Die längste Pandemie: Kolonialismus

veröffentlicht am 7. Februar 2021

Es liegt in seiner Natur, dass der Nationalstaat angesichts dieser Pandemie, die auch eine Krise des Kapitals und der Reproduktion seiner Macht ist, repressiver wird. Der Staat existiert als Mittel zur Reproduktion der Macht der herrschenden Klassen. Dies ist eine entscheidende Tatsache für das Verständnis der Maßnahmen, die der deutsche Nationalstaat im Angesicht der Pandemie getroffen hat. Denn der Staat ist nicht gewillt, die Bevölkerung zu schützen, sondern vor allem sich selbst als Zentrum der politischen Macht zu erhalten. Warum sonst investiert er in Repression und Kontrolle statt in das Gesundheitssystem? Entzieht er uns die Information und die Werkzeuge, um aufeinander aufzupassen und zwingt uns eine uneffektive Bürokratie auf? Weil Zentralisierung die einzige Art und weise ist, um ein System zu erhalten, in welchem der Wille und die Lust einer kleinen Elite auf den Schultern von Millionen von Leben ruhen kann. Weil die Repression jede Flamme einer kommunalen Gegenmacht ersticken soll, die in dieser Krise eine Alternative zum altertümlichen Modell des Nationalstaates darstellt. Wir aber brauchen keine Repression, um sicher zu sein, noch einen Staat, um für uns zu sorgen.

Wir haben viele Analysen dieser Pandemie aus verschiedenen - und mitunter zu spezifischen - Blickwinkeln gelesen und gehört. In diesem Text möchten wir unseren Blick auf die Makroebene richten und diskutieren, welche politische Ziele in der weltweiten Pandemiepolitik 2020 sichtbar wurden und welche Perspektiven sich für uns ergeben.

Wir wissen, dass die Pandemie genauso real ist wie auch das Virus. Was uns aber in den folgenden Zeilen interessiert ist, wie eine solche weltweite Szenerie im Namen kapitalistischer und kolonialer Interessen genutzt wurde. Unserer Ansicht nach handelt es sich nicht um eine isolierte Konsequenz, dass diese Pandemie als Angriffsmittel gegen antikoloniale Bewegungen dient, um die Herrschaft über die Völker des globalen Südens wiederherzustellen.

Durch die Beschränkung auf ein einziges, vom globalen Norden durchgesetztes Verständnis von "Fürsorge und Schutz" werden die meisten Kulturen auf dem Planeten außen vor gelassen, ebenso ihre politischen Subjektivitäten und Lebensrealitäten. Einmal mehr unterstützte die Positionierung der westlichen Wissenschaft als universeller Standard einen technokratischen Fokus auf das Virus. Es herrscht eine "objektive" Sichtweise auf die Pandemie, die das tägliche Leben der Menschen nicht berücksichtigt und als individuelles Problem verwirft.

Die Problematik liegt in dem ungleichen Verständnis dessen, was objektiv bedeutet. Was wir in westlichen Gesellschaften als objektiv und neutral verstehen, ist Teil einer klaren politischen Agenda. In der Überzeugung, dass die von der deutschen Regierung angestoßene politische Agenda eine rassistische und klassistische ist, sehen wir dann auch hier als Objektivität kostümierte, christlich, weiß, männlich und natürlich bürgerliche Werte.

Eine solche objektive Vorstellung von Fürsorge verewigt Methoden und Interessen, die auf die Mächtigen, den Hegemon zugeschnitten sind. Sie führen andere in den Tod oder in die extreme Marginalisierung durch Polizeigewalt, Hunger, Verarmung, Vertreibung und Abschiebung oder Illegalisierung.

Diese politische Agenda wird durch ein Gefühl der Angst und Unsicherheit verschleiert, welche es neoliberalen und kapitalistischen Interessen erlaubt, in unser privates und soziales Leben weiter einzudringen. Hier wird das Interesse des privaten Kapitals durch die Regierung bewahrt, indem wir zu Hause bleiben, eingesperrt sind und keinen Widerstand leisten.

