Doc Sportello - ARTE zu Afghanistan: Märchen aus 1001 Nacht
Kritik des vierteiligen Dokumentarfilms Afghanistan. Das verwundete Land.
„Die geographische Lage Afghanistans und der eigentümliche Charakter des Volkes verleihen dem Lande im Zusammenhang mit den Geschicken Zentralasiens eine politische Bedeutung, die kaum überschätzt werden kann.“
Friedrich Engels, 1857
Unlängst strahlte ARTE einen vierteiligen Dokumentarfilm zur jüngsten Geschichte Afghanistans aus. Nur schon der Titel liess einem das schlimmste befürchten: Afghanistan. Das verwundete Land [1]. Die Personifikation von Nationalstaaten ist eine typisch bürgerliche Macke, genau wie ein Land sich freuen, trauern oder in Angst sein kann, kann es sich auch verwunden, wenn es nicht aufpasst. Und Afghanistan hat nicht aufgepasst, daran lassen die Regisseure kaum Zweifel. Es sind dies einerseits Mayte Carrasco, die Friedensforschung und Internationale Beziehungen studiert hat, mittlerweile Lektorin ist an diversen Universitäten und CEO von Big Story Films, Abnehmer ihrer journalistischen Arbeit sind u.a. unabhängige und kritische Medien wie z.B. Berlusconis Mediaset oder Springers Die Welt, andererseits Marcel Mettelsiefen, Fotojournalist, Kriegsberichterstatter und Dokumentarfilmer und stolzer Träger u.a. des Axel-Springer-Preises, ein Preis, mit dem z.B. auch allseits für ihre Sachlichkeit bekannte Journalisten wie Julian Reichelt oder Ulf Poschardt ausgezeichnet wurden.
Man ahnt also, wohin die Reise gehen wird. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kommen in den vier Episoden nur Exponenten der afghanischen Elite zu Wort, die meisten davon sind seit Jahrzehnten treue Diener des Westens. Es wird zwar beiläufig erwähnt, dass das Leben der Schickeria in Kabul nicht repräsentativ für den Alltag der Afghanen ausserhalb dieser Kreise ist, doch in Anbetracht des Gewichts, das die Regisseure ihm geben, muss man zwangsläufig zum Schluss kommen, dass es doch irgendwie massgeblich ist. Gleichzeitig kommen wesentliche Aspekte gar nicht oder kaum zur Sprache, überaus dubiose Leute dürfen unkommentiert ihre Geschichten erzählen, Gulbuddin Hekmatyar erzählt seine Seite an Seite mit liberalen Feministinnen, die Postmoderne und ihr absurder Realismus zeigen sich in Höchstform.
Teil 1: Demokratie – das ist die Macht des Königs plus Elektrifizierung des ganzen Landes
Der Kohärenz zwischen Form und Inhalt zuliebe beginnt die Geschichte wie ein Märchen: „Dies ist die Geschichte eines Landes, das ebenso schön wie verflucht zu sein scheint, ein Land, das seit so langer Zeit im Krieg gefangen ist, dass sich nur wenige daran erinnern können, wie alles begann und warum. Geld, Macht, Religion? Niemand hat eine Antwort. Was ist in Afghanistan schiefgelaufen? Dieses Land bleibt ein Rätsel.“ Man erfährt auch, dass das Leben in Kabul damals „romantisch“ war, alle waren „glücklich“ und es war „vermutlich sogar besser als in Europa“. Das Land ist „umgeben von uralten Zivilisationen“ und „vereint vom islamischen Glauben“.
Afghanistan war in Tat und Wahrheit nie besonders „vereint“, so hiess z.B. die Provinz Nuristan („Land der Erleuchtung“) bis zur aufgezwungenen Islamisierung 1896 Kafiristan („Land der Ungläubigen“) und war zuvor religiös von hinduistischen und buddhistischen Einflüssen geprägt. Auch die Repression und Massaker gegen die schiitischen Hazara ziehen sich wie ein roter Faden durch die neuzeitliche Geschichte, ihr Gebiet Hazarajat geriet ebenfalls erst Ende des 19. Jahrhunderts unter die Kontrolle der Zentralregierung. Als grösste ethnische Gruppe (ungefähr 40%) haben die grossmehrheitlich sunnitischen und hanafitischen Paschtunen stets das Geschehen geprägt, ihr Ehrenkodex Paschtunwali gilt als besonders konservativ. Etymologisch bedeutet der Landesname ursprünglich „Land der Paschtunen“, erst seit der Verfassung 1964 bezeichnet der Begriff „Afghanen“ offiziell alle Bürger des Landes unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Obwohl diese Verfassung tatsächlich gewisse Freiheiten garantierte und ein gewähltes Parlament einführte (zumindest was das Unterhaus betrifft, für das Oberhaus sah sie vor, dass ein Drittel der Abgeordneten vom König nominiert werden), ist die Behauptung, sie sei gleichbedeutend mit Demokratie, absolut demagogisch. Als eingefleischte Demokraten sollten Carrasco und Mettelsiefen eigentlich wissen, dass die Souveränität des Volkes eine Demokratie definiert. Artikel 6 lautet allerdings folgendermassen: „In Afghanistan personifiziert der König die Souveränität.“ Artikel 15 garantiert ihm Straffreiheit, Artikel 16 und 17 der Königsfamilie den Machterhalt. Artikel 9 definiert seine Rechte und Pflichten, er kann z.B. das Parlament auflösen, internationale Verträge unterschreiben oder Gerichtsurteile aufheben. Gewaltenteilung sieht anders aus und jeder bürgerliche Staatsrechtler definiert eine solche Staatsform als konstitutionelle Monarchie, ganz bestimmt nicht als Demokratie.
Der Film erwähnt nicht, dass der Autor des Putsches 1973 und Neffe des Königs Mohammed Daoud Khan von 1953 bis 1963 Ministerpräsident war. Während dieser Zeit näherte sich Afghanistan der Sowjetunion an und betrieb eine aggressive Politik gegenüber Pakistan. Daoud Khan setzte sich die Aufhebung der Durand-Linie und die Annexion der paschtunischen Gebiete Pakistans zum Ziel. Pakistan schloss 1961 die Grenze, 1962 sandte Afghanistan sogar mehrmals Truppen über die Grenze, der erhoffte paschtunische Aufstand im Nachbarland blieb jedoch aus. Um die Lage zu beruhigen, wurde Daoud Khan 1963 vom König abgesetzt. Mohammed Zahir Schah orientierte sich nun zunehmend an Washington und der Einfluss Moskaus in Afghanistan verringerte sich. Die Verfassung 1964 hatte nicht zuletzt zum Zweck, Daoud Khan von jeglichen Machtpositionen fernzuhalten, Artikel 24, informell bekannt als Daoud-Bestimmung, untersagte Mitgliedern der Königsfamilie die Mitgliedschaft in politischen Parteien und hielt fest, dass sie nicht Parlamentsmitglieder, Ministerpräsidenten, Minister oder Richter sein können.
Afghanistan hatte 1939 seine Neutralität erklärt, nahm 1955 an der Bandung-Konferenz teil und schloss sich der Bewegung der Blockfreien Staaten an. Während einige Staaten der Bewegung sich ziemlich eindeutig entweder an Washington oder an Moskau orientierten, versuchte Afghanistan stets, beide Seiten nicht allzu stark zu verärgern. Genau deshalb bekam das Land Finanzhilfe von beiden Seiten, Moskau hatte tendenziell grösseren Einfluss im Norden, Washington im Süden. Obwohl sein nördlicher Eingang kurz eingeblendet wird, wird der 1964 fertiggestellte und von der UdSSR finanzierte Salang-Tunnel im Film nicht einmal erwähnt. Er galt damals als Wunder der Ingenieurskunst und war bis zum Bau des Eisenhower-Tunnels in den Rocky Mountains 1973 der höchstgelegene Tunnel der Welt. Bis heute ist er die wichtigste Verbindungsachse zwischen dem Norden und dem Süden, allen voran zwischen den nördlichen Grossstädten Mazar-i-Sharif und Kunduz und der Hauptstadt Kabul.
