Lobau bis Turtle Island - Stopp der Massenentwaldung

veröffentlicht am 12. September 2021

Lobau bis Turtle Island, der Stopp der Massenentwaldung ist zum einen direkte Aktion, zum anderen Symbol der Erhaltung der Lebenszusammenhänge der Erde. Im Kontext der begonnenen Bauarbeiten an den Zubringerstraßen des geplanten Lobau-Tunnels und deren Blockade, scheint der folgende Beitrag eine gute Verbindung lokaler zu globalen Kämpfen zu sein.

Stopp der Massenentwaldung: Wege zu einer dekolonialen Revolution

Der folgende Text ist eine Übersetzung, eines bei Ill Will Edition erschienenen Beitrags, des „Komitees für die Verteidigung und Dekolonisierung von Territorien“ [Kanada]. Ich denke das – aus der Perspektive des indigenen Kampfes – Geschriebene, umfasst einige Fragestellungen, welche sich jede Bewegung für „Dekolonisierung“, „Antikapitalismus“, „Klimagerechtigkeit“, usw. stellen muss. Weit davon entfernt über irgendwelche Kompromisse auch nur nachzudenken, öffnet sich ein Blick auf eine revolutionäre Zeit, in welcher „die imperiale Maschinerie zu einem Albtraum der Vergangenheit wird“, der Spuk der Moderne im Wiederaufleben einer indigenen Lebensweise vergehen kann. Die Schlüsse, welche sich für unsere Bewegungen in den Herzen des Empires aus diesem Text ziehen lassen, sind sicher vielfältig, wenn auch die Radikalität des hier geforderten vermutlich vieles übersteigt, was auf dem heutigen Stand des linken und progressiven Bewusstseins die Regel ist. Doch auch wir schreiten – wenn überhaupt – fragend voran, auf der Suche nach den Fäden, Stricken und Tauen, welche das patriarchale, koloniale, kapitalistische und industrielle Ungeheuer, von innen heraus, zu Fall bringen mag.

Übersetzt von: Henri

Vorwort

Seit vier Jahren sammelt das Komitee für die Verteidigung und Dekolonialisierung der Territorien die Überlegungen der Teilnehmer an den Kämpfen zur Verteidigung der Territorien auf Turtle Island [Anmerkung der Übersetzer*in: indigener Name für den Kontinent Nordamerika]. Angetrieben von der Kraft der Allianzen zwischen verschiedenen Völkern, die an dieselben Territorien gebunden sind, haben wir versucht eine Möglichkeit zu verfolgen, die in jedem Leben vorhanden ist: mit Demut von dort aus, wo wir sind, denen zu begegnen, die wir als von einer Kraft bewohnt wahrnehmen, die auf das Wachstum des Lebens ausgerichtet ist, auch wenn es ein verstümmeltes ist. Die Tagebücher, die wir veröffentlichen, zeugen von dem Weg, den wir gegangen sind, von den Fragen, die wir uns stellen, von den Begegnungen, die unsere Art in der Welt zu sein verändern. Der folgende Text bildet den Abschluss des letzten Journals, „La force des forêts“ [Die Kraft der Wälder]. Wir hoffen, dass die Lektüre die gleiche Energie weckt, die uns dazu veranlasst hat, ihn zu schreiben.

- CTDD, August 2021

Für viele von uns scheint es unmöglich, die Welt zurückzuerobern. Die Zerstörung aller Lebensformen schreitet voran wie ein Zug ins Leere, der von der Höllenmaschine der Moderne unaufhaltsam vorwärts gezogen wird. Selbst die üblichen Formen des Kampfes scheinen obsolet und nicht in der Lage, die Katastrophe auch nur kurz aufzuhalten. In der ersten Ausgabe der von den Komitees für Territoriale Verteidigung und Dekolonisierung herausgegebenen Zeitschrift haben wir 2017 einen Aktionsplan in drei Schritten vorgestellt: Erkundung, Aufbau von Autonomie und Blockierung der Ströme. Heute, ist dieser Aktionsplan noch genauso aktuell und notwendig. Und in den letzten Jahren hat er sich in vielen Situationen als nützlich erwiesen.

Bevor wir versuchen ein Projekt zu blockieren, müssen wir zunächst ermitteln, welche politischen und finanziellen Interessen sich hinter der bröckelnden Fassade des wirtschaftlichen Fortschritts verbergen. Wir müssen die Öffnungen und Ausgänge in Räumen und Situationen identifizieren; lernen, Freunde und Feinde zu erkennen; herausfinden, wie wir uns mit den Menschen, die das Gebiet bewohnen, verbinden können, um es zu verteidigen; verstehen und teilen, was sie lieben; und hassen, was sie bedroht. Gleichzeitig müssen wir aber auch Autonomie aufbauen. Das bedeutet Kräfte zu bündeln, um die Zerstörung von Gebieten zu bekämpfen und diesen Kampf zu verbreiten. Um jedoch die Katastrophe endgültig zu verhindern und die koloniale Souveränität und ihre extraktive Infrastruktur dauerhaft zu untergraben, müssen wir unsere politischen Überlegungen weiter vorantreiben. Der Untertitel eines der Artikel der ersten Ausgabe der Zeitschrift lehnte sich an den zapatistischen Ausdruck an: „Fragend schreiten wir voran“. Damals war uns klar, dass die Umsetzung neuer Ideen in die Praxis Zeit brauchen würde.

