Sommer 2001: Tod und Folter in Genua

veröffentlicht am 22. Juli 2023

Starke Proteste begleiteten den 27. G8-Gipfel, der heute vor 22 Jahren im norditalienischen Genua eröffnet wurde. Im Rahmen der Auseinandersetzungen wurde der Student Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen, später schikanierten italienische Sicherheitskräfte stundenlang Demonstrierende in einer Polizeikaserne – seit 2017 spricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von „Folter“. – Ein Rückblick auf die Geschehnisse und das, was übrig bleibt. Von Konstantin Jung

Die Jahrtausendwende war politisch gesehen geprägt von einer großen Protestwelle gegen internationale Gipfeltreffen jeglicher Art: Zu nennen sind beispielsweise Konferenzen oder Treffen der Welthandelsorganisation (WHO) in Seattle, des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Prag, des EU-Gipfels in Göteborg und, zuletzt, des Gipfels der damaligen Gruppe der Acht in Genua. In Bezug auf die Demonstrationen wird oft von „Straßenschlachten“ gesprochen, welche die eigentlichen Treffen „überschattet“ hätten. Doch im Sommer 2001 sorgten vor allem Staatsbedienstete selbst für großes Leid in Genua – und kamen trotzdem weitgehend ungeschoren davon.

Unter dem Vorwand, „die Proteste friedlich zu halten“, ergriff die damalige italienische Regierung unter Rechtsaußen-Milliardär Berlusconi harsche Maßnahmen und setzte zwecks umfassender Ausweiskontrollen an Flughäfen sogar das Schengen-Abkommen über die freie Einreise außer Kraft – nicht zuletzt auch mit Unterstützung der rot-grünen Regierung in Deutschland und des damaligen Innenministers Otto Schily.

20.000 Polizist:innen und Carabinieri, italienische Streitkräfte, waren Teil des Sicherheitsprogramms. Darüber hinaus wurden Terrorspezialist:innen eingesetzt und sogar Flugabwehrraketen sowie die Kriegsflotte San Marco installiert. Trotz, oder gerade wegen, der beispiellosen Abschottung der G8-Regierungschefs waren es jedoch vor allem die global angereisten Aktivist:innen, die von den Menschen aus Genua freundlich begrüßt wurden.

Eskalation am 20. Juli 2001
Bereits am 19. Juli mobilisierten Gewerkschaften, antirassistische Gruppierungen und auch kirchliche Initiativen zu einer Demonstration für die Rechte von Migrant:innen, zu der letztlich rund 50.000 Leute zusammen kamen. Diese verlief noch relativ friedlich – es war vor allem der Folgetag, der besonders für Schlagzeilen sorgte.

Die Demonstrierenden – einerlei, ob schwarzvermummte Anarchist:innen oder christliche Nonnen – wurden mit Unmengen an Tränengas sowie Schlagstöcken traktiert, am Rand der genehmigten Veranstaltung wurden Zehntausende eingekesselt und leisteten Widerstand gegen die unsägliche Polizeigewalt. Am Ende des langen Freitags war der Student Carlo Giuliani tot – per Kopfschuss zu Boden gebracht und zweimal vom gepanzerten Carabinieri-Jeep überrollt.

Als Reaktion auf den tödlichen Vorfall wurde die Mobilisierung zur Demonstration am darauf folgenden Samstag nochmals verstärkt, erneut erschienen ab den frühen Morgenstunden hunderttausende Protestierende auf den Straßen Genuas. Viele Angereiste entschieden sich später aufgrund der unübersichtlichen Situation, noch eine letzte Nacht in der Stadt zu verbringen.

Eine Anlaufstelle war dabei die von der Stadt bereit gestellte Diaz-Schule, in der sich neben einer Rechtshilfestelle und einer Erste-Hilfe-Station auch ein Sendepunkt des Mediennetzwerkes Indymedia befand. Besonders unerfahrene oder ungeschützte ältere Menschen wurden hier verarztet, da sie – im Gegenteil zu den mit Gasmasken ausgestatteten Black-Block-Teilnehmer:innen – besonders stark durch das Reizgas der Polizei verletzt worden waren.

Faschistische Lieder und Folter
Gegen 1 Uhr nachts wurde ebendiese Unterkunft von schwer bewaffneten Carabinieri in Zivilkleidung gestürmt. Sie rissen die Menschen aus dem Schlaf, prügelten auf sie ein und brachen ihnen die Knochen – eine Betroffene beschreibt das Vorgehen kurze Zeit später als einen „faschistischen Überfall“. Diese Formulierung deckt sich mit den Vorfällen in der Polizeikaserne von Bolzaneto, welche die vorherigen Ereignisse in Sachen Skrupellosigkeit und Gewaltsamkeit nochmals übertreffen dürften: Ein Gefängnis im nördlichen Stadtteil Bolzaneto wurde kurzerhand in eine Gefangenensammelstelle für etwa 250 Protestierende umgewandelt, inklusive derer, die nach der Prügelattacke in der Diaz-Schule noch nicht ganz krankenhausreif waren und noch laufen konnten.