Statt über die tatsächliche wirtschaftliche und politische Struktur des Landes zu sprechen, verirrt sich die Erzählung in der Tiefenpsychologie und uns wird erklärt, dass der König ein ganz einfacher Mann war und in Wirklichkeit von seiner Frau kontrolliert wurde. Schliesslich sind Könige, genau wie die Bourgeoisie, allgemein für ihre Einfachheit bekannt und sie herrschen selbstverständlich nur, um den Frauenrechten endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Zwar wird erwähnt, dass 80% der Bevölkerung auf dem Land in Armut leben und die Frauen dort praktisch keine Rechte haben, in Kabul scheinen jedoch alle zur Elite zu gehören, alle haben universitäre Bildung, gehen an Jazz-Konzerte und lesen sublime Poesie. Die Armen waren auch glücklich, da es gnädigerweise nicht verboten war, Drachen steigen zu lassen.
Es passt bestens zu dieser prowestlichen Märchenwelt, dass Gulbuddin Hekmatyar als unschuldiger Zeitzeuge dargestellt wird. Geboren 1949 in einem Dorf der Provinz Kunduz, beklagt sich der arme Mann im Film über die Korruption, diese sei die Ursache gewesen, dass seine brillanten schulischen Leistungen nicht gewürdigt worden seien. In Wirklichkeit genoss er die Unterstützung des Geschäftsmannes Gholam Serwar Nasher, der ihm 1968 ein Studium an der Militärakademie Mahtab Qala in Kabul ermöglichte, wegen seiner politischen Ansichten wurde er ausgeschlossen und begann 1969 sein Ingenieursstudium an der Universität Kabul. Anfangs war er Mitglied der 1969 gegründeten Muslimjugend. Ein paar Archivaufnahmen von Demonstrationen sind sehr verkürzt als Zusammenfassung seines „Kampfes gegen die Kommunisten“: „Als Ingenieurstudent an der Universität Kabul organisierte Hekmatyar Angriffe, die darin bestanden, Säure auf die Gesichter unverschleierter Frauen oder auf ihre unbedeckten Beine zu werfen und manchmal schoss er ihnen sogar in die Beine.“ [2]
Die Konfrontation zwischen Kommunisten und Islamisten an den Universitäten war kein „Kulturkampf“, sondern ein politischer Konflikt, der mit allen Mitteln geführt wurde, ein Abbild der afghanischen Zukunft. Im Jahr 1972 war Hekmatyar wegen dem Mord an einem maoistischen Studenten im Gefängnis und floh 1973 nach Pakistan. Er verliess die Muslimjugend und gründete 1974 die Hezb-i Islami. Schon damals war er im Konflikt mit Ahmad Schah Massoud, der ebenfalls in Kabul studierte und Mitglied der Muslimjugend war, und versuchte bereits 1975 mithilfe des pakistanischen Geheimdienstes ISI, der ihn schon seit Anfang der 1970er Jahre unterstützte [3], ihn zu ermorden, woraufhin Massoud ein paar Jahre im pakistanischen Exil verbrachte.
Nach der grossen Hungersnot 1971-1972 profitierte Daoud Khan am 17. Juli 1973 von der Abwesenheit des Königs, um die Macht zu ergreifen. Des Königs „einfacher Lebensstil“ wurde ihm zum Verhängnis, denn er weilte nicht etwa aus diplomatischen Gründen in Italien, sondern um sich einer Augenoperation zu unterziehen und seinen Hexenschuss zu behandeln. Die Behauptung im Film, dass mit Daoud Khan auch „die kommunistische Partei an die Macht“ kam, stimmt so nicht ganz. Die 1965 gegründete Demokratische Volkspartei Afghanistans war seit 1967 gespalten, die eher urbane und als gemässigt geltende Parcham-Fraktion unterstützte den Putsch, die eher rurale und als extremistisch geltende Khalq-Fraktion hingegen nicht. Letztere konzentrierte sich darauf, ihren Einfluss in der Armee zu vergrössern, was sich 1978 als ziemlich nützlich herausstellen würde. Erst 1977 vereinigten sich die beiden Fraktionen, vermutlich nicht ganz ohne Unterstützung aus Moskau, war es doch auch das Jahr, wo Daoud Khan sich zunehmend von Moskau abwendete (die Beziehungen jedoch nicht vollständig abbrach, wie es im Film behauptet wird) und sich Teheran und Islamabad annäherte.
Das Ende der Monarchie war aber nicht gleichbedeutend mit dem Ende der politischen Stabilität. Daoud Khan führte die zuvor begonnene Modernisierungspolitik weiter und der aussenpolitische Zickzackkurs war alles andere als neu. Dieser ist eng verbunden mit der Bedrohung des grossen Nachbars, zuerst Britisch-Indien, dann Pakistan, der 1893 festgelegten Durand-Linie und dem Schreckgespenst Paschtunistan. Die eher prowestlichen Phasen in der Nachkriegszeit (im wesentlichen 1963-1973 und 1977-1978) waren das Resultat einer entspannten Lage mit Islamabad. Pakistan hatte sich schon 1954 mit den USA verbündet und wenn die Lage angespannt war, wendete sich Kabul ihrem gemeinsamen Feind zu: Moskau. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte Afghanistan nicht gezögert, zu Beginn relativ freundschaftliche Beziehungen mit der Achse zu unterhalten und sich dann dem Verlauf des Krieges entsprechend immer mehr den Alliierten anzunähern.
Es ist also extrem verkürzt, die politische Instabilität Afghanistans einfach der sowjetischen Einmischung zuzuschreiben. Diverse Mächte unterstützten verschiedene politische Akteure, um im Land an Einfluss zu gewinnen, Moskau hatte die DVPA, London Massoud, Islamabad Hekmatyar und Peking die Maoisten zu diesem Zweck. Dass eine solche Konfiguration zu Konflikten führt, ist alles andere als „ein Rätsel“, es war ein gewöhnlicher Machtkampf zwischen Anhängern der Monarchie und verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, die jeweils von konkurrierenden imperialistischen Mächten unterstützt wurden. Obwohl es unter Daoud Khan zu einigen Protesten kam, blieb die Lage weitgehend stabil, erst mit der Aprilrevolution 1978 eskalierte der bis anhin latente Konflikt.
Nach der Ermordung des Vorsitzenden der Parcham-Fraktion Mir Akbar Khyber am 17. April 1979 ergriff die DVPA am 28. April in einem blutigen Putsch die Macht. Es ist heute noch nicht vollständig klar, wer ihn ermordete. Das Regime Daoud Khans beschuldigte Hekmatyar, Nur Muhammad Taraki, der Vorsitzende der Khalq-Fraktion, das Regime, einige Angehörige der Parcham-Fraktion beschuldigten wiederum Hafizullah Amin von der Khalq-Fraktion, während einige Angehörige der Khalq-Fraktion die Sowjetunion und Babrak Karmal von der Parcham-Fraktion verdächtigten. Der Putsch war das Werk der Khalq-Fraktion und in Moskau war man nicht besonders glücklich darüber: „Trotz den vielen hoch platzierten Quellen des KGB in der afghanischen Regierung – einige waren sogar Minister – war die Revolte für Moskau eine Überraschung. Die sowjetische Führung erfuhr die Neuigkeit aus einem Bericht von Reuters. Paradoxerweise war Breschnew nicht erfreut.“ [4]
Der damalige sowjetische Vize-Aussenminister Georgi Kornienko kommentierte den Putsch in seinen Memoiren: „Später offenbarte mir der Anführer der DVPA, Taraki, dass die afghanischen Anführer die Möglichkeit gehabt hätten, die Sowjets über den sich abzeichnenden Staatsstreich zu informieren, doch dass sie es absichtlich nicht getan hätten, denn sie befürchteten, dass Moskau sie davon würde abbringen wollen, eine bewaffnete Rebellion zu unternehmen, mit dem Argument der Abwesenheit einer revolutionären Situation in Afghanistan als Vorwand. Diese Befürchtungen waren nicht unbegründet. Hätte die UdSSR Kenntnis gehabt von ihren Absichten, hätte sie ihnen wahrscheinlich geraten, von diesem Projekt abzusehen, denn es gab von einem marxistischen Standpunkt aus tatsächlich keine revolutionäre Situation im Land und die Beziehungen der UdSSR mit Afghanistan waren freundschaftlich unter Zahir Schah und unter Daoud, trotz dem Flirt Daouds mit dem Westen.“ [5]
Die Unterstützung Moskaus für die DVPA war stets eine Unterstützung der Parcham-Fraktion: „Er [der KGB] hatte den grössten Teil seines Kapitals in die Parcham-Fraktion investiert und tendierte dazu, ihre Ansichten zu teilen, obwohl sie proportional einen geringen Anteil der Mitglieder der DVPA repräsentierte – 1‘500 von 15‘000.“ [6] Schon am 13. Dezember 1979 plante der KGB, die Führungsriege der Khalq-Fraktion zu vergiften [7], Taraki war in der Zwischenzeit auf Befehl Amins am 8. Oktober 1979 ermordet worden. Dass Amin am 27. Dezember 1979 ermordet wurde, um „die Ordnung wiederherzustellen“, ist also gewiss nicht ganz falsch, aber es ist schon ein bisschen dürftig, diesen blutigen Fraktionskampf nicht einmal zu erwähnen. Die Erstürmung seines Palastes war ein geplanter Hinterhalt und bis fast zuletzt glaubte Amin, die sowjetischen Truppen seien zu seinem Schutz da [8].