In den einheimischen zapatistischen Gemeinschaften von „Mexiko“ heißt es, dass es drei Arten von Zeiten gibt, die sich gegenseitig überlagern. Die exakte Zeit ist diejenige, die unser Leben durchkreuzt und versucht, die ganze Welt zu synchronisieren; die Zeit der Uhren, die die Wirtschaft und den Disziplinarapparat organisiert. Die reale Zeit wird durch den Wald bestimmt und bietet eine Organisation für die Gemeinschaft. Es ist die Zeit der Jahreszeiten und der Sonnenrhythmen, der Herzschlag des Lebens, der jedem Leben einen Rhythmus verleiht. Schließlich gibt es eine revolutionäre Zeit. Diese Zeit ist noch nicht gekommen, aber sie zirkuliert bereits in der Welt. Es ist eine alte Zeit, aber ihr Echo hallt noch nach. Und es ist diese Zeit, die wir heute zum Ausdruck bringen müssen.

Wieder Beginnen

Das neoliberale „Ende der Geschichte“ ist nur ein totes Fragment der Vergangenheit, aber sein Kadaver versucht ständig sich aus seinem Grab zu erheben. Diese fatale Aufhebung der Zeit muss unterbrochen werden, und zwar dauerhaft. Es ist nicht an der Zeit sich wie christliche Millenaristen oder nihilistische Umweltschützer zu verhalten, die mit Blick auf die Apokalypse oder das Ende der Welt leben. Stattdessen müssen wir die Horizonte unserer Existenz neu gestalten.

Return. Restart. Recreate.

Neu anfangen bedeutet niemals etwas zurückzufordern oder zu einer Situation zurückzukehren, die genau so ist, wie wir sie verlassen haben. Ein Neubeginn bedeutet immer etwas Neues; diese Bewegung ist immer beispiellos. Wir werden nicht durch die Vergangenheit hervorgebracht, sondern durch das, was in ihr noch nicht geschehen ist. Neu zu beginnen bedeutet, den Zustand des gelebten Schwebezustands abzulegen und den Kontakt zu unserer Zukunft wiederherzustellen, indem wir uns erneut von dem Punkt aus bewegen, an dem wir uns gerade befinden.

Dieser Gedanke des Neubeginns ist inspiriert von der Idee des „Zurück in die Zukunft“, die für das indigenous resurgence movement [Bewegung des indigenen Wiederauflebens/Wiederaufstiegs] so zentral ist. Im Gegensatz zur „Versöhnung“, die grundsätzlich asymmetrisch ist und von den kolonialen Staaten Kanada und Québec instrumentalisiert wird, kann das Wiederaufleben nur als vollständige Dekolonisierung verstanden werden. Nach Ansicht der Ältesten stützt sich dieses Wiederaufleben auf die Tradition: Sprachen, Kulturen, Know-how und Organisationsformen, einschließlich der Wiedergutmachung von Schäden und der historischen Enteignung, die den indigenen Gemeinschaften zugefügt wurden. Es geht nicht einfach darum, dass die Menschen „zu sich selbst finden“, dass sie eine verlorene Identität wiedererlangen, sondern darum, verloren gegangene Welten und Lebensweisen wiederherzustellen, das Wissen der Älteren zu bewahren, die Verbindungen zur Sprache und zur Erde wiederherzustellen – und vor allem ein neues Engagement für die Gemeinschaft.

Weit entfernt von der nationalstaatlichen Souveränität der Moderne, verbindet die indigene Souveränität, wie sie durch das Wiederaufleben vertreten wird, eine Wiederaneignung von Gebieten durch Nutzung und eine Bejahung der Identität der Eingeborenen, einschließlich einer kulturellen und spirituellen Wiederbelebung.

Ein Neubeginn beinhaltet etwas, das dem vorausgeht, was vorher war, und kehrt zu diesem Moment zurück, um die Zeit selbst zu vertiefen und neu zu gestalten.

Das Imperium provozieren

Wir bemühen uns, als diejenigen zu dienen, die sich weigern das Lebendige und das Heilige zerstören zu lassen, die sinnlose Formen des Protests ablehnen, die diese Zerstörung nicht aufhalten; unsere Rolle ist es, „Ereignisse“ zu schaffen. Das Empire ist ein globales hegemoniales System, das Netz der Macht, das den modernen und kolonialen Herrschaftsapparat ausmacht. Das Imperium ist der Ort, an dem nichts passiert, an dem Leere herrscht, an dem die Dinge so „funktionieren“, wie sie sollen.

