Vorläufige politischen Bilanz im Verfahren gegen Fabian Kienert (Radio Dreyeckland)

veröffentlicht am 19. Mai 2024

Vor dem Landgericht Karlsruhe findet zur Zeit ein Prozess gegen einen Redakteur von Radio Dreyeckland (Freiburg) statt. Anlass: Der Sender hat auch eine Webseite und auf dieser Webseite erschien am 30.07.2022 ein Artikel von Fabian Kienert1. Stein des Anstoßes ist insbesondere der Satz, „Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite“, und der Kontext in dem er steht (die im Zitat unterstrichene Passage war im Original als Hyperlink formatiert).

Zu diesem Kontext gehört, dass der BetreiberInnenkreis1 von linksunten.indymedia 2017 vom Bundesinnenministerium (BMI) als „Verein“ verboten wurde, da seine Zwecke und Tätigkeiten gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet seien und diese den Strafgesetzen zuwider laufen, so das BMI. Zum konkreten Kontext meinte des Oberlandesgericht Stuttgart am 12.06.2023: Es sei überwiegend wahrscheinlich, dass der alte BetreiberInnenkreis von linksunten auch das – von Radio Dreyeckland verlinkte – Archiv ins Netz gestellt habe –, sich also weiterhin verbotswidrig betätigt habe. Diesen verbotenen „Verein“ soll der RDL-Autor mittels seines Links unterstützt haben (§ 85 Absatz 2 StGB2).
„Die Handlung des Angeklagten ist geeignet, diese Tätigkeit [die angebliche Archiv-Veröffentlichung durch den verbotenen „Verein“] zu unterstützen, indem sie erkennbar für Solidarität mit einem von der Justiz angeblich zu Unrecht verfolgten Verein wirbt (‚wir sind alle l[inksunten]‘, ‚konstruiertes Verbot‘, ‚rechtswidrige Durchsuchung‘) und den Leser dahin lenkt, die verbotenerweise immer noch betriebene Website zu besuchen und sich über deren Inhalte zu informieren.“
(OLG Stuttgart, Beschluß vom 12.06.2023 zum Az. 2 Ws 2/233, Textziffer 55)

Ein Oberlandesgericht, das das manipulativ zitiert

Die Montage der Zitate innerhalb des OLG-Zitates ist manipulativ:

Der RDL-Autor hat gar nicht geschrieben, daß „wir […] alle“ linksunten seien. Er hat bloß seinen Artikel mit einem Foto bebildert, auf dem diese Parole an einer Hauswand zu sehen ist. Bildunterschrift: „‚Wir sind alle linksunten‘ – ob dem so ist, war auch ein Streitpunkt auf der Podiumsdiskussion über das Verbot der Internetplattform.“

Fabian Kienert, der Artikel-Autor, sprach auch nicht von einem „konstruierte[n] Verbot“, sondern von einem „konstruierten Verein“ – und ähnliche Formulierungen verwandten auch andere JournalistInnen, die das Archiv ebenfalls verlinkten. So erschien bspw. am 29.01.2020 bei golem.de ein Artikel4 von Sebastian Grüner, in dem es hieß: „Die Einordnung als Verein ist aber schon damals strittig gewesen. Die Nachrichtenagentur dpa schrieb gar von einem ‚Kniff‘ durch die Sicherheitsbehörden.“ In dem Artikel hieß es außerdem: „Wenige Tage vor der Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht [über das linksunten-Verbot] ist ein Archiv der Webseite online gestellt worden“, wobei die unterstrichene Passage als Hyperlink formatiert war, der zur ursprünglichen Adresse des linksunten-Archivs (https://linksunten.archive.indymedia.org/) führt.

Und die von Kienert in Bezug genommen Durchsuchung (gemeint war die Durchsuchung des Freiburger alternativen Zentrum KTS am 25.08.2017) war tatsächlich rechtswidrig; jedenfalls wurde sie vom baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof rechtskräftig für rechtswidrig erklärt: Beschluß vom 12.10.2020 zum Aktenzeichen 1 S 2679/195; vgl. KTS-Razzia war rechtswidrig (tarnkappe.info vom 12.11.20206 [der Artikel enthält ebenfalls einen Link zum linksunten-Archiv und ist mit einem Foto einer Mauer bebildert, auf der die URL indymedia.org gesprüht wurde])7.

