Sich gegenseitig stärken und Kraft geben…

veröffentlicht am 1. Januar 2024

Foto: Gesundheitsstation Qamişlo

Interview mit einer Frauendelegation nach ihrem Besuch der Stiftung der freien Frau in Syrien

Im September, 2023, besuchte eine Frauendelegation aus Deutschland mehrere Projekte der Stiftung der freien Frau in Syrien (Weqfa Jina Azad a Sûrî ‒ WJAS) in Nord- und Ostsyrien. Im Anschluss an die Reise beantwortete sie dem Kurdistan Report einige Fragen zu den Arbeiten und Projekten der Stiftung.

Ihr seit gerade von einer Delegationsreise aus Nord- und Ostsyrien zurückgekommen. Wie kamt ihr dazu, insbesondere Projekte der Stiftung der freien Frau in Syrien zu besuchen?

Wir arbeiten im Europakomitee der Stiftung der freien Frau in Syrien und in dem Verein Kurdistanhilfe. Gemeinsam wollten wir uns die Entwicklung der Projekte vor Ort anschauen und in persönlichen Austausch mit den Frauen kommen. Das Europakomitee der Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeit der Stiftung bekannt zu machen und die Projekte von hier aus zu unterstützen.

AufbaukursGesundheitsassistentinTapqaKönnt ihr etwas zu der Arbeit der Stiftung und ihren Projekten sagen, was sind die Ziele der Stiftung?

Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Frauen auf verschiedenen Ebenen zu empowern, z.B. durch berufliche Ausbildungen, medizinische Versorgung und durch politisch-gesellschaftliche Bildungen. Die Stiftung wurde 2014 von kurdischen und arabischen Frauen in Qamişlo als eine von Frauen für Frauen unabhängige gemeinnützige Organisation gegründet. Inzwischen gibt es an 15 Orten Stiftungszentren und Gesundheitsstationen, u.a. auch in den befreiten arabischen Gebieten Raqqa, Tabqa und Minbic. Das Angebot der Stiftung ist für die Frauen kostenlos, um gerade ärmeren Frauen die Möglichkeit zur Weiterbildung und Entwicklung zu geben. Lediglich für die medizinische Versorgung in den Gesundheitsstationen wird ein kleiner symbolischer Betrag verlangt. Die Stiftung bietet berufliche Ausbildungen in Nähwerkstätten, Strickereien, im Friseurhandwerk und im medizinischen Bereich an, sowie zusätzlich Alphabetisierung in Kurdisch und Arabisch und Computerkurse. Im zweiten Schwerpunktbereich, der politisch-gesellschaftlichen Bildung, gibt es Seminare und Kurse zu Themen wie Geschichte der Frauen, Selbstbewusstsein, Selbstverteidigung, Frauen und Familie, Gewalt an Frauen, Feminizide, Gewalt innerhalb der Familie, Rhetorik, Kinderehe, Polygamie, Schwangerschaft und Geburt, Umgang mit Pubertären, Gefahren durch Drogen. Ein weiterer Bereich, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Naturheilkunde. Sie bietet die Möglichkeit traditionelles und lokales Wissen über Gesundheit, Heilpflanzen und Krankheiten in den Gesundheitsbereich mit einfließen zu lassen und von der Versorgung mit Medikamenten ein Stück weit unabhängiger zu werden.

Kobane Lehrraum Computer1Wird die Arbeit der Stiftung von der Bevölkerung angenommen und unterstützt?

