Urteile im Kobanê-Verfahren gesprochen

veröffentlicht am 19. Mai 2024

In dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess in der Türkei gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Oppositionelle sind die Urteile gesprochen worden. Wie erwartet, wurden die Angeklagten zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.

Als die Urteile verkündet wurden, wurde im Saal im Gefängniskomplex Sincan auf die Tische geklopft und die Parole „Bijî Berxwedana HDP“ (zu Deutsch: Es lebe der Widerstand der HDP) gerufen. Die Verteidigung verließ aus Protest den Gerichtssaal. Die Urteile sehen wie folgt aus:

Ahmet Türk: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuß

Ali Ürküt: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde zunächst auf 16 Jahre und anschließend auf 13 Jahre und vier Monate reduziert; bleibt im Gefängnis

Alp Altınörs: 18 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis

Altan Tan: Freispruch nach CMK 223

Ayhan Bilgen: Freispruch in allen Anklagepunkten

Ayla Akat Ata: Neun Jahre und neun Monate Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; U-Haft wird angerechnet bzw. Aussetzung der Reststrafe, kommt frei

Aynur Aşan: Neun Jahre Haft Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt wegen „Fluchtgefahr“ im Gefängnis

Aysel Tuğluk: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; ist wegen Demenz-Erkrankung seit 2022 auf freiem Fuß

Ayşe Yağcı: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aussetzung der Reststrafe

Beyza Üstün: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen

Bircan Yorulmaz: Freispruch in allen Anklagepunkten

Bülent Parmaksız: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“, bleibt im Gefängnis

Can Memiş: Freispruch in allen Anklagepunkten

Dilek Yağlı: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis

Emine Ayna: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuß

Figen Yüksekdağ: 32 Jahre und neun Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, Terrorpropaganda; bleibt im Gefängnis

Gülfer Akkaya: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen

Gülser Yıldırım: Freispruch in allen Anklagepunkten

Gültan Kışanak: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmaßerhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen

Günay Kubilay: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“

İsmail Şengül: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; bleibt im Gefängnis

Meryem Adıbelli: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Haftentlassung angeordnet

Mesut Bağcık: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aufhebung der Meldeauflagen angeordnet

Nazmi Gür: Erschwerte lebenslange Haft wurde auf 18 Jahre reduziert; viereinhalb Jahre Haft wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis

Pervin Oduncu: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde auf 18 Jahre reduziert; bleibt im Gefängnis

Sebahat Tuncel: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmaßerhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen

Selahattin Demirtaş: 20 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, viereinhalb Jahre Haft wegen „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“, zweieinhalb Jahre Haft wegen „Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ im Zusammenhang mit einer Rede an Newroz 2016, sowie vier weitere Jahre wegen „Terrorpropaganda“ in sieben Fällen. Die Gesamtstrafe gegen den früheren HDP-Vorsitzenden beläuft sich auf 42 Jahre Haft. Er bleibt im Gefängnis.

Sibel Akdeniz: Freispruch in allen Anklagepunkten

Sırrı Süreyya Önder: Freispruch in allen Anklagepunkten

Zeki Çelik: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“; wird per Haftbefehl gesucht

Zeynep Karaman: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“

Zeynep Ölbeci: Zwölf Jahre und neun Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt im Gefängnis

Die heute verhängten Urteile betrafen insgesamt 36 Angeklagte; 24 von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt und alle vom Mordvorwurf freigesproch. Gegen die übrigen Angeklagten wurde das Verfahren abgetrennt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Hintergrund des Kobanê-Verfahrens

In dem seit April 2021 andauernden Kobanê-Verfahren wurden insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Auslöser des Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Rojava auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung und Justiz legt alle Taten der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur Last.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Im Dezember 2022 stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert dieses Urteil und auch alle anderen Entscheidungen des EGMR sowie des Ministerkomitees des Europarates im Zusammenhang mit den damaligen HDP-Abgeordneten.

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