Bericht über die fünf ersten Prozesstage

Mittlerweile wurde fünf Tage lang vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Karlsruhe gegen den RDL-Redakteur Fabian Kienert verhandelt (am Donnerstag, den 18.04.8 sowie Dienstag, den 23.9 und Mittwoch, den 24.04.10 sowie Montag, den 29.11 und Dienstag, den 30.04.12). Mindestens Dienstag, den 14. und Donnerstag, den 16.05.2024 wird es weitergehen.

Bei de.indymedia erschien am Sonntag, den 28.04. eine Kommentierte Presseschau zur Medienberichterstattung über die ersten drei Prozesstage sowie die mediale Vorab-Bericherstattung über das Verfahren13.

Erster Verhandlungstag: Donnerstag, den 18.04.2020

Christian Rath berichtete in der taz vom 18.04.2020:
„Am Landgericht Karlsruhe beginnt heute der Prozess gegen Fabian Kienert. Der Redakteur des Freiburger Alternativsenders Radio (RDL) soll durch den bloßen Internetlink die Fortführung einer verbotenen Vereinigung unterstützt haben. […]. Kienert hatte im Juli 2022 auf der RDL-Webseite einen Artikel veröffentlicht, in dem es um die seit 2017 verbotene linksradikale Agitations-Plattform linksunten.indymedia ging. Der Text endet mit dem lapidaren Satz: ‚Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite.‘ Dabei war die Archivseite auch verlinkt. Wegen dieses Links hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe bereits im April 2023 Anklage gegen Kienert erhoben. Er habe durch den Link die Fortführung der verbotenen Vereinigung linksunten.indymedia unterstützt, was laut Paragraf 85 des Strafgesetzbuches strafbar ist. Kienert drohen laut Gesetz bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe.“
(https://taz.de/Radio-Redakteur-vor-Gericht/!6001960)

Peter Nowak ergänzte am 28.04.2024:
„beim ersten Prozesstag am 18. April [fand …] eine Solidaritätsdemonstration für Kienert [… statt]. ‚Pressefreiheit statt Polizeistaat‘ und ‚Solidarität ist nie offline‘ lauteten einige der Parolen. Der letzte Spruch bezog sich auf den Gegenstand der Anklage gegen Kienert. […]. In dem Artikel berichtet Kienert über die Einstellung aller Verfahren gegen die Personen, denen die Generalbundesanwalt vorgeworfen hat, für den in der Verbotsverfügung konstruierten Verein Indymedia-Linksunten verantwortlich zu sein. Der für das Verfahren verantwortliche Richter Axel Heim wolle den Prozess gar nicht führen. Seine Kammer hatte Kienert bescheinigt, dass er mit dem Artikel und dem Setzen des Links nur seiner journalistischen Informationspflicht nachgekommen ist. Nachdem die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen ist, bekam sie in der nächsten Instanz Recht und der Prozess musste eröffnet werden.“
(https://taz.de/Prozess-Radio-Dreyeckland/!6004964)

Im nd berichtete Mathias Monroy unter anderem:
„Nach der Eröffnung des Prozesses hat die Verteidigung des Angeklagten am Donnerstagmorgen ihre Sicht auf die Ermittlungen und das Verfahren dargelegt. […]. Anschließend wurde der Einstellungsbeschluss zu dem 129er14-Verfahren verlesen, den Kienert vermeldet hatte und der überhaupt erst zu den Ermittlungen führte.
Dabei bestätigte das Gericht, dass ein AfD-Politiker den Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung mit einer Anzeige ins Rollen gebracht hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte anschließend die Bundesanwaltschaft um Übernahme der Ermittlungen gefragt, diese habe jedoch wegen fehlender Zuständigkeit abgelehnt und erklärt, ‚Linksunten‘ sei nicht staatsgefährdend genug.“
(https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181561.prozess-in-karlsruhe-ist-das-archiv-von-linksunten-ein-verbotenes-denkmal.html)
Ebenfalls Teil des ersten Prozesstages war die Verlesung der Verfügung der Karlsruher Staatsanwaltschaft, mit der sie 2022 das alte (§ 129 StGB-)Ermittlungsverfahren gegen angebliche Mitglieder des BetreiberInnenkreises eingestellt hatte. Dazu berichtete Minh Schredle von der Wochenzeitung Kontext:
„Voraussetzung für die Einstufung als kriminelle Vereinigung wäre, dass die Begehung von Straftaten der prägende Zweck des Personenzusammenschlusses ist. Die Staatsanwaltschaft hatte zwar keine Zweifel, dass es auf der Seite ‚linksunten.indymedia‘ strafrechtlich relevante Inhalte gab. Aber ob diese ‚qualitativ und quantitativ‘ so dominant waren, dass davon ausgegangen werden kann, das Ziel der Vereinigung bestehe primär in der Begehung von Straftaten, sei ‚nicht abschließend festzustellen‘.“
(https://blogs.taz.de/theorie-praxis/linksunten-indymedia-nur-zu-0135-kriminell/)
Außerdem sagte Schredle:
„Der Generalbundesanwalt gab [in einer Entschließung, die in der Einstellungsverfügung zitiert wurde] auch eine Einschätzung ab, ob die verdächtigten Personen als terroristische Vereinigung nach § 129a angesehen werden könnten. Aber er sah keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen erfüllt sind.“
(ebd.)