In allen Orten konnten wir erfahren, dass die Angebote der Stiftung sehr gut angenommen werden. Die Kurse waren häufig übervoll. Oft erzählten uns die Frauen, dass die Nachfrage sehr groß sei und die Stiftung noch mehr Kurse anbieten könnte, wenn die räumlichen und finanziellen Gegebenheiten dies zulassen würden. Das war aber nicht von Anfang an so. Die Arbeit und Ziele der Stiftung mussten erst durch die Stiftungsfrauen in der Gesellschaft, also den Kommunen, Frauenräten, Nachbarschaften und Familien bekannt gemacht und ihre Ziele vermittelt werden. Heute sind die Stiftung und ihre Zentren bei Frauen und Familien anerkannt. Viele Frauen erfahren allein durch Weitererzählung von Freundinnen und Bekannten von der Stiftung und kommen zu Kursen sowie Ausbildungen in die Zentren. Die Stiftung ist für die Frauen insbesondere ein sozialer Ort, der ihnen Sicherheit, Ruhe und Vertrauen gibt. So haben uns Frauen immer wieder erzählt, dass sie an diesen Orten entspannen können, sich gegenseitig stärken, über ihre Erfahrungen sprechen und sie gemeinsam verarbeiten. Ihnen ist es wichtig zu lernen und etwas für sich, ihre Familie und die Gesellschaft zu tun. Darüber hinaus unterstützt die Stiftung, wenn Frauen, die beispielsweise eine Ausbildung gemacht haben, selbst zu Multiplikatorinnen werden. Die Stiftungsfrauen äußerten, dass es schön sei zu sehen, wie die Kursteilnehmerinnen lernen, dass sie etwas können, eine eigene Kraft haben und immer mehr an Selbstvertrauen und Stärke gewinnen. Allerdings ist es gerade in den arabischen befreiten Gebieten immer noch nicht gesellschaftlich selbstverständlich, dass Frauen sich frei außerhalb des Hauses bewegen und Bildungen besuchen. Dies waren häufig die Orte, an denen wir eine besonders große Energie und Willen zum Aufbruch verspürt haben. Schwierig für die Arbeiten ist es, dass viele Frauen in den Dörfern schwer zu erreichen sind, da sie keine Transportmöglichkeiten haben. Zwar bieten die Stiftungsfrauen auch in den Dörfern Kurse an, können aber die hohe Nachfrage aus räumlichen und Kapazitätsgründen nicht erfüllen. Gleichzeitig ist eine weitere Schwierigkeit für die Frauen, sich nach der Ausbildung selbständig zu machen. Die wirtschaftliche Situation ist sehr angespannt. Auch das Kooperativenmodell hat sich nicht in allen Fällen als durchführbar gezeigt, weil z.B. die Frauen das Anfangskapital für Maschinen und Material nicht aufbringen können und die Konkurrenz auf den Märkten durch die steigende Inflation und billige Importe zu stark ist. An dieser Stelle versucht die Stiftung bei der Suche nach Arbeitsstellen zu unterstützen.

Kobane Lehrraum Friseurausbildung2Neben den Ausbildungen bietet die Stiftung an vielen Orten und mit der mobilen Klinik in Dêrik (Ein Gemeinschaftsprojekt mit der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg ‒ Dêrik) auch eine grundlegende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder an. Durch das Embargo, das über die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens verhängt wurde, ist es zunehmend schwerer, an Medikamente und medizinische Ausrüstung heranzukommen. Deshalb kann derzeit nur eine Basisversorgung gewährleistet werden. Auch medizinisches Personal ist schwer zu finanzieren. Viele medizinische Fachkräfte wandern aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation aus oder arbeiten bei internationalen NGOs, da sie dort ein höheres Gehalt erhalten. Dies sorgt jedoch für Leerstellen und Fachkräftemangel in den medizinischen Institutionen vor Ort. Auch die Gesundheitsstationen der Stiftung stellt es vor Herausforderungen, da diese versuchen, die grundlegende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder für möglichst viele zugänglich zu machen und vor allem den ärmeren zur Verfügung zu stellen.

Seit der ersten Oktoberwoche haben die Türkei und ihre Verbündeten ihre Angriffe auf Nord- und Ostsyrien massiv ausgeweitet. Wie war es, als ihr da wart? Konntet ihr die verschiedenen Städte, in denen die Stiftung ihre Projekte aufgebaut hat, besuchen?

Wir sind entsetzt über die Angriffe der Türkei auf die Infrastruktur und die Bevölkerung in den letzten Tagen. Das sind weitere Kriegsverbrechen. Schon vorher war die Versorgungslage der Bevölkerung schlecht, jetzt schrieben uns die Stiftungsfrauen: »Die meisten Orte sind von Wasser und Strom abgeschnitten. Gas ist nicht mehr erhältlich – ob die Bäckereien und andere wichtige Versorgungsbetriebe zurzeit weiterarbeiten können ist unklar.«

