Das Virus überleben: Ein anarchistischer Leitfaden

veröffentlicht am 22. März 2020

Kapitalismus in der Krise – Aufkommender Totalitarismus – Strategien des Widerstands

Die Pandemie wird in den nächsten Wochen nicht vorübergehen. Selbst wenn es durch strenge Eindämmungsmaßnahmen gelingt, die Zahl der Infektionen auf das Niveau von vor einem Monat zu senken, könnte sich das Virus wieder exponentiell ausbreiten, sobald die Maßnahmen ausgesetzt werden. Die derzeitige Situation wird wahrscheinlich noch monatelang anhalten – plötzliche Ausgangssperren, uneinheitliche Quarantänen, zunehmend verzweifelte Bedingungen – , auch wenn sie sicherlich andere Formen annehmen werden, wenn die inneren Spannungen überkochen. Um uns auf diesen Moment vorzubereiten, sollten wir uns und einander vor der Bedrohung durch das Virus schützen, die Fragen nach dem Risiko und der Sicherheit, die die Pandemie mit sich bringt, durchdenken und uns mit den katastrophalen Folgen einer Gesellschaftsordnung auseinandersetzen, die von vornherein nicht auf die Erhaltung unseres Wohles ausgerichtet war.

Dieser Podcast https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html bietet medizinische Ratschläge und wissenschaftliche Einschätzungen für den Umgang mit dem Virus; in diesem Text wird die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe angesprochen. Eine Liste von Initiativen zur gegenseitigen Hilfe in den USA finden ihr hier und in Deutschland hier.

Das Virus überleben

Langjährige anarchistische Organisations- und Sicherheitsformen haben viel zu bieten, wenn es darum geht, die Pandemie und die von ihr verursachte Panik zu überleben.

Eine Bezugsgruppe bilden

Die Aussicht auf Quarantäne sagt viel darüber aus, wie wir bereits davor gelebt haben. Diejenigen, die in eng verbundenen Familien oder fröhlichen Hausprojekten leben, sind in einer viel besseren Situation als diejenigen, die in zerbrochenen Ehen leben oder große leere Häuser ganz für sich allein haben. Das ist eine gute Erinnerung an das, was im Leben wirklich zählt. Trotz der Sicherheitsmodelle, die durch den bürgerlichen Traum vom vereinzeltem Reihenhaus und die US-Außenpolitik, die diesen widerspiegelt, repräsentiert werden, sind Zusammengehörigkeit und Fürsorge viel wichtiger als die Art von Sicherheit, die davon abhängt, sich von der ganzen Welt abzuschotten.

»Soziale Distanzierung« darf nicht völlige Isolation bedeuten. Wir werden nicht sicherer sein, wenn unsere Gesellschaft auf einen Haufen atomisierter Individuen reduziert wird. Das würde uns weder vor dem Virus noch vor dem Stress dieser Situation oder vor den autoritären Maßnahmen schützen, die Kapitalismus (Anmerkung von EmRaWi: Link gelöscht¹) und Staat vorbereiten. So sehr die älteren Menschen durch das Virus gefährdet sind, so sehr sind ältere Menschen in dieser Gesellschaft bereits gefährlich isoliert; sie von jeglichem Kontakt mit anderen abzuschneiden wird ihre körperliche oder geistige Gesundheit nicht erhalten. Wir alle müssen in eng miteinander verbundene Gruppen eingebettet werden, um sowohl unsere Sicherheit als auch unsere kollektive Fähigkeit, das Leben zu genießen und zu handeln, zu maximieren.

Wähle eine Gruppe von Menschen, denen du vertraust – idealerweise Menschen, mit denen du das tägliche Leben teilst, die alle ähnliche Risikofaktoren und ein ähnliches Maß an Risikotoleranz aufweisen. Um den Virus zu überleben, ist das deine Bezugsgruppe, der Grundbaustein einer dezentralisierten anarchistischen Organisation. Du musst nicht unbedingt im selben Gebäude mit ihnen leben; wichtig ist, dass ihr die Risikofaktoren gemeinsam auf das Level reduzieren könnt, mit dem sich alle abfinden können. Wenn die Gruppe zu klein ist, wird sie isoliert sein – und das wird besonders dann ein Problem sein, wenn eine*r krank wird. Wenn die Gruppe zu groß ist, setzt sie sich zu stark einem unnötigen Infektionsrisiko aus.