Zweiter Prozesstag: Dienstag, den 23.04.2024

Über den zweiten Prozesstag berichtete Peter Nowak, dass
„die Bloggerin Detlef Georgia Schulze [als Zeuge/in erklärte], das[s] für das Erstellen des Archivs außer einigen technischen Kenntnissen keine Insiderinformationen erforderlich seien. Auch sie hat das Indymedia-Linksunten-Archiv heruntergeladen. Auch gegen Georgia Schulze wurde ein Ermittlungsverfahrens eingeleitet.“
(https://taz.de/Prozess-Radio-Dreyeckland/!6004964)
Über dieses Ermittlungsverfahren berichtete Schulze am 02.05.2022 bei Twittter, das mittlerweile X heißt, aber weiterhin unter der alten URL erreichbar ist:
„Eigentlich soll ich seit 10 h beim Landeskriminalamt Berlin sitzen, um mich f[ür] einen Teil meiner Pressetätigkeit zu rechtfertigen bzw. – wie d. LKA sicherl. vorziehen würde – schuldbewußt zu Kreuze zu kriechen. Ich zog vor, Folgendes mitzuteilen: [… es folgt ein vierseitiger Offener Brief ans LKA Berlin, in dem Schulze beanspruchte, seine/ihre Spiegelung des linksunten-Archivs sei völlig legal gewesen – sicherlich nicht eine gerade szene-übliche Reaktion auf ein staatliches Ermittlungsverfahren].“
(https://twitter.com/TaP_Theorie/status/1521404091804626944)

Im weiteren Verlauf des zweiten Prozesstages ging es unter anderem um Artikel von anderen JournalistInnen, in denen das linksunten-Archiv ebenfalls verlinkt worden ist. Beispielsweise wurde ein taz-Artikel von Peter Nowak den Beteiligten und dem Publikum auf einem großen Bildschirm präsentiert: Auch dort ist – wie auf dem Foto zu Kienerts Artikel – die Parole „Wir sind alle linksunten“ zu sehen. Weitere Beispiele wurden bereits dort:
https://de.indymedia.org/sites/default/files/2024/04/Presseschau_RDL_Tag_1_bis_3___FINAL.pdf
auf Seite 20 unten und Folge-Seite genannt.

Dritter Prozesstag: Mittwoch den 24.04.2024

Am dritten Prozesstag – sagten drei Polizeizeugen aus: zwei baden-württembergische LKA-Beamte und ein Staatsschutz-Beamter aus Freiburg.