Mitarbeiterinnen Waisenhaus KobaneWir hatten das Glück, dass wir in den Wochen vorher, trotz der auch da schon ständigen Bedrohung durch Drohnen- und anderer Angriffe, nahezu alle Projekte der Stiftung besuchen konnten. Für die Mitarbeiterinnen der Frauenstiftung ist ihre Arbeit schon lange eine existentielle Frage, denn sie müssen sich immer überlegen, ob sie eine Fahrt von einer Stadt in eine andere aufgrund der permanenten Bedrohung durch Drohnenangriffe der Türkei machen können oder nicht. Der Schmerz, aber auch die Wut gegen die anhaltenden Drohnenangriffe ist immer präsent, auch während unserer Delegation. Kurz bevor wir nach Rojava kamen, haben wir aus den Nachrichten über einen Drohnenangriff auf ein Auto des Frauensenders JinTV erfahren. Als wir auf unserer Reise JinTV besuchten, ­erzählten sie uns von dem Tag: Alle Kolleginnen kamen sofort ins Studio, als sie von dem Angriff erfuhren. Sie waren schockiert, aber auch klar in ihrer Haltung, »wir lassen uns dadurch nicht einschränken, wir machen gemeinsam weiter«. Sie erzählten uns, dass bei dem Angriff die Journalistin Delîla Egîd schwer verletzt und der langjährige Fahrer Necmedîn Sînan ‒ Vater von vier Kindern ‒ getötet wurde. Seine Tochter hat nun eine Ausbildung bei JinTV angefangen. In der gesamten Zeit unseres Besuches gab es allein drei Drohnenangriffe in der Region. Auf der Beerdigung von Eymen Çoli, einem Kämpfer der Sicherheitsbehörde Asayîş, der bei dem Drohnenangriff am 17. September zwischen Amûdê und Qamişlo ums Leben kam, sprachen uns einige Frauen an. Sie fragten uns wütend, warum niemand in Europa auf die Angriffe reagiert – warum alle zu dem Terror der Türkei schweigen. Bei dem selben Angriff auf das Auto starb auch der YPG-Kommandant Aslan Qamişlo. Als Menschen ihnen zur Hilfe eilten, gab es einen erneuten Angriff und acht Zivilpersonen wurden zum Teil schwer verletzt. Immer wieder sprachen uns Menschen darauf an, wie wichtig es ist, darauf aufmerksam zu machen, die Angriffe des türkischen Staates in die Öffentlichkeit zu tragen und die fast tagtäglichen Drohnenangriffe zu stoppen.

Ganz aktuell werden uns nun vor allem die Konsequenzen des Ignorierens der Drohnenangriffe durch die internationale Politik seit dem 5. Oktober 2023 erschreckend deutlich. Seit diesem Tag bombardiert die Türkei täglich und teilweise sogar nachts die gesamte zivile Infrastruktur Nord- und Ostsyriens. Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, Ölraffinerien und Staudämme wurden gezielt angegriffen und zerstört, dabei gab es auch zivile Opfer. Und dennoch führen die Stiftungsfrauen ihre Arbeiten so gut es geht fort.

Gibt es etwas, was ihr besonders hervorheben wollt?

Wir haben viele starke Frauen kennengelernt, die anpacken, nicht jammern oder verzweifeln und wenn sie verzweifeln, sich doch immer wieder gegenseitig stärken und Kraft geben. Sie schöpfen Kraft und Energie aus der Gemeinschaft, lachen, weinen und teilen ihre Schmerzen miteinander. Wir haben gesehen, wie viel Leidenschaft und Herz sie in die Stiftung geben und wie viel ihnen dieser Ort gibt. Mit den Herausforderungen gewinnen sie an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, spüren ihre eigene Kraft und dass sie etwas können. Das hat Auswirkungen auf ihre Familien und die gesamte Gesellschaft. Trotz der Krise, der Angriffe und des Spezialkrieges der Türkei, kämpfen sie unermüdlich für die Befreiung und Stärkung der Frauen und für eine andere Gesellschaft. Sehr beeindruckend ist auch die ständige Diskussion und Reflektion von Prozessen, der Mut zur Veränderung und der Wille zu Aushandlung, um gemeinsam den Weg hin zu einer basisdemokratischen Gesellschaft und zur Befreiung der Frau zu gehen.

Wie kann die Arbeit der Stiftung von hier unterstützt werden?

Durch Verbreiten und Bekanntmachen der Arbeiten der Stiftung, z.B. durch Flyer, Broschüren, Ausstellungen und vor allem durch Spenden für die Stiftungsprojekte, damit die Stiftungszentren weiter ausgebaut werden und mehr Frauen an den Ausbildungen, Seminaren und Kursen teilnehmen können.

GesundheitsstationQuamisloKontakt zu WJAS:
Weqfa Jina Azad a Sûrî · Stiftung der freien Frau in Syrien
Website: www.wjas.org
Mail (Europa): info@wjas.org
Facebook: facebook.de/WJASInternational
Instagram: instagram.com/wjas_int

Spendenkonto:
Kurdistan Hilfe e.V., Hamburg/Deutschland
Stichwort: WJAS
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPADEHHXX

Foto: Mitarbeiterinnen-Waisenhaus-Kobane

Quelle: https://www.kurdistan-report.de

Anmerkung der Moderation

Geschlechtergerechte Sprache:
Wir fordern alle Autor*innen dazu auf, ihre Beiträge in geschlechtergerechter Sprache zu formulieren. Wenn in einem Text nur die männliche Form verwendet wird, sehen wir darin eine Form von Sexismus. Zu Details wie geschlechtergerechte Formulierung aussehen kann verweisen wir auf den Leitfaden “Was tun?” http://feministisch-sprachhandeln.org/ sowie auf das Genderwörterbuch auf https://neu.geschicktgendern.de/

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