Sprecht miteinander, bis ihr gemeinsame Vorstellungen davon habt, wie ihr mit dem Risiko einer Ansteckung umgehen wollt. Das kann alles sein, von der totalen physischen Isolation bis zur gegenseitigen Erinnerung an die Verwendung von Handdesinfektionsmitteln nach Berührung von Oberflächen in der Öffentlichkeit. Solange keine*r aus der Gruppe das Virus hat, könnt ihr euch immer noch umarmen, küssen, gemeinsam Essen zubereiten, dieselben Oberflächen berühren – solange ihr euch über den Grad des Risikos einig seid, den ihr gemeinsam zu tolerieren bereit seid und direkt darüber sprecht sobald ein neuer Risikofaktor auftaucht.

Das ist es, was wir unter Sicherheitskultur verstehen: die Praxis, eine Reihe gemeinsamer Vorstellungen zu erarbeiten, um Risiken zu minimieren. Wenn wir es mit polizeilicher Repression und der Überwachung des Staates zu tun haben, schützen wir uns durch den Austausch von Informationen auf einer Need-to-know-Basis. Wenn wir es mit einem Virus zu tun haben, schützen wir uns, indem wir die Faktoren kontrollieren, über die sich Ansteckungen ausbreiten können.

Es ist nie möglich, Risiken ganz zu vermeiden. Es geht darum, festzulegen, mit wie viel Risiko du dich wohlfühlst, und sich so zu verhalten, dass du, falls etwas schief geht, nichts bereuen wirst, da du weißt, dass du alle Vorkehrungen getroffen hast, die du für notwendig erachtet hast. Wenn du dein Leben mit einer Bezugsgruppe teilst, kannst du gesellig und vorsichtig sein.

Möglichkeiten, wie mensch sich trotz »sozialer Distanzierung« weiterhin über sichere digitale Plattformen mit anderen Gefährt*innen organisieren kann, findest du hier.

Ein Netzwerk bilden

Selbstverständlich wird deine Bezugsgruppe allein nicht ausreichen, um alle deine Bedürfnisse zu befriedigen. Was ist, wenn du Ressourcen benötigst, auf die keine*r von euch sicher zugreifen kann? Was ist, wenn alle krank werden? Ihr müsst mit anderen Bezugsgruppen in einem Netzwerk gegenseitiger Hilfe verbunden sein, so dass, wenn eine Gruppe im Netzwerk überfordert ist, die anderen ihr zu Hilfe kommen können. Wenn ihr euch an einem solchen Netzwerk beteiligt, könnt ihr Ressourcen und Unterstützung zirkulieren lassen, ohne dass sich alle dem gleichen Risiko aussetzen müssen. Die Idee ist, dass Menschen aus verschiedenen Gruppen des Netzwerkes, wenn sie miteinander interagieren, viel strengere Sicherheitsmaßnahmen anwenden, um zusätzliche Risiken zu minimieren.

Der Ausdruck »gegenseitige Hilfe« wurde in letzter Zeit oft in den Raum geworfen, sogar von Politiker*innen (Anmerkung von EmRaWi: Link gelöscht²). Im eigentlichen Sinne beschreibt die gegenseitige Hilfe nicht ein Programm, das einseitige Hilfe anbietet, wie es eine Wohltätigkeitsorganisation tut. Vielmehr ist es die dezentralisierte Praxis der gegenseitigen Hilfe, durch die die Teilnehmer*innen eines Netzwerks sicherstellen, dass jede*r das bekommt, was er/sie braucht, so dass jede*r Grund hat, in das Wohlergehen der anderen zu investieren. Es geht nicht um einen Austausch von Gegenleistungen, sondern um einen Austausch von Care und Ressourcen, der die Art von Redundanz und Widerstandsfähigkeit schafft, die eine Gemeinschaft in schwierigen Zeiten aufrechterhalten kann. Netzwerke der gegenseitigen Hilfe gedeihen am besten, wenn es möglich ist, über einen langen Zeitraum hinweg gegenseitiges Vertrauen mit anderen aufzubauen. Mensch muss nicht jede*n im Netzwerk kennen oder gar mögen, aber jede*r muss dem Netzwerk so viel geben, dass die Bemühungen zusammen ein Gefühl des Wohlergehens schaffen.