Auf der Webseite Soliwelle Dreyeckland heißt zur Aussagen des zuerst genannten Zeugen:
„Seine Zusammenfassung der seit dem Verbot begonnenen Ermittlungen ergab: Hinweise auf eine aktive Fortführung des ‚Vereins‘ gibt es nicht. Die Rote Hilfe Kiel habe ein ähnliches Logo in anderer Farbe auf einem Flyer verwendet und es habe vereinzelte Aufrufe zur Erstellung eines Archivs der verbotenen Plattform gegeben. Viel brisanter wurde es nicht. Auf Nachfrage von Verteidigerin Furmaniak fasste der Polizist die Bilanz so zusammen: Es habe unterschiedliche Verfahren aber weder Erkenntnisse noch Ergebnisse gegeben.“
(https://rdlsoli.noblogs.org/post/2024/04/28/prozessbericht-tag-3/)
Die Aussage des zweiten Zeugen wird folgendermaßen dargestellt:
„Auch die Befragung dieses Zeugen förderte keine Hinweise auf eine Fortexistenz des ‚Vereins‘ hinter linksunten zutage. Denn sein Bericht fiel kurz aus: Die Auswertung (auch der leeren und ungenutzten!) digitalen Geräte, die bei den Beschuldigten im Rahmen einer neuerlichen Durchsuchung im August 2023 beschlagnahmt worden waren, dauere noch an. Es gebe noch gar keine Erkenntnisse.“
Zu dem dritten Zeugen wird auf der Webseite ausgeführt, dass dieser unter anderem auch
„zu den Inhalten der Website [linksunten.indymedia] befragt [wurde]: Es habe täglich mehrere Dutzende neue Artikel gegeben. Im niedrigen strafrechtlichen Bereich relevant sei nur ein geringer Bruchteil gewesen. Er könne sich an kein einziges Delikt erinnern, bei dem er wegen der Schwere von Amts wegen hätte ermitteln müssen. Die wenigen erfolglosen Verfahren seien hauptsächlich durch Strafanträge aus dem Burschenschafts-Milieu wegen Beleidigung ausgelöst worden.
Der Vorsitzende wollte Kurz dann zur ‚alten Vereinigung‘ befragen, um im Anschluss herauszufinden, ob diese möglicherweise (teil)identisch fortbestehe. Doch Kurz antwortete mit dem bemerkenswerten Satz (sinngemäß): ‚Linksunten war ja kein Verein, das kam erst später mit der Verbotsverfügung.‘ Er wisse von ein paar Gründungstreffen[,] aber linksunten sei von ihm niemals als Gebilde beobachtet worden. Bis 2023 seien ihm die Namen der fünf Adressaten der Verbotsverfügung mit einer Ausnahme unbekannt gewesen. Außer dem Upload der Archivseite habe er auch keinerlei Erkenntnisse zu einer möglichen weiteren Betätigung. Es gebe keine weiteren Anhaltspunkte für eine Fortexistenz, auch nicht im Internet. Er halte es für ‚durchaus realistisch‘, dass das Archiv von jemand Drittem hochgeladen worden sei. Er gehe aufgrund des in der Szene üblichen Antikapitalismus (anders als das OLG) nicht davon aus, dass der Betrieb der Website relevante Kosten verursache.“

Vierter Prozesstag: Montag, den 29.04.2024

Zum vierten Verhandlungstag äußerte David Werdermann (Gesellschaft für Freiheitsrechte) im Telefoninterview mit Radio Dreyeckland:
„Inhaltlich ging es […] um die technischen Details dieser Archivseite. Es wurde ein sachverständiger Zeuge vom LKA – wurde vernommen am Anfang. Der hat versucht so ein bisschen zu erklären: Was ist zum Betreiben einer Webseite nötig? Und wer hat da sozusagen welche Möglichkeiten, die Seite zu verändern oder auch zu gestalten? Aber die meiste Zeit hat […] der Gerichts-Sachverständige vom Fraunhofer-Institut […] geredet. […]. Man muss dann aber sagen: […] Man weiß weder etwas darüber, wie die ursprüngliche Nachrichtenseite abgeschaltet wurde oder wie es dazu kam, dass die abgeschaltet wurde; noch weiß man etwas darüber, wie die Archivseite dann zustande kam.“
(https://rdl.de/beitrag/das-gericht-ist-immernoch-auf-der-suche-nach-der-vereinigung-indymedia-linksunten-kommt, ab Min. 3:19)

„Also was man weiss – bei der Abschaltung… – da wurde auch noch ein Vermerk oder eine E-Mail des Bundesinnenministeriums verlesen, dass das Bundesinnenministeriums das wohl nicht wahr“.
(ebd., ab Min. 4:47)
Das wäre dann ein Indiz dafür, dass sich die GenossInnen linksunten-BetreiberInnen dem Verbot gebeugt haben und der alte BetreiberInnenkreis nicht mehr existiert.15
„Ähnlich verhält es sich bei der Frage: Wie ist diese Archivseite zustande gekommen? […]. Ob das jetzt irgendeine Privatperson war, die zum Beispiel permanent die Seite linksunten.indymedia gescrabt (?16) hat und aus diesen Daten dann das Archiv erstellt hat oder ob es da irgendwie eine Art von Datenspende gab – ob also z.B. Webseiten-AdministratorInnen oder auch Webserver-AdministratorInnen – diese Daten einmal gesichert haben und dann anderen Leuten gegeben haben oder ähnliches – das ist halt alles … – das kann man alles nicht feststellen.“
(ebd., ab Min. 5:20; die kursive Hervorhebung ist im gesprochenen Wortlaut deutlich als Betonung zu hören; vgl. zum Begriff „Datenspende“ im vorliegenden Zusammenhang: junge Welt vom 27.12.2023 und untergrundblättle vom 30.04.2024)