Teil 2: Das Reich des Bösen und das Opium der Geister
Wie erfährt man bloss, was die gewöhnlichen Leute in der UdSSR von der Invasion in Afghanistan hielten? Am besten stellt man die Frage einem hochrangigen Vertreter der Roten Armee, so erfahren wir vom Major Ruslan Aushev: „Wir, das Militär, wollten alle nach Afghanistan geschickt werden.“ Wenn man glaubwürdigere Quellen konsultiert, ergibt sich ein anderes Bild: „Verrückte Leute nannten Afghanistan ‚eine Schule des Mutes‘. Und waren weise genug, ihre Söhne nicht dorthin zu schicken. Sie sprachen von ‚internationaler Pflicht‘, ‚der Schlacht gegen die Söldner des Imperialismus an den südlichen Grenzen unseres Vaterlandes‘, ‚der resoluten Zurückweisung der Aggression durch die Reaktionäre der Region‘. Und so weiter, und so fort. Sie versuchten, sich selbst und den Rest des Landes von der Tatsache zu überzeugen, dass Afghanistan ‚aus unreifen Jugendlichen standhafte Kämpfer für unseren kommunistischen Glauben macht‘. Doch sollte Afghanistan Leute zum Glauben inspiriert haben, so war es ein Glaube, der ganz anders war, als jener, welcher von unserer Propaganda proklamiert wurde.“ [9]
Artyom Borovik schrieb für das russische Magazin Ogonjok, das seit dem Machtantritt Gorbatschows seine Politik verteidigte und somit ziemlich kritisch über den Krieg berichtete. Die Regisseure scheinen hingegen die orthodoxe Parteilinie zu bevorzugen und befragen Mikhail Kozhukov, Berichterstatter der Komsomolskaja Prawda, diese Zeitung war das Organ der Jugendorganisation der KP Komsomol, Kritik am Krieg fand man darin kaum bis gar nicht. Er erzählt uns: „Ich hatte so ein moralisches Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun. Es gab eine Möglichkeit, diesen Menschen zu helfen, das war das Motiv, ähnlich wie der Bürgerkrieg in Spanien 1939.“ Es soll hier nur nebenbei erwähnt werden, dass die sowjetische Einmischung in den Spanischen Bürgerkrieg damals nicht von allen als hilfreich betrachtet worden war, wichtiger ist hier, dass der Vergleich überhaupt nicht zum Verständnis der damaligen Situation in Afghanistan beiträgt, sondern illustriert, wie ein parteitreuer Journalist sich die Gewissheit gibt, dass seine Propaganda der noblen Sache des Antifaschismus diente.
Auch die damalige westliche Kriegspropaganda kriecht im Film aus dem Mülleimer der Geschichte hervor. So erklärt uns Massood Khalili, ein enger Vertrauter Massouds, dass die Mudjahedin selbstverständlich weder „islamistisch“ noch „fanatisch“ waren. Auch wer immer schon wissen wollte, was „Jihad“ genau bedeutet, erfährt es hier: „Jihad bedeutet Kampf für die Freiheit.“ Shukria Barakzai gesteht ebenfalls, dass sie von den „Freiheitskämpfern“ fasziniert war. Massoud war eine Art Mischung zwischen Bob Dylan und Che Guevara, Hekmatyar ein frommer Muslim, der bloss seinen Glauben gegen die gottlosen Kommunisten verteidigen wollte. Einzig CIA-Offizier Milton Bearden räumt ein, dass einige der „Freiheitskämpfer“ vielleicht ein bisschen „böse“ waren. In Anbetracht seiner Position ist er etwas pragmatischer als die naiven Journalisten und weiss insgeheim: Sie waren Bastarde, aber es waren unsere Bastarde!
Diese Erzählung steht in einer direkten Kontinuität zur damaligen Propaganda in der westlichen Presse. Niemand wollte genau hinschauen, schliesslich stand das ganze Abenteuer im Dienste der Demokratie und der Freiheit: „Die Berichterstattung der Presse bezüglich des Verhaltens der Guerilla während dieser Ära war positiv oder gar begeistert in ihrer überwältigenden Mehrheit. Ihre unangenehmen Eigenschaften wurden verharmlost oder überhaupt nicht erwähnt. Obwohl einige Zeitungen eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich der militärischen Hilfe für die Mudjahedin durch die USA (besonders die Los Angeles Times und die Washington Post) und andere (wie das Wall Street Journal) eine offenere Politik befürworteten, waren diese Unterschiede nur graduell. Nahezu alle Zeitungen befürworteten ein gewisses Ausmass an militärischer Unterstützung durch die USA und ziemlich alle waren sich einig, dass die Guerillas ‚heldenhaft‘, ‚mutig‘ und allen voran ‚Freiheitskämpfer‘ waren.“ [10]
Im Film wird auch suggeriert, die amerikanische Unterstützung hätte erst 1980 begonnen. Sie begann in Wirklichkeit schon im Juli 1979, knapp ein halbes Jahr vor der sowjetischen Invasion [11]. Kurioserweise werden diesbezüglich zentrale Figuren wie Charlie Wilson und Gust Avrakotos und die Arbeitsteilung zwischen den Geheimdiensten im Film nicht einmal erwähnt: „Washington und Riad waren im wesentlichen für die Beschaffung von Geld und Waffen verantwortlich, der pakistanische Geheimdienst ISI für die Verteilung des Materials und dem Kontakt zu den afghanischen Aufständischen. Die Verbindungsmänner zwischen CIA und ISI waren hauptsächlich Wilson und Avrakotos. Die militärische Operationshoheit über die Geld- und Waffenflüsse wurden, einmal in Karachi angekommen, dem ISI übergeben, welcher sich um den Transport nach Peschawar und die dortige Verteilung an die afghanischen Mudjahedin kümmerte.“ [12] Je nach Schätzungen flossen im Rahmen der Operation Cyclone zwischen zwei [13] und sechs [14] Milliarden an die Mudjahedin.
Es ist also falsch, wenn gelegentlich behauptet wird, die CIA hätte Hekmatyar bevorzugt, sie begann sogar ab Ende 1984, Massoud zu unterstützen, ohne den ISI darüber zu informieren [15]. In Pakistan war die CIA nur Juniorpartner, es war der ISI, der wusste, wie der Hase läuft. Da Hekmatyar schon zuvor Pakistans Mann in Afghanistan war, ist dessen Bevorzugung kaum überraschend. Neben der Islamischen Partei Hekmatyars wurden sechs weitere Parteien unterstützt, die drei ersten galten als gemässigt, die drei anderen, zusammen mit jener Hekmatyars, als extremistisch: die Islamische und Nationale Revolutionsbewegung Afghanistans, die Nationale Befreiungsfront von Sibghatullah Modschaddedi, die Nationale Islamische Front Afghanistans von Ahmed Gailani, die Islamische Vereinigung Afghanistans von Massoud, die Islamische Union für die Befreiung Afghanistans von Abdul Rasul Sayyaf, die bevorzugte Partei Riads, und die Islamische Partei von Junis Chalis, eine Abspaltung von Hekmatyars Partei. Daneben gab es im Widerstand vom Iran unterstützte schiitische und von China unterstützte maoistische Gruppen, im Vergleich zu den sunnitischen Gruppen waren sie jedoch relativ bedeutungslos.