Mehrere Artikel beschreiben akribisch die mehr als nur menschenunwürdigen Verhältnisse, die an diesem Ort zwei Nächte lang herrschten: An diesem Juliwochenende werden angekommene Häftlinge bespuckt, Wartende müssen stundenlang in schikanösen Körperhaltungen verharren, Wächter schlagen einigen Männern brutal auf die Hoden ein.

Eine menstruierende Frau muss ein Intimpiercing vor sechs Polizeibeamten entfernen, eine andere wird sexuell bedroht und ihr Kopf in die Toilette gesteckt. Polizist:innen, Carabinieri und Soldat:innen singen Loblieder auf Mussolini und Auschwitz, Krankenpfleger:innen schauen weg. Der leitende Arzt selbst trägt – auch während der Behandlung – eine Pistole im Gürtel, seine Füße stecken in Springerstiefeln.

Betroffene erinnern sich auch an das unverkennbare Feindbild der Strafvollzugsbeamt:innen: linke Politiker:innen wie Fausto Bertinotti werden verhöhnt und Gefangene als „Scheiß-Kommunisten“ beleidigt. Im selben Atemzug wird der Holocaust zelebriert und der „Tod der Juden“ gefordert. Der damalige Innenminister Claudio Scajola meinte seinerzeit, die Polizei habe „ihre Aufgabe würdevoll erfüllt“. Laut Vize-Premierminister Gianfranco Fini hätten die Demonstrierenden das „bekommen, was sie verdienten“. Mutmaßlich hatte die Regierung im Vorhinein sogar 200 Leichensäcke geordert.

Erst 16 Jahre später beschreibt auch die italienische Polizei nach Druck des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Ereignisse des Wochenendes offiziell als “Folter” – ohne jedoch konkreter auf die augenscheinlich faschistische Einstellung der Staatsbeamteten einzugehen.

Was bleibt?
Dank unermüdlicher Arbeit von Betroffenen wurden später 13 der 29 angeklagten Polizist:innen wegen des Angriffes auf die Schule verurteilt, zu Haftstrafen länger als vier Jahre kam es jedoch bislang nicht. Das Gericht in Genua blieb damit weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück, die für die Angeklagten insgesamt mehr als 100 Jahre Gefängnis forderte. Vielmehr verteilte die Regierung einzelne Posten um, der Großteil der Täter:innen kam gänzlich ohne Haftstrafe davon, viele Opfer der Polizeigewalt sind jedoch bis heute in Zivilprozesse eingebunden und kämpfen um Entschädigung.

Spätestens seit den heftigen Protesten in Genua werden die Gipfeltreffen der wirtschaftsstärksten Staaten der Welt mittlerweile in eher abgeschotteten Regionen abgehalten. Dadurch rücken die ohnehin sehr heimlichen Gespräche der Regierungschefs in den Fokus, der Protest und Widerstand der Bevölkerung tritt in den Hintergrund.

Darüber hinaus kommt auf Massenprotesten seitens der Polizei nun häufiger das “summit policing” zum Einsatz: statt auf Deeskalation wird hierbei auf Repression und Militarisierung gesetzt. Immer größere Areale zwischen Tagungsort und zivilem Bereich werden für heutige Gipfeltreffen abgeschottet, ob um das Schloss Elmau im tiefsten Bayern herum oder mitten in der Hansestadt Hamburg. Dazu kommt eben die bereits erwähnte eskalierende Wirkung der Staatsgewalt, die besonders nach dem G20-Gipfel 2017 stark diskutiert wurde.

So schmückt im Innenhof mittlerweile ein Spielplatz die ehemalige Kaserne in Bolzaneto, die Türen der Räume wurden „bürgernah“ in Richtung der Stadt geöffnet. Und das Blut der Menschen, die vor 22 Jahren in der Turnhalle der Diaz-Schule vom „Freund und Helfer“ aus dem Schlaf geprügelt wurden, ist heute unter neuen Dielen versiegelt. Für viele Betroffene bleiben die Nächte jedoch weiterhin „die schlimmste Erfahrung“ ihres Lebens.
https://perspektive-online.net/2023/07/sommer-2001-tod-und-folter-in-genua/

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