David Werdermann schätzt den ganzen Aufwand, der betrieben wird, als „absurd“ ein (Min. 6:36). Er unterschätzt aber meines Erachtens damit, dass der Prüfgegenstand die Frage ist, ob der Betreiberkreis („Verein“) zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch existierte (und dann könnte auch die Verlinkung zum Archiv eine Straftat sein). Und diese Frage ist nicht so offensichtlich zu beantworten wie, ob der Artikel eigentlich (also ohne den Kontext des linksunten-Verbotes) harmlos war oder nicht. Die juristischen Feinheiten entziehen sich eben häufig der Alltagswahrnehmung (und das ist das kafkaesk „absurde“), aber genau darin besteht auch ihre (politische) „Gefährlichkeit“. Es ist aber billig, dagegen (populistisch) Stimmung zu machen, wenn es an der eigentlichen juristischen Problemstellung vorbei geht. (Es ist merkwürdig, dass ich als politischer Aktivist dieses Argument gegen einen Juristen geltend mache, der es eigentlich wissen sollte.) Solche populistische Stimmungsmache hat mal wieder die Tendenz, den Komplex „linksunten-Verbot“ auf eine zu leichte Schulter zu nehmen (siehe dazu bereits: Zu einigen verharmlosenden Reaktionen auf die neuen Durchsuchungen bei vermeintlichen Mitgliedern des BetreiberInnenkreises von linksunten.indymedia; de.indymedia vom 13.08.2023).
D.W. bleibt aber bei seiner Argumentation, dass der Artikel unter die Freiheit der Berichterstattung fällt (Min. 6:54), was im Grundsatz nicht verkehrt ist, und hält daher diese ganzen „technischen Details“ (ob die „Vereinigung“ existiert hat oder immer noch existiert) eigentlich für unnötig. Aber diese ganzen technischen Details sind für das Kienert-Verfahren deshalb wichtig, weil es unter anderem darauf ankommt, ob bestimmte Veränderungen auf der Webseite zu bestimmten Zeitpunkten darauf hindeuten, daß der alte BetreiberInnenkreis zu diesen ‚Änderungs-Zeitpunkten‘ und auch bei Erscheinen von Kienerts Artikel noch existierte oder sich vielmehr dem Verbot gebeugt und aufgelöst hat. Dies wiederum ist deshalb wichtig, weil nur der alte BetreiberInnenkreis verboten ist17 und folglich nur dessen Unterstützung strafbar ist. „Wenn es aber keine Hinweise für die Fortführung der Vereinigung linksunten.indymedia gibt, dann kann sie auch nicht unterstützt werden, schon gar nicht mit einem bloßen Link“, so Christian Rath in seinem schon eingangs genannten taz-Artikel. Bleibt noch zu ergänzen, dass es eine Vereinigung mit dem Namen linksunten.indymedia nie gab, sondern ausschließlich eine open posting-Plattform mit diesem Namen – die war zwar klasse; aber deren BetreiberInnengruppe war das Independent Media Center (IMC) Linksunten – und nicht eine „Vereinigung ‚linksunten.indymedia‘“.

Fünfter Prozesstag: Dienstag, den 30.04.2024

Über den fünften Verhandlungstag heißt es bei Radio Dreyeckland:
„Zunächst trat ein Gutachter auf, der u. a. darlegte, dass das Internetarchiv mit alten Beiträgen von linksunten.indymedia keiner ständigen aktiven Betreuung bedurfte, also auch keiner Gruppe von Personen, die da weiter gegen die Verbotsverfügung gegen die als Verein gehandelte Anonyme Betreiber*innengruppe von linksunten.indymedia verstoßen hätte.“
(https://rdl.de/beitrag/staatsanwalt-sucht-weiter-nach-kontakten-zu-angeblichen-ehemaligen-mitgliedern-des)
Des weiteren berichtet der Sender über den fünften Tag:
„Ferner hat der Staatsanwalt mittlerweile weitere Beiträge bei Radio Dreyeckland gesammelt, die eine Verlinkung auf linksunten.indymedia enthielten. Relevanz für das Verfahren auch hier reichlich unklar.“
Es folgen mindestens noch zwei Prozesstage: am Dienstag, den 14. und Donnerstag, den 16.05.2024.

Eine Verschiebung hin zum autoritären „starken Staat“ ?

Bei diesem Stand der Dinge sei eine politische Zwischenbilanz des Verfahrens gewagt.

