Chile: Keine Anfüher*innen und “Wut gegen die staatliche Autorität”

veröffentlicht am 28. Oktober 2019

Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Ein Interview mit einem_r Aktivist_in der Studierendenbewegung in Valparaíso über die Hintergründe der Proteste.

In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?
Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.

Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?

Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.

Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?

Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.

Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?

Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.

Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?

Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße.

Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?

Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Armee wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.

Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?

Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!

Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?

Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.

Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?

Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.

In jüngerer Zeit gab es öfter Aufstände gegen neoliberale Regierungen in Lateinamerika. Jetzt in Chile, davor in Ecuador, Haiti, Puerto Rico oder auch letztes Jahr in Argentinien. Was denkst du warum passiert das gerade? Meinst du, wir könnten noch sowas wie einen lateinamerikanischen Frühling erleben?

Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.

Anmerkung der Moderation

Im vorgeschlagenen Artikel wurden Namen genannt, die von uns als Redaktionskollektiv entfernt wurden, da die Nennung der Namen ein etwaiges Repressionsrisiko darstellen könnte.

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