Die Waffen kamen in Karachi an und wurden dann nach Peshawar transportiert. Weder die Lastwagen noch die Schiffe fuhren leer zurück: „Aber sie [die amerikanischen und arabischen Zahlungen] führten auch, da sich viele an ihnen bereichern wollten, zu einem rapiden Anstieg der Kriminalität, vor der jeder die Augen verschloß, solange die Russen in Afghanistan standen, deren verheerende Folgen aber den Verwerfungen am Ende des Jahrzehnts den Weg bereiteten. So versorgten riesige Schiffsladungen mit leichten Waffen, die von der CIA geliefert und im Hafen von Karatschi gelöscht wurden, zunächst den lokalen Markt (und machten diese Stadt zu einer der gewalttätigsten der Welt), ehe sie an die offiziellen Empfänger weitergeleitet wurden. Und zurück kamen die Lastwagen mit Heroin, das aus dem in Afghanistan und in den ‚Stammesgebieten‘ an der pakistanischen Grenze angebauten Opium gewonnen und über Karatschi exportiert wurde.“ [16]
Einzig im zweiten Teil der Serie werden „die Drogen“ ganz beiläufig erwähnt. Doch der Export von Heroin war ein wesentliches Element in der Finanzierung des Jihad. Obwohl in Afghanistan der Opiumanbau seit spätestens dem 19. Jahrhunderts dokumentiert ist, begann der Aufstieg des Landes zum Marktführer in diesem Sektor in den 1980er Jahren. Die Produktion verdoppelte sich zwischen 1982 und 1983 und stieg daraufhin kontinuierlich an [17]. Anfang der 1990er Jahre wurde der Goldene Halbmond zum wichtigsten weltweiten Heroinproduzenten und löste das Goldene Dreieck ab, heutzutage produziert Afghanistan 90% des weltweit konsumierten Heroins. Hekmatyar war von Anfang an dafür bekannt, die Heroinproduktion im Rahmen seiner Kriegswirtschaft systematisch zu nutzen [18], 1991 schrieb Die Zeit über ihn: „Nach Einschätzung westlicher Drogenfahnder zählt Gulbuddin Hekmatyar zu den größten Heroinproduzenten im ‚Goldenen Halbmond‘. Er betreibe Labors in den pakistanischen Stammesgebieten und im Dreiländereck zwischen Pakistan, Iran und Afghanistan. Sein Schwager Mohamad Hascheem und die Jugendfreunde Janbaz Khan und Hazarat Gul sollen für Herstellung und Vertrieb des ‚weißen Pulvers‘ verantwortlich sein.“ [19]
Auch die arabischen Freiwilligen werden im Film nur sehr oberflächlich behandelt, man begnügt sich mit der Feststellung, dass bin Laden und ein paar andere dort waren, in Wirklichkeit waren es je nach Schätzungen zwischen 16‘000 und 35‘000. Trotz seiner zentralen Rolle wird der Palästinenser Abdallah Azzam nicht einmal erwähnt. Er traf 1981 in Peschawar ein und gründete 1984 zusammen mit bin Laden und al-Zawahiri das Dienstleistungsbüro zur Mobilisierung arabischer Freiwilliger in der ganzen Welt, 1986 wurde sogar ein Büro in Tucson im amerikanischen Bundesstaat Arizona eröffnet [20]. Azzam ist mehr als 30 Jahre nach seinem Tod immer noch eine bedeutende Figur des Jihadismus: „[E]r bleibt einer der am meist verehrten Figuren in der Welt des radikalen Jihadismus. In fast jeglicher Hinsicht ist Azzam einer der einflussreichsten jihadistischen Ideologen aller Zeiten […].“ [21] Vermutlich ist den Regisseuren nicht einmal aufgefallen, dass der interviewte algerische Kämpfer Abdullah Anas mit richtigem Namen Boudjema Bounouma heisst [22] und sein Schwiegersohn ist.
Das Dienstleistungsbüro war die Vorgängerorganisation von Al-Qaida. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es auch aktiv von der CIA unterstützt wurde [23], und es arbeitete v.a. mit Hekmatyar zusammen. Azzam wurde am 24. November 1989 in einem Autobombenattentat in Peschawar ermordet, bis heute weiss niemand genau, von wem. Die Liste der Verdächtigen ist lang, sie umfasst bin Laden, al-Zawahiri, die afghanischen Mudjahedin, die CIA, den ISI und den Mossad. Nach seinem Tod übernahm bin Laden die Organisation und gab ihr den neuen Namen Al-Qaida, arabisch für „die Basis“. Das beunruhigte damals niemanden, schliesslich galt er als „nicht anti-amerikanisch“ [24]. Mit dem Rückzug der Russen und dem Ende des Kalten Krieges wurde die Situation in Afghanistan langsam aber sicher für die meisten Beobachter ein bisschen unübersichtlich.
Teil 3: Trümmer auf Trümmer gehäuft
Als die Russen 1989 abzogen, blieb die DVPA an der Macht und ihr Präsident Mohammad Najibullah trotz dem Desaster ein unerschütterlicher Optimist. Er dachte, die Zeit der „Versöhnung“ sei nun endlich gekommen, das musste ein frommer Wunschtraum bleiben, denn für die Mudjahedin war klar: Es war die Zeit der Abrechnung. Nachdem Zusammenbruch der UdSSR 1991 und der kompletten Einstellung der finanziellen Unterstützung war sein Schicksal besiegelt, daran änderte auch die Tatsache nichts, dass der Artikel 1 der Verfassung von 1990 Afghanistan als „islamischen Staat“ definierte. Im März 1992 trat er zurück und machte den Weg frei für eine Übergangsregierung.
Sie sollte ab dem 28. April 1992 die Geschicke des Landes leiten, wie alle Regierungen Afghanistans zwischen 1992 und 1996 existierte sie jedoch weitgehend nur auf dem Papier. Die verschiedenen Fraktionen der Mudjahedin lieferten sich einen unerbittlichen Krieg um die Kontrolle Kabuls. Hekmatyar versichert uns: „Wir trafen aber die klare Entscheidung, kein ziviles Ziel anzugreifen.“ Diese Aussage ist ein ausgesprochen schlechter Witz. Ausnahmslos alle Kriegsparteien während dieser Zeit werden in diversen Berichten beschuldigt, skrupellos Wohnquartiere bombardiert zu haben, häufig werden Hekmatyars Milizen diesbezüglich als besonders dreist dargestellt, nicht umsonst hat Hekmatyar seit dieser Zeit den Beinamen „Schlächter von Kabul“. Morde, Vergewaltigungen und Erpressung waren trauriger Alltag für eine Zivilbevölkerung, die zwischen den Fronten eines extrem chaotischen Krieges stand.
Aufgrund von konstanten Spannungen zwischen der wahhabitischen Miliz von Abdul Rasul Sayyaf und der schiitischen Miliz Hezb-e Wahdat von Karim Khalili wechselte letztere im Dezember 1992 die Seiten und ging ein Bündnis mit Hekmatyars Kräften ein. Als Kämpfer von Massoud und Sayyaf die schiitische Vorstadt Kabuls Ashraf betraten, rächten sie sich dafür an der Zivilbevölkerung: „Am 11. Februar 1993 betraten Kämpfer von Massoud und Sayyaf die Hazara-Vorstadt Ashraf, sie töteten – gemäss Berichten der Bewohner – ‚ungefähr 1‘000 Zivilisten‘, sie köpften alte Männer, Frauen, Kinder und sogar ihre Hunde, ihre Leichen warfen sie in die Brunnen.“ [25] Hoffentlich wird Bob Dylan nie erfahren, mit wem er in diesem Film verglichen worden ist.
Präzise Zahlen über die Kriegsopfer zwischen 1992 und 1996 hat vermutlich niemand, ein Bericht spricht von 25‘000 Toten allein zwischen Januar und Juni 1994 [26]. Nachdem die Miliz von Abdul Rashid Dostum bis 1992 auf der Seite der Regierung der DVPA gekämpft hatte, war sie ab 1992 zuerst mit Massoud, dann ab 1994 mit Hekmatyar verbündet. Im gleichen Jahr mischte sich auch eine neue Kraft in den Bürgerkrieg ein, die Taliban, paschtunisch für „Studenten“, Koranschüler aus Kandahar und der pakistanischen Grenzregion. Sie eroberten Kandahar im November 1994 und Herat im September 1995. Der pakistanische Geheimdienst ISI gab ab 1994 die Unterstützung Hekmatyars auf und unterstützte von nun an die Taliban. Sie eroberten Kabul im September 1996. Nach dem Bürgerkrieg 1989 bis 1992 der Mudjahedin gegen die Regierung der DVPA und jenem von 1992 bis 1996 zwischen den verschiedenen Milizen der Mudjahedin und den Taliban begann nun der dritte afghanische Bürgerkrieg der 1990er Jahre zwischen den Taliban und der Nordallianz.