Obwohl ich beim gegenwärtigen Stand der Verhandlung (siehe die Links in FN 9 bis 12) durchaus naheliegend erscheint, dass Kienert mit einem Freispruch rechnen kann, zeigt der ganze Komplex um das „linksunten-Verbot“ (in Anführungszeichen, weil bis heute Verwirrung gestiftet ist, was eigentlich verboten ist: die Webseite oder ein „Verein“18, der nicht mal korrekt benannt wurde) meines Erachtens eine Verschiebung des dominanten politischen Lagers vom „liberalen Rechtsstaat“ (der freilich seine totalitarismus-geprägten „deutschen“ Spuren nie ablegen konnte [und will]) zu einem Hang zum autoritären „starken Staat“, der sicherlich auch auf den gewachsenen Einfluss des rechten Populismus zurückzuführen ist. Allein schon, dass es überhaupt zu dem Strafverfahren gegen Kienert kam, ist meines Erachtens eine bedenkliche Entwicklung.

Zwar hat sich dieser autoritäre „starke Staat“ auch schon früher gezeigt: man denke an die Reaktionen auf die Studentenproteste der 68er-Bewegung oder den „deutschen Herbst“ im Zusammenhang mit der Verfolgung der RAF. Überhaupt lässt sich die Geschichte des deutschen Staates und seiner Politik ohne das Erbe des „Obrigkeitsstaates“ kaum verstehen. Der Konflikt zwischen Autoritarismus und Liberalismus tritt (normalerweise) immer dann besonders prägnant hervor, wenn die politischen Ordnung in irgendeiner Form bedroht ist oder zumindest erscheint. Bei der Studentenbewegung und der RAF ist dies noch einsichtig, aber bei der internet-Plattform „linksunten-indymdia“ ist dieser Zusammenhang nicht mehr ganz so offenkundig. – Gut, es gab die massiven Proteste gegen G20 in Hamburg, aber kann man das 1 zu 1 linksunten (als ‚Ganzem‘) „zurechnen“ (wie die Juristen sagen)? Da können schon massive Zweifel auftreten.

Die ganze Verbotskonstruktion mit dem „Verein“ kann mit einiger Berechtigung als juristischer „Trick“ bewertet werden, weil das BMI natürlich genau wusste, dass Meinungs- und Pressefreiheit nicht so leicht auszuhebeln sind.

Selbstredend ist es der „herrschenden Politik und Rechtsprechung“ ein Leichtes, die Aufrufe zu „Gewalt“, die es bei linksunten auch gab, zu nutzen, um das Verbot zu rechtfertigen. Sicherlich kann man auch als „Linker“ an der Sinnhaftigkeit solcher Aufrufe zweifeln, aber linksunten hat nun mal alles veröffentlicht, wenn es nicht faschistisch, rassistisch oder sexistisch war. Im Übrigen haben auch die Leser solche Gewaltaufrufe durchaus kritisch kommentiert. Diese Argumentation entpuppt sich also bei genauerer Betrachtung als „Heuchelei“, die umso gewaltiger gen Himmel stinkt, wenn man sich die ganze „offizielle“ Politik in Sachen Kriegseinsätze, innere Aufrüstung, Migration und unterentwickelt gehaltene Länder ansieht. Dazu fällt mir nur mit Dieter Hildebrandt ein: „Mich regt die Tatsache auf, dass sich niemand aufregt.“

Aber zurück zum Konflikt zwischen Autoritarismus und Liberalismus. Wann, seit dem Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, hat es eine Bedrohung der politischen Ordnung von „links“ gegeben? Im Gegenteil hat die linke Bewegung eine beispiellose Talfahrt hingelegt, über deren Ursachen man sicherlich gern diskutieren kann. Aber Fakt ist, die Linken sind immer kleiner, gespaltener und bedeutungsloser geworden (eine Ausnahme bildet die Theorieproduktion, die nach wie vor sich an linken Ideen speist). Manchmal habe ich sogar den Eindruck, je bedeutungsloser die linken Gruppen sind, umso akribischer wird auf die Theorie wert gelegt, was nicht unbedingt nachteilig sein muss, aber realpolitisch keine Wirkung zeitigt). Unter diesem Gesichtspunkt, was das Bedrohungspotential (von links) betrifft, macht das „linksunten“-Verbot also wenig (bis keinen) Sinn, zumal selbst staatliche Stellen wie der Verfassungsschutz „linksunten“ als Infoquelle verwendet haben. Und nur als Rache für die vermasselte G20-Show wirkt als politisches Motiv ein wenig kleingeistig, oder?