Es liegt in seiner Natur, dass der Nationalstaat angesichts dieser Pandemie, die auch eine Krise des Kapitals und der Reproduktion seiner Macht ist, repressiver wird. Der Staat existiert als Mittel zur Reproduktion der Macht der herrschenden Klassen. Dies ist eine entscheidende Tatsache für das Verständnis der Maßnahmen, die der deutsche Nationalstaat im Angesicht der Pandemie getroffen hat. Denn der Staat ist nicht gewillt, die Bevölkerung zu schützen, sondern vor allem sich selbst als Zentrum der politischen Macht zu erhalten. Warum sonst investiert er in Repression und Kontrolle statt in das Gesundheitssystem? Entzieht er uns die Information und die Werkzeuge, um aufeinander aufzupassen und zwingt uns eine uneffektive Bürokratie auf? Weil Zentralisierung die einzige Art und weise ist, um ein System zu erhalten, in welchem der Wille und die Lust einer kleinen Elite auf den Schultern von Millionen von Leben ruhen kann. Weil die Repression jede Flamme einer kommunalen Gegenmacht ersticken soll, die in dieser Krise eine Alternative zum altertümlichen Modell des Nationalstaates darstellt. Wir aber brauchen keine Repression, um sicher zu sein, noch einen Staat, um für uns zu sorgen.

Doch leider ist der Nationalstaat und seine politische Agenda nicht der einzige Grund, warum wir die strukturelle Unterdrückung weiter reproduzieren. Den Staat zu beschuldigen ist der einfachste Ausweg, denn wenn wir beschuldigen, spekulieren wir auf Bestrafung. Wir aber beschuldigen nicht, um die Bürokraten des Staates zu bestrafen und diesen zu reformieren. Wir sind überzeugt, dass wir den Staat abschaffen müssen. Um aber den Staat abzuschaffen, müssen wir Alternativen schaffen, die frei von Unterdrückung sind.

Die Arroganz, einen "Eine Lösung für alle"-Ansatzes verkünden zu können, ist vielleicht der schmerzhafteste Aspekt der strukturell rassistischen Sichtweise auf die Pandemie. Eine Sichtweise, die fast selbstverständlich von großen Teilen der "westlichen" Linken unterstützt wird, die ihre Hoffnungen in technologische Lösungen steckt, die in/für den weißen Mann gemacht wurden, um sein privilegiertes und globalisiertes Leben weiterzuführen. Jegliche Möglichkeit von Lösungen aus/für den globalen Süden wird ignoriert, während Millionen von Völkern hygienischen Standards untergeordnet werden, die nur in "westliche" Gesellschaftsvorstellungen passen.

Wir wurden Zeugen wie die Diskurse und Strategien, die während der Pandemie entworfen wurden, Generationen des Kampfes um kulturelle Autonomie hinwegfegten. Die historisch koloniale Vorstellung, Zivilisation und Lösungen in den globalen Süden zu bringen, wurde wieder wachgerufen. Das zeigt uns, wie intakt in europäischen Gesellschaften der Nährboden für die Reproduktion von Paternalismus in Form von humanitärer Hilfe ist.

Wir verstehen dieses paternalistische Verhältnis als eine Fortsetzung der kolonialen Matrix. Verhältnisse, die mit außerordentlicher Anpassungsfähigkeit - ebenso wie der Kapitalismus - selbst europäische Linke und libertäre Kreise infiltriert haben. In welchen die Privilegierten ihre Aufgabe darin sehen, für andere zu denken, statt durch einen gemeinsamen Kampf die Spaltung zu überwinden.

Dieses Abhängigkeitsverhältnis gibt den beteiligten Menschen nichts. Es reproduziert nur ein Gefühl der politischen Überlegenheit in den weiß-dominaten, privilegierten Gruppen. Diese lenken den Fokus ihres politischen Handelns ab und ignorieren ihre lokale und zeitliche Verantwortung in der Matrix der Unterdrückung, deren konstitutiver Teil sie sind. Mit anderen Worten: Es ist einfacher, in Berlin auf die Straße zu gehen, um eine Regierung des globalen Südens zu kritisieren, als sich mit dem Elefanten im Raum zu konfrontieren: Den deutschen imperialistischen Staat und dem extrahierten Reichtum, der die verwaltete Demokratie und damit auch die radikale Linke finanziert. Es ist einfacher, über die Armut in historisch verarmten Gebieten zu sprechen, als zu akzeptieren, dass die uns umgebende Armut unseren eigenen Wohlstand nährt.