Der letzte amerikanische Botschafter verliess Kabul 1992, es war der Beginn von neun Jahren ohne diplomatische Präsenz im Land. Nach der Eroberung von Mazar-i-Sharif im Mai 1997 anerkannten Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate die Regierung der Taliban. Trotz allem waren die Pläne für die seit Anfang der 1990er Jahre geplante Trans-Afghanistan-Pipeline immer noch aktuell, 1996 eröffnete die amerikanische Firma Unocal ein Büro in Kandahar, um eventuell gegenüber ihrer argentinischen Konkurrentin Bridas bessere Karten zu haben, diese folgte 1997 mit einem Büro in Kabul. Die amerikanische Diplomatie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich, wie mit dem Regime der Taliban umgegangen werden sollte. Auf der aktualisierten Liste der Terrororganisationen im Herbst 1997 sucht man die Taliban und Al-Qaida auf jeden Fall vergeblich.
Derweil liefen die konkurrierenden Verhandlungen von Unocal und Bridas mit den Taliban weiter. Im Verlauf von 1997 waren sogar Delegationen der Taliban zu Gast bei Unocal in Texas und bei Bridas in Argentinien. In Washington war immer noch Ratlosigkeit vorherrschend: „Tatsächlich gibt es bis anhin keine wirklichen Beweise, dass die Clinton-Regierung eine Politik der Kontaktaufnahme mit den Taliban verfolgte. Da die Nachwirkung des Afghanistan-Krieges andauerte – eine schwer bewaffnete Nation im Chaos, ein florierender Drogenhandel und terroristische Trainingslager –, war die Reaktion des Personals in den Hauptquartieren der CIA auf jede Erwähnung von Afghanistan der Schauder nahe. Im Aussenministerium existierte keine wirkliche Politik ausser dem beständigen Ruf nach einer ‚breit abgestützten Regierung‘ für Afghanistan.“ [27]
Nach zunehmendem feministischen Druck wurden die Taliban erstmals Ende 1997 durch Hillary Clinton und Madeleine Albright öffentlich von offizieller Seite kritisiert. Nach den parallelen Anschlägen gegen die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salam am 7. August 1998 war ein freundschaftlicher Kurs mit den Taliban im amerikanischen Politbetrieb endgültig eine diskreditierte Position. Die CIA begann nun, über die Ergreifung bin Ladens nachzudenken und auch Saudi-Arabien entzog dem Regime der Taliban Mitte September 1998 seine Unterstützung [28]. Die Geheimdienste ergatterten allerdings kaum Informationen [29] und niemand wusste, dass bin Laden seit spätestens Ende 1999 in Kandahar dabei war, einen grossen Coup zu planen [30].
Zwei Tage vor seiner Ausführung wurde Massoud von zwei Attentätern ermordet, die sich als belgische Journalisten ausgegeben hatten [31]. Während im Westen die Nordallianz als demokratische Kraft präsentiert wurde, war die Einschätzung der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans schon 2002 ziemlich klar: „Seit einem Jahr richtet die Welt ihr Augenmerk auf Afghanistan: Folgt auf den Zusammenbruch des Talibanregimes nun eine gegen die Taliban und gegen religiöse Tyrannei ausgerichtete Regierung? Doch alle Hoffnung und alle Willensanstrengungen unseres freiheitsliebenden Volkes und der Menschen in der Welt wandelten sich in Illusion und Verzweiflung, als wir sehen mußten, daß die USA und ihre Verbündeten die Macht in Afghanistan an die Nordallianz übergaben - das sind Fundamentalisten, die noch blutrünstiger […] sind und den Menschenrechten feindselig gegenüberstehen.“ [32]
Seit dem 11. September 2001 machte sich in Washington niemand mehr Illusionen über eventuelle diplomatische Beziehungen zu den Taliban. Am 20. September 2001 rief George W. Bush den „Krieg gegen den Terror“ aus und am 7. Oktober 2001 begann eine Koalition der NATO die Kampfhandlungen gegen das Regime der Taliban, es fiel am 17. Dezember 2001. Eine Loya Jirga – grosse Versammlung der afghanischen Stammesführer – wurde einberufen, um Präsidentschaftswahlen vorzubereiten. Diese fanden am 13. Juni 2002 statt und Hamid Karzai wurde mit dem sowjetisch anmutenden Ergebnis von 83% zum Präsidenten der neuen Übergangsregierung gewählt.
Teil 4: Die Mafia ist nicht fremd in dieser Demokratie, sondern völlig in ihr zuhause
Wie so ziemlich alle Kriegsherren in Afghanistan nutzen auch die Taliban die Heroinproduktion für ihre Kriegswirtschaft: „Nachdem sie 1996 Kabul eroberten und den grössten Teil des Landes kontrollierten, ermutigten die Taliban den lokalen Opiumanbau, sie boten staatlichen Schutz für den Export und erhoben dringend gebrauchte Abgaben sowohl auf das geerntete Opium als auch auf das produzierte Heroin. Studien der UNO zu Opium zeigten, dass Afghanistans Opiumertrag während den ersten drei Jahren der Taliban an der Macht 75% der weltweiten Produktion repräsentierte.“ [33] Im Jahr ihrer Machtergreifung repräsentierte der Opiumanbau 57‘000 ha (2‘804 t), der Höhepunkt war 1999 mit 91‘000 ha (4‘565 t) erreicht, 2000 waren es immer noch 82‘000 ha (3‘276 t) [34].
Der Wendepunkt kam im Jahr 2000. Nachdem das Regime der Taliban bereits seit 1999 mit dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) über Massnahmen gegen den Opiumanbau verhandelte, erklärte es sich bereit, im Gegenzug für Entwicklungshilfe dagegen vorzugehen: „Im Juli 2000 verkündete der oberste Anführer der Taliban Mullah Omar eine Fatwa, d.h. ein religiöses Rechtsgutachten, die darlegte, dass Mohnanbau und Opiumproduktion gegen die grundlegende islamische Tradition verstossen. Jegliche Missachtung eines solchen Dekrets würde die religiöse Führungsposition Mullah Omars und die Stärke der Herrschaft der Taliban in Frage stellen. Da sein persönlicher Ruf und internationale politische Gefälligkeiten auf dem Spiel standen, war der Anreiz zur Durchsetzung in der Befehlskette der Taliban stark. Die Gouverneure der Distrikte erschufen shuras zur Überwachung in ihren Territorien. Die shuras bestanden aus dem Polizeichef, dem Chef des Ministeriums zur Förderung der Tugenden und der Bekämpfung der Laster, geistlich führenden Ulemas der lokalen Moscheen und Stammesältesten.“ [35]
Womöglich war jedoch die damit einhergehende Preiserhöhung ein gutes Geschäft für die Taliban: „Der Handel schien aufgrund der Existenz von beträchtlichen Reserven von Opiaten innerhalb Afghanistans unvermindert weiterzugehen – obwohl das Verbot den Anbau drastisch reduzierte. Währenddessen stieg der Preis aufgrund des zu Lasten der Mohnbauern durch die Taliban durchgesetzten Verbotes sprunghaft an. Asa Hutchinson, der Vorsitzende der Drogenvollzugsbehörde (DEA) sagte, dass regionale Preise für Opium in Afghanistan beträchtlich angestiegen sind, von 44$ pro Kilo vor dem Verbot bis zu 746$ pro Kilo vor den Terrorangriffen am 11. September in New York und Washington. Der weltweite Marktpreis ist hingegen stabil geblieben, ein Zeichen, dass sich das Angebot nicht verringert hat.“ [36] Opium ist ziemlich lange haltbar, das deutet darauf hin, dass noch Reserven vorhanden waren. Als Resultat des Anbauverbots wuchs 2001 in ganz Afghanistan nur noch auf ungefähr 8‘000 ha Mohn, die afghanische Opiumproduktion sank von 3‘276 t 2000 auf 185 t 2001 [37], der grösste Anteil davon, mehr als 6‘000 ha, in den von der Nordallianz kontrollierten Gebieten, weniger als 1‘000 ha in jenen der Taliban [38].