Der Rahmen der Reziprozität könnten dem Anschein nach zu einer sozialen Aufteilung führen, bei der sich Menschen aus ähnlichen sozialen Schichten mit ähnlichem Zugang zu Ressourcen gegenseitig anziehen, um die beste Rendite aus der Investition ihrer eigenen Ressourcen zu erzielen. Aber Gruppen mit unterschiedlichem Hintergrund können Zugang zu einem breiteren Spektrum verschiedener Arten von Ressourcen haben. In diesen Zeiten kann sich finanzieller Reichtum als weitaus weniger wertvoll erweisen als Erfahrung mit Klempnerarbeiten, die Fähigkeit, einen bestimmten Dialekt zu sprechen oder soziale Bindungen in einer Gemeinschaft, von der mensch nie gedacht hätte, dass mensch von ihr abhängig sein würde. Jede*r hat gute Gründe, seine/ihre Netzwerke gegenseitiger Hilfe so weit und breit wie möglich auszudehnen.

Der Grundgedanke dabei ist, dass es unsere Bindungen zu anderen sind, die uns Sicherheit geben, nicht unser Schutz vor ihnen oder unsere Macht über sie. Prepper, die sich darauf konzentriert haben, einen privaten Vorrat an Lebensmitteln, Ausrüstung und Waffen anzulegen, sind dabei, die Voraussetzungen für eine Apokalypse zu schaffen, bei der jede*r gegen jede*n kämpft. Wenn du deine ganze Energie in individuelle Lösungen steckst und alle um dich herum allein für das Überleben kämpfen lässt, besteht deine einzige Hoffnung darin, besser bewaffnet zu sein als die Konkurrenz. Und selbst wenn du das bist, wenn es keine*n mehr gibt auf den du deine Waffen richten kannst, werden sie das letzte Werkzeug sein, das dir zur Verfügung steht.
Wie wir mit dem Risiko umgehen

Das Auftreten einer neuen potenziell tödlichen Pandemie zwingt uns alle, darüber nachzudenken, wie wir mit Risiko umgehen. Was ist es wert, unser Leben zu riskieren?

Wenn wir darüber nachdenken, werden die meisten von uns zu dem Schluss kommen, dass es sich nicht lohnt, unser Leben zu riskieren, nur um weiterhin unsere Rolle im Kapitalismus zu spielen. Andererseits könnte es sich lohnen, unser Leben zu riskieren, um uns gegenseitig zu schützen, um füreinander zu sorgen, um unsere Freiheit und die Möglichkeit, in einer egalitären Gesellschaft zu leben, zu verteidigen.

Der Versuch sämtliche Risiken zu vermeiden wird uns keine Sicherheit bringen. Wenn wir uns ausschließlich an uns selbst halten, während unsere Lieben krank werden, unsere Nachbar*innen sterben und der Polizeistaat uns jeden letzten Rest unserer Autonomie nimmt, werden wir nicht sicherer sein. Es gibt viele verschiedene Arten von Risiken. Wahrscheinlich wird die Zeit kommen, in der wir überdenken müssen, welche Risiken wir bereit sind, einzugehen, um in Würde zu leben.

Dies bringt uns zu der Frage, wie wir all die unnötigen Tragödien überleben können, die uns die Regierungen und die Weltwirtschaft im Zusammenhang mit der Pandemie aufdrängen werden – ganz zu schweigen von all den unnötigen Tragödien, die sie bereits geschaffen haben. Glücklicherweise können uns dieselben Strukturen, die es uns ermöglichen, das Virus gemeinsam zu überleben, auch dazu befähigen, ihnen die Stirn zu bieten.

¹ 16.März, CrimethInc. auf Twitter: Who benefits from #COVID19?

Billionaire Jeff Bezos won’t give his Whole Foods employees paid leave despite the constant risk they face, but he’s giving them a $2 raise through April.

He still considers their lives worthless—but admits that their deaths should be better paid.

² 17.März, Alexandria Ocasio-Cortez auf Twitter: Did you know you can organize your building, block or neighborhood for #COVID to help others & keep people safe?

It’s called Mutual Aid.

Join me + legendary organizer Mariame Kaba TOMORROW as we walk through the steps of supporting others safely.

RSVP: https://act.ocasiocortez.com/signup/mutual-aid

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