Sollten wir unsere Kritik nur auf die Ungerechtigkeiten außerhalb dieser nationalstaatlichen Grenzen richten? Oder sollten wir endlich anfangen, uns der sozialen Probleme anzunehmen, die uns umgeben? Die Vernachlässigung von sozialer Ungleichheit, geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt und strukturellem Rassismus in "entwickelten" Ländern ist vielleicht der wirksamsten Mechanismen, den der Kolonialismus seit Ewigkeiten benutzt, um die politische Aufmerksamkeit auf andere Geografien zu lenken.Damit wird die Betäubung der lokalen Bevölkerungen, die sich kulturell als "privilegiert" definieren, erreicht, sie werden zu einem "Albtraum der Solidarität" verleitet, basierend auf der absurden Idee, dass strukturelle Marginalisierung und kulturelle Dominanz sich aussuchen könnten, welchen Reisepass sie haben. Kurz gesagt, man lässt die Menschen im globalen Norden glauben, dass dies Probleme sind, die es nur in anderen Ländern gibt.

Die Unterteilung in entwickelte und unterentwickelte Nationen stellt aber ganz einfach eine Lüge da. Denn der Nationalstaat als politisches Projekt kann nur existieren, wenn ein großer Teil seiner Gesellschaft unter Gewalt und Marginalisierung leidet, unabhängig von der Geografie. Geschlechter- , Klassenungleichheit und Rassifizierung sind der Kern seiner Parolen, die ein immer monokulturelleres und universelleres Bild des Bürgers beschwören.

Doch was könnte nützlicher sein, um die westlichen Gesellschaften zu befrieden, als ihre Arbeitklasse Anteil fühlen zu lassen an der Furcht, das Imperium könne seine Macht über den Rest der Welt verlieren?

Es ist also kein Zufall, dass wir in einem Nationalstaat wie Deutschland immer wieder und auf diese Art und Weise von den "armen Gesellschaften" im globalen Süden hören. Dass wir durch das Gefühl der kulturellen Überlegenheit dazu gedrängt werden, Entwicklungshilfe im globalen Süden zu unterstützen. Dass wir wie 1492, Glasperlen an jene verteilen, die wir bestehlen wollen. Und erstaunlicherweise sind wir immer noch überrascht, wenn wir mit Widerstand empfangen werden.

Ein Jahr nach Beginn der Pandemie fragen wir uns, warum wir es als Linke und Libertäre es nicht schaffen Ideen und Strategien außerhalb der Werte des Nationalstaates zu denken. Welche Kräfte schränken unsere politische Kreativität, welcher Stock schlägt auf unsere revolutionären Bestrebungen ein?

Nur wenn wir in der Lage sind, die Mauern der verinnerlichten Unterdrückungsverhältnisse einzureißen, werden wir ein System der miteinander verbundenen kommunalen Autonomien schaffen können. Denn kommunal in diesem Sinne setzt den Respekt gegenüber verschiedenen Formen der Beziehungen, der Natur und des Menschen voraus. Autonomie kann niemals einen einzigen Ausdruck finden, sondern wird nur dort sein, wo das Leben der einen nicht das Leben der anderen unterdrückt. Autonomie wird ihre Wege finden, wo es eine Entscheidung für revolutionäres Handeln gibt und niemals in der Isolation der eigenen Räume.

"Difference musst be not merely tolerated, but seen as a fund of necessary polarities between which our creativity can spark like a dialectic. Only then does the necessity for interdependency become unthreatening. Only within that interdependency of different strenghts, acknowledged and equal, can the power to seek new ways of being in the world generate, as well as the courage and sustenance to act where there are no charters"
- Audre Lorde

Quelle: https://de.indymedia.org/node/138272

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