Im Januar 2002, als er noch Präsident der im Dezember 2001 eingesetzten Übergangsregierung war, versprach Hamid Karzai, dass er den Drogenhandel in Afghanistan beseitigen werde [39]. Die Realität spricht eine andere Sprache: Schon 2002 war die Anbaufläche wieder 74‘000 ha, der Ertrag stieg von 185 t auf 3‘400 t, mit 131‘000 ha war sie 2004 fast doppelt so gross, der Ertrag stieg auf 4‘200 t. Im letzten Jahr seiner Präsidentschaft, 2014, war die Anbaufläche grösser als je zuvor, 224‘000 ha, der Ertrag lag bei 6‘400 t [40]. Es ist ein bisschen einfach, für solch astronomische Zahlen einfach die Taliban zu beschuldigen, umso mehr, weil sie, wie es einer ihrer Vertreter im Film selbst einräumt, zwischen 2002 und 2005 sehr schwach waren und wohl kaum bis gar nicht von den Ernten in diesen Jahren profitierten.
In ihrer Hochburg Kandahar war es Karzais Halbbruder, der davon profitierte. Gelegen neben der Region Helmand, absolutes Epizentrum der afghanischen Opiumproduktion, ist die Region Kandahar in der Regel jene mit der zweitgrössten Ernte [41]. Ahmed Wali Karzai, von dem diverse Quellen behaupten, er sei auf der Gehaltsliste der CIA gestanden, war ab 2005 bis zu seinem Tod 2011 Vorsitzender des Provinzrates Kandahar, aber bereits zuvor war er der starke Mann in der Region: „Im Jahrzehnt seit 2001 setzte er alle Hebel in Bewegung, um der mächtigste Mann Südafghanistans zu werden. Er war eine Art Pate: Karzai arbeitete mit Drogenhändlern zusammen, befehligte bewaffnete Banden und machte Deals mit genau jenen Aufständischen der Taliban, welche die Amerikaner zu töten versuchten.“ [42]
Natürlich stritt er alles ab, das taten Leute aus Karzais Umfeld immer, wenn sie beschuldigt wurden, korrupt und/oder in den Drogenhandel verstrickt zu sein. Von der Justiz hatte sowieso niemand etwas zu befürchten, schliesslich kontrollierte Karzai mit seiner Familie und seinen Freunden fast das gesamte Land. Auch Zeugen dürften schwer zu finden sein, in Kandahar herrscht das Gesetz des Schweigens: „Die ganze Zeit wurde gemunkelt, dass jene Leute in Kandahar, welche die Wahrheit kannten, kontinuierlich schwiegen, sei es aus Angst vor Vergeltung oder weil sie auch auf der Gehaltsliste standen. In einem Gespräch mit der Times verglich Anthony Lloyd, ein westlicher Funktionär, Kandahar mit den Boston der 1930er Jahre während der Prohibition: ‚Wenn man ausserhalb der Einflusssphäre des Karzai-Kartells steht, dann ist das Leben angespannt,‘ sagte der Funktionär. ‚Es gibt furchtbar viel Gewalt hier, ausgelöst durch Macht, Geld und Drogen. Es gibt ein Bedürfnis, die Instabilität andauern zu lassen, versteckt hinder dem Feigenblatt der Respektabilität.‘“ [43]
Als grösste Privatbank des Landes hätte die Kabul Bank in diesem Teil des Filmes zumindest eine Erwähnung verdient gehabt. Sie wurde 2004 in Kabul gegründet, ihr Vorsitzender war Sherkhan Farnood, Mitte 2008 stiess Khalil Ferozi hinzu und wurde zum Geschäftsführer. Die beiden kannten sich schon lange und wussten scheinbar, wie man Geschäfte macht: „Sowohl Ferozi als auch Farnood verbrachten Zeit in Moskau in den 1980er Jahren, sie machten Geschäfte, die gelegentlich mit der kriminellen Unterwelt verwickelt waren. Farnood unterhielt Hawala-Systeme, Geldwechselsysteme ohne Regulierung, die es überall in Südasien gibt. Ferozi sagt, er sei ein Kleinhändler gewesen, der Güter von Russland nach Afghanistan exportierte. Nichts extravagantes: Mehl, Kochöl und Wasserpumpen. Trotzdem bekam er ein Mandat der grössten Geschäftsbank Afghanistans, eine Entscheidung, die vom Vorsitzenden der Zentralbank Abdul Qadeer Fitrat genehmigt wurde.“ [44]
Ende August 2010 begann „einer der schlimmsten Bankenskandale der Geschichte“ [45]: „Der Skandal um die Kabul Bank begann Ende August 2010, nachdem sich in Afghanistan Gerüchte verbreiteten, dass die Kabul Bank einen Verlust von 300 Millionen $ ausweise und dass ihre beiden obersten Verantwortlichen, der Vorsitzende des Verwaltungsrates Sherkhan Farnood und der Geschäftsführer Khalillulah Ferozi (auch Frozi oder Fruzi geschrieben), wegen finanzieller Misswirtschaft gefeuert worden seien. Der Vorsitzende der afghanischen Zentralbank Abdul Qadeer Fitrat bestritt, dass die beiden Männer gefeuert seien, und sagte, dass sie aufgrund einer Vorgabe der neuen Zentralbank gekündigt haben.“ [46] Alle Staatsangestellten erhielten ihren Lohn auf Konten der Kabul Bank und zu diesem Zeitpunkt waren die Ersparnisse von einer Million Afghanen auf ihren Konten, alles in allem mehr als 1.3 Milliarden $ [47]. Aufgrund der brodelnden Gerüchteküche bildeten sich in der ersten Septemberwoche enorme Schlangen vor den Filialen der Bank, alle wollten ihr Geld abheben, bevor es zu spät war.
Für die meisten dürfte es schon zu spät gewesen sein. Das Schema war einfach und komplex zugleich, die afghanische Elite plünderte systematisch das Vermögen der Mittelklassen: „Der Diebstahl bei der Kabul Bank wurde durch ein komplexes System des Massenbetrugs bewerkstelligt. Der Vorsitzende Farnood und der Geschäftsführer Fernozi führten die Regie des Betrugs, indem sie fiktive Unternehmen erschufen und ihnen dann Darlehen gewährten. Stattdessen wurde das Geld an die Aktionäre der Kabul Bank und andere Mitglieder der afghanischen Elite wie führende Geschäftsmänner, Minister, Parlamentsmitglieder und ehemalige Politiker verteilt. Diese Individuen gaben das Geld aus für geschäftliche Unterfangen, Familienmitglieder, die Kampagne zur Wiederwahl Karzais 2009 und seine politische Agenda, Villen für mehrere Millionen Dollar […].“ [48] Zudem wurde Kapital via Farnoods und Fernozis Shaheen Exchange nach Dubai transferiert und im dortigen Immobilienmarkt investiert, entweder zur Spekulation oder um diversen Leuten hübsche Villen zu spendieren, z.B. diversen Verwandten Karzais oder Ahmad Zia Massoud, dem Bruder von Ahmad Schah Massoud. Auch Firmen wie z.B. Pamir Airways, Kabul Oil Company oder Afghan Investment Company profitierten vom Geldsegen, alles Unternehmen, an denen Aktionäre der Kabul Bank beteiligt waren [49].
Einmal mehr war das engste Umfeld Karzais an den Machenschaften beteiligt, sein Bruder Mahmoud Karzai war nach Farnood und Ferozi der drittgrösste Aktionär der Bank. Dank einer doppelten Buchhaltung wurde anfangs der Verlust mit 300 Millionen $ angegeben, später kam die wahre Zahl von 925 Millionen $ ans Licht, fast ein Zwölftel des damaligen afghanischen Bruttoinlandsprodukts. Ein weiterer Aktionär war Abdul Ghafar Dawi, er ist der Eigentümer und Präsident von Dawi Oil, dem grössten afghanischen Lieferanten für Flugzeugtreibstoff, zu den Kunden des Unternehmens gehören die USA und die NATO. Seine Frau ist die im Film omnipräsente Shukria Barakzai, die öffentlich verkündete, der Skandal solle aufgeklärt werden. Sie dürfte damit nicht die Rolle ihres Mannes gemeint haben: „[D]er Generalstaatsanwalt suchte nach Sündenböcken, indem niedere Angestellte der Kabul Bank ins Visier genommen wurden, statt die Aktionäre.“ [50]
Zwar kam es in der Geschichte zu einigen Verurteilungen, doch die meisten hochrangigen Beteiligten kamen ungeschoren davon oder ihre Gefängnisstrafen waren weitgehend fiktiv. Sherkhan Farnood beispielsweise hatte zu hoch gepokert, er starb am 24. August 2018 in einem Gefängnis in Kabul [51]. Dass er wirklich ins Gefängnis musste, könnte durchaus damit zusammenhängen, dass er damals ein bisschen zu gesprächig gewesen war und im Juli 2010 der amerikanischen Botschaft „alles“ erzählt hatte [52]. Ferozi hatte mehr Glück: Er konnte tagsüber Geschäfte machen und musste lediglich im Gefängnis übernachten, er bekam sogar ein Mandat, um in Kabul eine „Smart City“ zu bauen [53], 2019 wurde er begnadigt und vollständig aus dem Gefängnis entlassen. Auch Dawi wurde 2017 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, trotzdem ist er auf der Homepage von Dawi Oil immer noch als Geschäftsführer aufgeführt.