Das Imperium zu provozieren, bedeutet das normale Funktionieren der Dinge zu stören, wobei „normal“ die tägliche Ausbeutung, die schleichende Zerstörung, die stille Zunahme der Atomisierung bedeutet, die zu einer Dominanz des Einzelnen führt. Eine revolutionäre Zeit herbeizuführen bedeutet, Konfrontation zu schaffen, Symbole, Infrastrukturen und Feinde anzugreifen, die die Lebensformen bedrohen, die uns lieb sind. Wir müssen die Ausdehnung der kapitalistisch-extraktivistischen Wirtschaft so weit beeinträchtigen, dass sie unhaltbar wird, und wir müssen dies in den Metropolen, in den Städten, in den Reservaten, auf dem Lande und im Wald tun.

Wir müssen auch die neuen Fronten des Kapitals in Form der „grünen Wirtschaft“ antizipieren, in der trotz ihrer utopischen Versprechungen, Winde und Gezeiten dennoch monetarisiert werden und unsere Zukunft strangulieren. Der Fortbestand dieser Wirtschaft hängt von ihrer Fähigkeit ab, (1) Ressourcen zu gewinnen und (2) sie in Umlauf zu bringen. Unsere taktischen Überlegungen müssen sich aus diesen scheinbar offensichtlichen Erkenntnissen ergeben, aber sie erfordern außergewöhnliches Denken und Handeln.

Unsere Art der Organisierung muss es uns ermöglichen, die aktuellen Kämpfe in den Gebieten jenseits kolonialer Grenzen zu unterstützen, damit diese Kämpfe gedeihen können, indem wir sie mit Ressourcen versorgen, die es ihnen ermöglichen durchzuhalten.

Allianzen schaffen

Was bedeutet Souveränität der Vorfahren über die bloße Anerkennung hinaus? Welche Rolle spielt jeder von uns bei der derzeitigen Zersplitterung Kanadas? Reicht das aus, um das Wiederaufleben, das im Gange ist, zu unterstützen? Wir glauben, dass eine grundlegende Frage gestellt werden muss: Sollte jede Gemeinschaft ihren eigenen Weg finden, um „Kanada“ und „Québec“ zu fragmentieren und gleichzeitig Verbindungen zwischen den Fragmenten herzustellen?

Um angemessen auf die Situation zu reagieren, müssen wir uns ernsthaft fragen, was es bedeutet, in diesem oder jenem Raum im Rahmen einer Gemeinschaft zu leben. Dies ist keine Frage von Prinzipien oder persönlichen Meinungen, sondern einfach eine Frage der Lebensweise. Die Dringlichkeit der globalen Klimasituation und die Art und Weise, wie sie die Bedingungen unseres Lebens in Frage stellt, bestätigt nur, dass wir zu Traditionen zurückkehren müssen, die viel älter sind als die der Moderne.

Die Dichte unserer Gruppe ermöglicht es uns, in Kämpfen mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, während die Verbündeten, die sich selbst als Individuen betrachten, oft nur begrenzte Wirkung haben. Die Dekolonialisierung und die Überwindung der Moderne verlangen etwas, das über diese individuellen Positionen hinausgeht. Wir müssen uns fragen: Wie sollen wir leben, nicht als Anspruchsteller, sondern als Beschützer des Territoriums und nicht als Bürger, sondern als Menschen, die auf dem Territorium leben? Wie können wir als Gruppen, Kollektive, Stämme, Banden, Gangs und Netzwerke funktionieren, die durch Schwüre im Leben und gemeinsame Kämpfe miteinander verbunden sind?

Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass Verbündete per Definition diejenigen sind, die durch ein Bündnisversprechen miteinander verbunden sind, d. h. eine Gruppe, die „eine andere unterstützt und sich auf deren Seite stellt“. Seit Tausenden von Jahren haben sich indigene Gemeinschaften in Bündnissen organisiert. Heutzutage scheint die Rolle des Verbündeten die Form eines Fürsorgers anzunehmen, der sich durch Höflichkeit und Zurückhaltung bis hin zur Halbunsichtbarkeit auszeichnet. Verbündet zu sein sollte jedoch nicht bedeuten, zurückzutreten, sondern stattdessen „aufzustehen“ und „nebeneinander zu stehen“, die Souveränität der Vorfahren anzuerkennen und den Anweisungen der Ältesten zu folgen, um konkret zu handeln.

Es sollte bedeuten Lebensweisen und Handlungswege zu finden, die zur Dekolonisierung führen, ausgehend von unseren unterschiedlichen Positionen innerhalb der gegenwärtigen kolonialen Ordnung. Vor Ort sollte Bündnis nicht bedeuten, zu verschwinden; dies ist lediglich eine neue Art, den wirklichen Fragen auszuweichen.

Stattdessen muss Bündnis bedeuten, zu etwas zu werden, das der Zerstörung ein Ende setzt. Etwas, das so mächtig ist, dass es nicht mehr notwendig ist sich ausdrücklich als antikapitalistisch oder antikolonial zu bezeichnen, denn im Krieg gegen die moderne koloniale Ordnung, spricht unser Leben lauter als Worte. Es bedeutet das zu werden, was wir alle sein müssen, damit die imperiale Maschinerie zu einem Albtraum der Vergangenheit wird.

- August, 2021

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