Kollegen, trotz des Schocks, unter dem sie seit den Massakern der Hamas stehen, unsere Seiten und halten dabei auch mit harter Kritik an ihrer eigenen Regierung nicht zurück. Dieses Unverhältnis ist verstörend, wenn man selbst noch immer der professionellen und kulturellen Überzeugung ist, dass wer den Worten nicht mehr traut, innerlich bereits stirbt. Kollabiert das Symbolische, so bleibt nur Gewalt.«

9. Context matters. Kollabiert das Symbolische, bleibt nur Gewalt – ganz so dramatisch würde ich es nicht ausdrücken. Aber doch so: Kollabiert die Sprache, bleiben nur Spruchbänder und Phrasen. Und, finally, apropos Sprachkollaps. Meine Kritik am offenen Brief des deutschen Literaturbetriebs bezog sich nicht, wie mehrfach unterstellt, auf die Peinlichkeit, dass er in einem unsäglich schlechten Deutsch verfasst worden ist. Das Problem liegt viel tiefer, nämlich in einem doppelten Verrat an der Literatur. Die Sprache ist das eine. Viel schwerer aber wiegt der Umstand, dass hier Schriftsteller nicht das tun, was ihr Beruf wäre, nämlich Unsichtbares sichtbar, Leises laut, Kompliziertes lesbar zu machen, sondern im Gegenteil das Offensichtliche aufgeblasen, Gräben vertieft und ideologische Verhältnisse legitimiert haben. Dass das in lauterer Absicht geschah, macht das Versagen nicht leiser.
Wenn sich deutsche Schriftsteller in einem Moment der Not solidarisch an die Seite ihre jüdischen Mitbürger stellen, wäre das aller Ehren wert – wenn sie nicht gleichzeitig die Not aller jener verschleiern würden, die sich mit dem Leid der Menschen in Gaza solidarisieren. Und das ist eigentlich noch zu wenig gesagt. Denn während post-arische »Deutsche« gegenüber »den Juden« in einem kostenlosen Reenactment das nachholen, was ihre arischen Vorfahren 1933 leider zu tun versäumten, bleibt eine dritte Gruppe in ihrem Leid unerwähnt, von ihren Erfahrungen ganz zu schweigen. Sie kommt zwar vor, aber nur in einer Form, die man auf Englisch »token« nennt: als Repräsentant einer Gefahr – für Juden. Und erst mit dieser dritten Gruppe, die als Träger migrantischer Judenfeindschaft codiert wird, ist die historische Farce komplett. Deutsche schützen Juden vor Antisemiten. Hurra, besser spät als nie! Und wenn man das, um die Kernschmelze unserer Erinnerungskultur komplett zu machen, dann auch noch mit einem Aufruf zur Solidarität mit Israel verbindet, hört sich sogar der Gegenslogan zu »Never Again is now« plötzlich halbwegs vernünftig an: Free Palestine from German guilt. Es bleibt ein Slogan, dessen Verstrickung in den palästinensischen Mythos unbestreitbar ist. Aber dass es sich um eine »postkoloniale« Version der neurechten Hetze gegen den »Schuldkult« handelt, wie ausnahmslos alle Kommentatoren behauptet haben, kann nur sagen, wer sich wirklich absolut überhaupt nicht für die Wirklichkeit interessiert, über die er gerade zu schreiben vorgibt. Dass keinem einzigen Juden in Deutschland, abgesehen von einem kurzen Moment der Dankbarkeit, den manche vielleicht empfinden mögen, damit in irgendeiner Weise geholfen ist: geschenkt. Aber dass damit die Verstrickung in die Mythologie des Nahostkonflikts vertieft und die Logik des Krieges in die deutsche Gesellschaft getragen wird: Das ist eine unverzeihliche Perversion der Moral.
Und auch hier gilt: Wer das für eine leere Behauptung hält, mache die Probe aufs Exempel. Die Soziologie des Briefs ist von erschütternder Eindeutigkeit. Initiiert von zwei post-arischen Deutschen, haben mittlerweile fast 700 – angebliche – Mitglieder des deutschen Literaturbetriebs den Brief unterzeichnet. Dass sich darunter auch viele jüdische Autoren befinden, ist nachvollzieh­bar und kein Anlass zur Kritik. Dass die überwiegende Mehrheit sogenannte Kartoffeln sind, deren Vorfahren vor 80 Jahren als deutsche »Volksgenossen« galten, muss man niemandem zum Vorwurf machen. Aber dass sich unter den Unterzeichnern praktisch keine Namen arabischer, muslimischer oder globalsüdlicher Herkunft befinden, ganz zu schweigen von der vollständigen Abwesenheit all jener postmigrantischen Autorinnen und Autoren, die seit Jahren die deutsche Literatur rocken: Das ist beklemmend. Und es ist kein Zufall. Was sich in diesem Brief zeigt, ist nicht die deutsche Gesellschaft. Und schon gar nicht die deutsche Literatur. Was sich zeigt, ist eine klaffende Lücke. Das Schweigen der Dritten, die Abwesenheit all jener, die sich mit der palästinensischen Sache identifizieren und ja, auch mit dem palästinensischen Mythos – dieses Schweigen ist dröhnend.

10. Context doesn’t matter. Es klingt so schrecklich banal, und zugleich wie ein Ruf aus dem hintersten Winkel des Weltalls. Der einzige Ausweg aus der Wiederholung des Mythos, der Verstrickung in Tragödie und dem ewigen Zirkel des Krieges liegt im Willen zum Frieden. Wer das für naiv oder im schlechten Sinne utopisch hält, der möge sich gewissenhaft nach den Alternativen fragen. Und dann möge sie sich das verlinkte Video ansehen. Es zeigt, wie anfangs erwähnt, ein Gespräch zwischen Salman Rushdie, dem gerade, gewissermaßen aus dem Innersten des Literaturbetriebs, der Friedenspreis (!) des Deutschen Buchhandels (!) verliehen wurde, und Edward Said, der leisesten, zartesten, klügsten, humorvollsten, kritischsten, menschlichsten, kämpferischsten und friedlichsten Stimme, die Palästina je hervorgebracht hat. Wir sollten nach Frieden streben. Aus Sorge um uns selbst, um unser Land. Aber auch aus Solidarität mit Israel, um seiner Sicherheit und um des Lebens der Geiseln willen.

Das Gespräch zwischen Salman Rushdie und Edward Said:
https://www.youtube.com/watch?v=vAmLNc_4VtE
Der Brief jüdischer Autoren:
https://taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/

Quelle: https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=pfbid05VPJ23xRNxGymW7C8tsykCnCoMyMwnAEYyfegY6QtcN5Kv3GMhRXjV3PGso4zK13l&id=762740689

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