Nachdem die Kabul Bank dank einer Finanzspritze von 820 Millionen $ von der Regierung gerettet und 2011 zur New Kabul Bank wurde, geriet die afghanische Regierung unter Druck von den internationalen Geldgebern. Es ist wohl kein Zufall, dass die ersten Verurteilungen am 4. Dezember 2014 ausgesprochen wurden, am gleichen Tag begann eine Geberkonferenz für Afghanistan in London. Trotz aller schöner Worte waren 2017 nur 29 von 407 geschuldeten Millionen $ zurückgezahlt [54]. All das ins Ausland transferierte Geld kam nie zurück [55] und Afghanistan war 2019 auf Rang 173 von 180 in der Liste von Transparency International. Der Aufbau der Demokratie war demnach ein sehr gutes Geschäft für die prowestliche afghanische Elite.
Fazit
In den vier Teilen des Films wird ein Märchen erzählt, es spielt in einem fernen aber wunderschönen Land, wo die Leute schon immer fromm und tapfer waren. Dieses Land hatte einen guten König, der die Demokratie einführen wollte, doch dann kamen die bösen Russen und machten alles kaputt. Das ehrenwerte afghanische Volk wollte seiner Tradition nicht beraubt werden und erklärte der Gottlosigkeit den heiligen Krieg. Selbstlose Krieger verteidigen es vor der roten Gefahr, die nicht minder selbstlose CIA half ein bisschen. In kulturalistischer Manier werden alle Konflikte mit ethnischen Spannungen erklärt und die wenigen kritischen Bemerkungen im vierten Teil reichen bei weitem nicht, um ein positives Urteil über den Film zu fällen.
Es wird nicht einmal versucht, die imperialistischen Konflikte zu erklären, gleich zu Beginn wird proklamiert, Afghanistan sei „ein Rätsel“ und das bleibt es bis zum Ende des Films. Hekmatyar hat nicht ganz unrecht, wenn er das Ausland beschuldigt, für die Konflikte in Afghanistan verantwortlich zu sein, als langjähriger Agent Pakistans weiss er schliesslich, wovon er spricht. Tatsächlich treffen in Afghanistan viele miteinander konkurrierende Interessen aufeinander, die NATO, Pakistan, Iran, Russland, China, Indien, sie alle mischen auf die eine oder andere Art und Weise im politischen und wirtschaftlichen Leben Afghanistans mit und die Liste ist selbstverständlich unvollständig. Die verschiedenen Fraktionen der afghanischen Bourgeoisie suchen ihre internationale Unterstützung dort, wo sie sie kriegen können, und falls nötig, wechseln sie die Seite.
Hekmatyars Geschichte ist eine Illustration einer solchen flexiblen Bündnispolitik. Nach dem Rückzug der Russen verbündete er sich sogar mit Shanawaz Tanai, dem Verteidigungsminister unter Najibullah und Mitglied der Khalq-Fraktion, gemeinsam versuchten sie am 6. März 1990 erfolglos die Regierung zu stürzen. Nach dem Kollaps der Demokratischen Republik Afghanistans im April 1992 schloss sich ein beträchtlicher Teil der Khalq-Fraktion Hematyars Miliz an. Dostums Miliz verbündete sich daraufhin mit Massoud nachdem sie bisher auf Seiten der DVPA-Regierung gekämpft hatte, 1994 wechselte sie die Seite und schloss sich gemeinsam mit der schiitischen Hezb-e Wahdat Hekmatyars Fraktion an. Nachdem Hekmatyar ab 1994 zunehmend vom ISI fallengelassen wurde, näherte er sich zuerst den Taliban an, dann ging er 1997 ins iranische Exil. Den Iran musste er 2002 verlassen, danach waren seine Kämpfer im Widerstand gegen die NATO-Truppen aktiv, 2015 rief er seine Kämpfer dazu auf, den lokalen Ableger des Islamischen Staats im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen und 2016 unterzeichnete er schliesslich ein Friedensabkommen mit der Regierung in Kabul. Im Westen galt er je nach Periode als Freiheitskämpfer oder Terrorist und neustens scheinbar, in Anbetracht seiner Rolle im Film, als Demokrat.
Es ist reichlich naiv, sich Afghanistan in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne ausländische Einflüsse vorzustellen, dann hätte das Land nicht besonders viel Infrastruktur. Es ist kaum industrialisiert, der sekundäre Sektor repräsentiert bloss 21.1% des BIP [56], der primäre 23% und der tertiäre 55.9%, wobei präzisiert wird, dass die Zahlen die Opiumproduktion nicht einbeziehen. Wenn man die Sektoren in Funktion der Arbeitsplätze miteinander vergleicht, ergibt sich ein anderes Bild: Fast die Hälfte aller afghanischen Arbeitsplätze, 44.3%, liefert der primäre Sektor, nur 18.1% der sekundäre und 37.6% der tertiäre. Die Opiumproduktion repräsentiert ein Drittel des afghanischen BIP und 600‘000 Vollzeitarbeitsstellen [57]. Bezogen auf das BIP von 2017 bedeutet das, dass die Opiumproduktion dem Land fast 7 Milliarden Dollar jährlich einbringt. Da dieses Geld früher oder später gewaschen werden muss, dürfte gerade im tertiären Sektor viel Kapital aus der Opiumproduktion schlummern. Aufgrund solcher Zahlen kann man nur zu einem Schluss gelangen: Die wirtschaftliche Struktur des Landes ist davon überdeterminiert. Der Skandal um die Kabul Bank ist ziemlich sicher nur die Spitze des Eisberges und illustriert die weitgehende Normalität mafiöser Praktiken.
Wie illusorisch der afghanische „Kampf gegen die Drogenwirtschaft“ ist, zeigt folgende Anekdote: „Die Bauern hielten jegliche Bemühungen für überflüssig, das, was sie anpflanzten, zu verstecken, denn Tausende geschwollene Fruchtkapseln des Schlafmohns tanzten freudig in einem Feld, das nur eine halbe Stunde vom Flughafen Mazar-i-Sharif entfernt war und gleich neben der Hauptstrasse lag. […] Der Bauer, Taza Meer, war entspannt unter dem Schutz eines ominös ausschauenden Mannes mit einer AK-47 um seine Schulter gehängt. ‚Mach dir keine Sorgen wegen ihm‘, versicherte er. ‚Er ist der lokale Polizist.‘ Der Anbau von Opium ist ein schweres Verbrechen in Afghanistan, das mit dem Tod bestraft werden kann, doch hier stand ein Polizist, der einen Reporter der BBC auf einem Mohnfeld empfing, das kurz davor stand, geerntet zu werden.“ [58] Oft wird behauptet, es seien allen voran oder nur die Taliban, welche vom Opiumanbau profitieren, die Region Mazar-i-Sharif ist allerdings alles andere als eine ihrer Hochburgen.
Der Krieg in Afghanistan ist also auch ein Krieg um die Kontrolle der Opiumproduktion. Das im Februar unterzeichnete Friedensabkommen mit den Taliban ist eher ein Rückzugsabkommen und kommt für die NATO schon fast einer Kapitulation gleich. Auch wenn es wirklich umgesetzt werden sollte, wird der Westen wohl nicht einfach so 90% der weltweiten Heroinproduktion den Taliban überlassen. Diese führen ihre Angriffe weiter wie zuvor und da im Moment sowohl Ashraf Ghani als auch Abdullah Abdullah behaupten, legitimer Präsident Afghanistans zu sein, wird die Situation immer chaotischer. Für das afghanische Proletariat sind die Perspektiven düster und für die proletarischen Frauen noch viel düsterer. Jene verarmten Bauern, welche durch den verbreiteten Landraub oder aus anderen Gründen dazu gezwungen werden, sich zu proletarisieren, werden in den meisten Fällen keine legale Arbeit finden, sie sichern den Nachschub an Kanonenfutter.