Was immer das BMI 2017 sich dabei gedacht hatte, die juristischen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Fall Kienert auftreten, sind durchaus erheblich. Wenn allein die archivarische Dokumention eines Presseerzeugnisses (was zwei verschiedene Dinge sind: das Archiv [mit neuem Vorwort und Recherche-Hilfsmitteln] einerseits und die alte Webseite im laufenden Betrieb andererseits) als Fortbestand eines „verbotenen Vereins“ gewertet werden kann (was ich aber [noch] nicht glauben kann), dann wäre das tatsächlich eine juristische Niederlage für die Pressefreiheit, die es Medienschaffenden in Zukunft nicht leichter machen wird, ihren Job (Informations- und Meinungsbildung) zu erfüllen.

„Die Vorgeschichte zum Prozess verdeutlicht ganz gut, warum es heißt, vor Gericht und auf hoher See lägen Schicksale in Gottes Hand. Denn der Fall macht deutlich, wie unterschiedlich derselbe Sachverhalt von verschiedenen Richter:innen bewertet werden kann“, schreibt Minh Schredle in seinem Prozessbericht bei KONTEXT19. Dass derselbe Sachverhalt unterschiedlich bewertet werden kann, ist normal, wenn unterschiedliche (politische) Interessen (und Weltanschauungen) vorliegen. Aber das Schicksal von Kienert vor Gericht muss nicht (nur) in „Gottes Hand“ liegen. Noch sollte die Gesetzeslage zugunsten von Kienert auslegbar sein.
Sollten sich allerdings die Hardliner des Autoritarismus mit ihrer Rechtsauffassung durchsetzen, dann wäre man in Zukunft gut beraten, vor jeder neuralgischen Publikation auch eine Rechtsinformation einzuziehen.
Das politische Klima war für Linke in Deutschland noch nie einfach, aber mein Gefühl sagt mir, es ist rauher geworden.

