Die Wiener Politszene bewirbt Überwachungskapitalismus

veröffentlicht am 1. Januar 2022

"Hinter dem Faschismus steht das Kapital", und das auch im 21. Jahrhundert, in Zeiten der Digitalisierung.

Die Wiener Linke hat ein Problem. Denn auch wenn der eben zitierte Satz immer wieder auf Demos lauthals in den leeren Raum gebrüllt wird, fehlt es an dem Bereitschaft, den Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und dem gesellschaftlichen Rechtsruck zu reflektieren. Eine Debatte zur kritiklosen Nutzung von Überwachungstechnologie in der Szene ist schon längst überfällig- gleichzeitig ist die Hoffnung, die Szene zur Selbstreflektion zu bewegen eher gering. Zu wichtig ist die Selbstdarstellung von AktivistInnen und Gruppen mittlerweile, zu sehr internalisiert ist der Trieb zur Befriedigung des limbischen Systems durch Followers, Likes und Retweets.

Wir erleben seit Jahren ein Erstarken von rechten Bewegungen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt: in den USA die Wahl von Trump, die mediale Ausbreitung der Altright Bewegung und die damit verbundene Normalisierung von menschenverachtenden Ideologien. In Grossbritannien die erfolgreiche Kampagne für den EU Austritt. Im deutschsprachigen Raum die Pegida Bewegungen, die Identitären und nun die Coronaleugnernazis. Was all diese Bewegungen gemein haben ist, dass sie sich vor allem über kommerzielle "soziale" Netzwerke stark geworden sind.
Plattformen wie Facebook, Twitter und Youtube machen Geld mit Werbeeinahmen. Um viele Klicks zu generieren ist es wichtig, NutzerInnen auf den jeweiligen Plattformen zu halten und ihnen immer wieder neuen Content zu präsentieren, der zu Interaktion führt. Die Auswahl des Contents passiert mittels Algorithmen.
Algorithmen, die auch dazulernen, welcher Content zu mehr Interaktion geführt hat, welcher Content mehr geteilt wurde - und dadurch ihre Vorschläge auch anpassen. Verschiedenste Studien haben schon gezeigt, dass solche Algorithmen zunehmend polarisierenden Content auswählen und somit rechten und verschwörungstheoretischen Content vermehrt in die Gesellschaft tragen.

Aber es sind genau diese Plattformen, die ein Grossteil der wiener Linken für Debatten und Publikationen nutzen und damit bewerben. Mit Hashtagaktivismus und Selbstdarstellerei wird vergeblich versucht, linke, emanzipatorische Ansätze über soziale Netzwerke zu verbreiten. Als Vorwand von Gruppen wird oft angegeben, dass es notwendig sei, auf Überwachungstechnologie zu setzen, um Menschen zu erreichen. Dass damit eine Normalisierung von Überwachungskapitalismus einhergeht, wird in Kauf genommen. Oder aber die Problematik der Nutzung solcher Medien wird einfach nicht erkannt, wahrscheinlich, weil die Kapitalismuskritik noch im vorigen Jahrhundert feststeckt und sich nicht so einfach auf digitale Medien übertragen lässt. Und es ist ja auch verständlich: ein paar tausend Follower auf Twitter oder hunderte Likes auf Facebook heben das Selbstbewusstsein und stärken das Ego - wer will sich das schon entgehen lassen? Immerhin investieren die dahinterstehenden Konzerne viel, um die abhängigen NutzerInnen weiter bei der Stange zu halten. Ganze Teams von WerbepsychologInnen arbeiten daran, mittels dark patterns die pawlovschen Reflexe von AktivistInnen zu bedienen ("Don’t forget to click the bell!!11!1"). Ähnlich wie Tabak- oder Glücksspielindustrie bauen kommerzielle "soziale" Netzwerke ein Suchtverhalten mit ihren NutzerInnen auf. Und die Wiener Politszene besteht Grossteils aus PusherInnen, die diese Abhängigkeit bewerben. Wer braucht schon einen Malboro Man, wenn Aktivistin X Twitter als Debattenplattform bewirbt und Gruppe Y Veranstaltungen nur noch über Facebook bewirbt. Und weil die Befriedigung mittels Egoboostern auf solchen Plattformen so gut funktioniert, wird dann ganz schnell ausgeblendet, dass die Nutzung ebendieser den Rechtsruck und eine Faschisierung der Gesellschaft mitzuverantworten hat. Es wird dann zwar auf der Strasse mit unzähligen Demos und Transpiaktionen (die sich im Nachhinein auf Insta vermarkten lassen) ein emanzipatorische Politik inszeniert, aber gleichzeitig mittels Facebookevents, Twitterticker und Youtubestreams eine Politik normalisiert, die jeglicher Emanzipation entgegensteht. Und es wird verbalradikal von einer ’befreiten Gesellschaft’ daherfantasiert oder ’Gegen Staat, Nation und Kapital’ protestiert, um im selben Atemzug Netzwerke für soziale Kontrolle zu pushen, die rechten, antifeministischen und verschwörungsideologischen Strukturen in den letzten 10 Jahren zu einem unglaublichen Zuwachs verholfen haben.

Als Linke sollten wir uns doch auf Dauer überlegen, wie wir einerseits mit den Plattformen an sich und andererseits mit den InfluenzerInnen, die sie bewerben, umgehen. Kann es ernst gemeinte antikapitalistische, emanzipatorische Politarbeit geben, wenn diese im gleichen Atemzug eine kapitalistische Zukunft der totalen Kontrolle bewirbt?
Es ist bezeichnend, wenn, wie vor kurzem bei der Auflösung der Facebookantifa, die drängendste Frage nicht die Kontinuität antifaschistischer Arbeit ist, sondern wer in Zukunft den Social Media Account auf einer Überwachungsplattform weiter betreibt. Und während so manche "linke" Gruppe noch ihre Likes zählt, organisieren konservative, rechte Strukturen Massenproteste in Wien.

"For the master’s tools will never dismantle the master’s house. They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change."

Lorde, Audre, 1984

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