Wer nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, wird in diesem Krieg schlichtweg zerrieben, das bringt die im vierten Teil von Emily Miller berichtete Aussage einer Dorfbewohnerin auf den Punkt: „Warum glauben sie, dass sie anders sind als die Taliban? Sie kommen um 2 Uhr morgens zu mir nach Hause, bedrohen mich und die tun das selbe. Welche Seite soll ich wählen? Wenn ich mit den Taliban zusammenarbeite, sind sie hinter mir her, wenn ich mit ihnen zusammenarbeite, sind die Taliban hinter mir her.“ Im Kampf des Kapitals gegen den tendenziellen Fall der Profitrate hat die Drogenproduktion im Gegensatz zu anderen illegalen Wirtschaftssektoren einen entscheidenden Vorteil: Sie schafft Mehrwert. Mit jeder neuen Krise, der damit einhergehenden Ausbreitung der Peripherie und der zunehmenden Befestigung der kapitalistischen Zentren wird dieser Zustand zur Normalität für einen immer grösseren Anteil des globalen Proletariats. Ob die jeweiligen Regierungen formal als demokratisch gelten oder nicht, macht in einem solchen Kontext keinen grossen Unterschied.
Doc Sportello
Mai 2020
[1] Die vier Episoden sind bis am 5. Juli 2020 auf der Homepage von ARTE verfügbar.
[2] Sonali Kolhatkar, James Ingalls, Bleeding Afghanistan. Washington, Warlords, and the Propaganda of Silence, New York, Seven Stories Press, S. 9. Siehe auch George Crile, Charlie Wilson‘s War. The Extraordinary Story of the Largest Cover Operation in History, New York, Atlantic Monthly Press, S. 222.
[3] Siehe ebd.
[4] Gregory Feifer, The Great Gamble. The Soviet War in Afghanistan, New York, HarperCollins, 2009, S. 21.
[5] Zitiert nach Assem Akram, Histoire de la guerre d‘Afghanistan, Paris, Balland, 1996, S. 119.
[6] Rodric Braithwaite, Afgantsy. The Russians in Afghanistan 1979-89, Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 60.
[7] Siehe Gregory Feifer, op. cit., S. 58.
[8] Siehe „The Storming of the Palace“ in Rodric Braithwaite, op. cit., S. 82-102.
[9] Artyom Borovik, The Hidden War. A Russian Journalist‘s Account of the Soviet War in Afghanistan, London/Boston, Faber and Faber, 1991 [1990], S. 1.
[10] David Gibbs, „Forgotten Coverage of Afghan ‚Freedom Fighters‘“, FAIR, 1. Januar 2002.
[11] Siehe ebd.
[12] Doc Sportello, „Zur ‚Wurzel‘ des Islamischen Staats: Eine Kritik der ‚Thesen zum Islamismus‘ von La Banda Vaga“, Juni 2019.
[13] Siehe Ursula Lehmkuhl, „Die Reagan-Jahre: Zurück zum ‚alten Glanz‘“, Bundeszentrale für politische Bildung, 11. Oktober 2008.
[14] Siehe Hasnain Kazim, „Das sowjetische Waterloo“ in Der Spiegel, 22. Dezember 2009.
[15] Siehe Steve Coll, Ghost Wars. The Secret History of the CIA, Afghanistan, and bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001, New York, Penguin, 2004, S. 124.
[16] Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München/Zürich, Piper, 2004 [2000], S. 180.
[17] Siehe Vanda Felbab-Brown, Shooting Up. Counterinsurgency and the War on Drugs, Washington, Brookings Institution Press, 2010, S. 115.
[18] Siehe ebd.
[19] Martin Jäger, „Der Tod aus dem Hindukush“ in Die Zeit, 6. Dezember 1991.
[20] Siehe Steve Coll, op. cit., S. 155.
[21] Thomas Hegghammer, The Caravan. Abdallah Azzam and the Rise of Global Jihad, Cambridge, Cambridge University Press, 2019, S. 3.
[22] Siehe ebd., S. 6.
[23] Siehe David Gibbs, op. cit.
[24] Siehe Steve Coll, op. cit., S. 156.
[25] Michael Griffins, „A Gruesome Record“ in The Guardian, 16. November 2001.
[26] Siehe The Afghanistan Justice Project, „Casting Shadows: War Crimes and Crimes against Humanity: 1978-2001“, 2005, S. 63.
[27] Richard Mackenzie, „The US and the Taliban“ in William Maley (Hg.), Fundamentalism Reborn? Afghanistan and the Taliban, New York, New York University Press, 1998, S. 97.
[28] Siehe Steve Coll, op. cit., S. 413-415.
[29] Siehe ebd., S. 513.
[30] Siehe ebd., S. 485.
[31] Am 9. September 2001, nicht am 7., wie im Film fälschlicherweise angegeben.
[32] RAWA, „Ohne Zurückweisung der Fundamentalisten bleibt die Wahrung der Menschenrechte Illusion oder Traum“, 10. Dezember 2002.
[33] Alfred W. McCoy, „How the Heroin Trade Explains the US-UK Failure in Afghanistan“ in The Guardian, 9. Januar 2018.
[34] Siehe UNODC und Islamic Republic of Afghanistan Ministry of Counter Narcotics, „Afghanistan Opium Survey 2018. Cultivation and Production“, S. 6-7.
[35] Graham Farrell, John Thorne, „Where Have all the Flowers Gone? Evaluation of the Taliban Crackdown against Opium Poppy Cultivation in Afghanistan“ in International Journal of Drug Policy, Nr. 16, 2005, S. 85.
[36] Manuel Perez-Rivas, „U.S.: Taliban Continue to Profit from Drug Trade“, CNN, 3. Oktober 2001.
[37] Siehe UNODC und Islamic Republic of Afghanistan Ministry of Counter Narcotics, op. cit., S. 6-7.
[38] Siehe Graham Farrell, John Thorne, op. cit., S. 86.
[39] Siehe Matthew Beard, „Karzai Promises to Rid His Country of Drug Trade“ in The Independent, 7. Januar 2002.
[40] Siehe UNODC und Islamic Republic of Afghanistan Ministry of Counter Narcotics, op. cit., S. 6-7.
[41] Siehe ebd., S. 17.
[42] Dexter Filkins, „Death of an Afghan Godfather“ in The New Yorker, 12. Juli 2011.
[43] Simon Tisdall, „Ahmed Wali Karzai, the Corrupt and Lawless Face of Modern Afghanistan“ in The Guardian, 12. Juli 2011.
[44] Jon Boone, „The Financial Scandal that Broke Afghanistan‘s Kabul Bank“ in The Guardian, 16. Juni 2011.
[45] Jon Boone, „Afghan Finance Minister Admits Doubts over Kabul Bank‘s Missing $1bn“ in The Guardian, 15. November 2011.
[46] Michael Huffman, „The Kabul Bank Scandal and the Crisis that Followed“, 3. Dezember 2011, S. 7.
[47] Siehe Grant McLeod, „Responding to Corruption and the Kabul Bank Scandal“, United States Institute of Peace, Dezember 2016, S. 2.
[48] Michael Huffman, op. cit., S. 13.
[49] Siehe ebd., S. 16-17.
[50] Siehe ebd., S. 4.
[51] Farnood war ein begabter und weltweit bekannter Pokerspieler. Sein Tod wurde in einem Artikel auf dem Portal Casino.org kommentiert, siehe Klaus Zimmermann, „WSOPE Bracelet Gewinner Sherkhan Farnood ist in afghanischem Gefängnis gestorben“, 31. August 2018.
[52] Siehe Michael Huffman, op. cit., S. 9.
[53] Siehe Mujib Mashal, „Afghan Businessman Convicted in Kabul Bank Fraud Is Still Free to Make Money“ in New York Times, 4. November 2015.
[54] Siehe Zarmina Mohammadi, „Millions of Dollars Still Owed to the Kabul Bank“ in Tolo News, 12. Februar 2017.
[55] Siehe Grant McLeod, op. cit., S. 7-8.
[56] Falls nicht anders angegeben, stammen die Zahlen aus dem World Factbook der CIA.
[57] Siehe Justin Rowlatt, „How the US Military‘s Opium War in Afghanistan Was Lost“, BBC News, 25. April 2019.
[58] Ebd.