1) https://rdl.de/beitrag/ermittlungsverfahren-nach-indymedia-linksunten-verbot-wegen-bildung-krimineller.
2) „Regelungsgegenstand des Verbotsbescheids ist nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚http://linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals, sondern das Verbot des dahinter stehenden Personenzusammenschlusses ‚linksunten.indymedia‘ als Organisation“ (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29.01.2020 zum Aktenzeichen 6 A 1.19 [https://www.bverwg.de/de/290120U6A1.19.0], Textziffer 33).
3) https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__85.html.
4) https://www.landesrecht-bw.de/bsbw/document/NJRE001546409.
5) https://www.golem.de/news/bundesverwaltungsgericht-linksunten-bleibt-verboten-2001-146339.html.
6) https://www.landesrecht-bw.de/perma?d=NJRE001439981.
7) https://tarnkappe.info/artikel/rechtssachen/indymedia-linksunten-kts-razzia-war-rechtswidrig-62077.html.
8) Siehe auch golem.de vom 01.07.2022: „Im Zuge des damaligen Verbotsverfahrens hat die Polizei Räume des autonomen Zentrums KTS in Freiburg durchsucht und Datenträger beschlagnahmt. Im Jahr 2020 entschied der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg laut der Tageszeitung taz, dass diese Durchsuchung rechtswidrig war.“ Die unterstrichene Passage ist im Original ein Hyperlink, der dorthin: https://taz.de/Durchsuchung-in-Freiburger-KTS-Zentrum/!5728055/ führt.
9) Siehe: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/682/ein-tiefpunkt-der-justiz-9494.html und https://blogs.taz.de/theorie-praxis/linksunten-indymedia-nur-zu-0135-kriminell/ sowie https://rdlsoli.noblogs.org/post/2024/04/21/prozessbericht-tag-1/.
10) Siehe: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181729.radio-dreyeckland-prozess-in-karlsruhe-wann-ist-ein-link-ein-link.html und https://rdl.de/beitrag/unterschiedliche-medien-berichteten-hnlich-wie-rdl-der-kriminalisierten-meldung.
11) Siehe dazu: https://rdlsoli.noblogs.org/post/2024/04/28/prozessbericht-tag-3/ und https://rdl.de/beitrag/weiter-kein-beweis-f-r-die-weitere-existenz-von-linksuntenindymedia.
12) Siehe dazu: https://rdl.de/beitrag/das-gericht-ist-immernoch-auf-der-suche-nach-der-vereinigung-indymedia-linksunten-kommt.
13) https://rdl.de/beitrag/staatsanwalt-sucht-weiter-nach-kontakten-zu-angeblichen-ehemaligen-mitgliedern-des und https://rdl.de/beitrag/die-r-ckkehr-der-medienfreiheiten-das-staatsschutzverfahren-der-karlsruher.
14) https://de.indymedia.org/sites/default/files/2024/04/Presseschau_RDL_Tag_1_bis_3___FINAL.pdf.
15) Gemeint ist § 129 StGB über die Bildung Krimineller Vereinigungen.
16) Alternativ kommt auch noch in Betracht, dass der Hoster von linksunten (nach Presseberichten soll es OVH gewesen sein), die alten linksunten-Artikel offline genommen hat. Aber auch nachdem die Adresse – ebenfalls laut Medienberichten – von wem auch immer (Dem alten BetreiberInnenkreis? Neuen Leuten? Oder – z.B. als provisorische Maßnahme – von denjenigen, die die Domain indymedia.org verwalten?) auf einen kanadischen Server umzogen wurde, wurden die alten Artikel ja aber jahrelang nicht wieder zur Verfügung gestellt. Erst Anfang 2020 erfolgt die Archivveröffentlichung – durch welche Person oder welche Personen auch immer (vgl. dazu: https://twitter.com/TaP_Theorie/status/1786399358063137261) und auf welchem Server auch immer (dem besagten kanadischen Server oder noch einem anderen Server?).
„Ab Freitagmittag [25.08.2017] war linksunten.indymedia.org nicht mehr erreichbar, beim Aufruf erschien die Meldung ‚Wir sind zur Zeit offline…‘. Die Webseite ist eine Subdomain von indymedia.org und wurde bislang beim französischen Provider OVH gehostet. Nach dem Verbot zog Linksunten laut Medienberichten auf Server in Kanada um. Am Samstagmorgen posteten Unbekannte auf der Seite die Ankündigung ‚Wir sind bald wieder zurück‘. […]. Darunter folgten eine Fotomontage mit Barbra Streisand und Auszüge der 1996 von John Perry Barlow geschriebenen ‚Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace‘. […]. Offenbar wird an der Webseite weiter gearbeitet. Das Manifest findet sich derzeit nicht mehr, sondern wieder ‚Wir sind zur Zeit offline…‘.“ (netzpolitik.org vom 26.08.2017)
Der Link bei „laut Medienberichten“ führt zu einem Artikel der Märkischen Allgemeinen, der dort nicht mehr online ist; bei archive.org gibt es ihn aber noch: https://web.archive.org/web/20170826203254/http://www.maz-online.de/Nachrichten/Medien/Netzwelt/linksunten.indymedia-wieder-im-Netz.
17) Wohl zu engl. scrabble = u.a. nach etwas greifen; hier anscheinend: Die Datei auf Webseite ‚abgreifen‘; auf den eigenen Rechner herunterladen.
18) „Regelungsgegenstand des Verbotsbescheids ist nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚http://linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals, sondern das Verbot des dahinter stehenden Personenzusammenschlusses ‚linksunten.indymedia‘ als Organisation“. (Urteil vom 29.01.2020 zum Aktenzeichen 6 A 1.19; (https://www.bverwg.de/de/290120U6A1.19.0, Textziffer 33)
19) Das Bundesverwaltungsgerichte hatte 2020 entschieden: „Regelungsgegenstand des Verbotsbescheids ist nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚http://linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals“ (siehe Fußnote 2). Das Oberlandesgericht Stuttgart sprach dann aber doch wieder von „verbotene[r] Website“ (Beschluß vom 12.06.2023 zum Az. 2 Ws 2/23 [https://www.landesrecht-bw.de/bsbw/document/NJRE001546409], Textziffer 16, 19 und 49) und „verbotenen Plattform“ (ebd., Textziffer 51 und 65).
20) https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/682/ein-tiefpunkt-der-justiz-9494.html.

Anmerkung der Moderation

Artikel aus kommerziellen Medien zb. laenger und aufwaendig recherchiert, medium schwer zugaenglich, paywalls:
Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Link einfügen. Eigentlich sollen auf emrawi.org keine Kopien aus kommerziellen Medien veröffentlicht werden, wir machen aber bei bestimmten Beiträgen Ausnahmen, wenn der Inhalt aus unserer Sicht besonders wichtig ist.

Geschlechtergerechte Sprache:
Wir fordern alle Autor*innen dazu auf, ihre Beiträge in geschlechtergerechter Sprache zu formulieren. Wenn in einem Text nur die männliche Form verwendet wird, sehen wir darin eine Form von Sexismus. Zu Details wie geschlechtergerechte Formulierung aussehen kann verweisen wir auf den Leitfaden “Was tun?” http://feministisch-sprachhandeln.org/ sowie auf das Genderwörterbuch auf https://neu.geschicktgendern.de/

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