Die Forderungen der kollektiven Schwarzen Stimmen vom befreiten Capitol Hill an die Regierung von Seattle

veröffentlicht am 15. Juni 2020

In Reaktion auf den Mord an George Floyd haben die Bewohner*innen von Capitol Hill die autonome Selbstverwaltung ihrer Nachbar*innenschaft erklärt. Die Polizei von Seattle hat sich am 8. Juni 2020 aus dem Bereich der Capitol Hill Autonomous Zone zurückgezogen. Der folgende Text ist die Übersetzung eines kleinen Ausschnitts aus diesem Kampf.

Gewidmet den Menschen, die Capitol Hill befreit haben, ist diese Liste von Forderungen weder kurz noch simpel. Dies ist keine einfache Aufforderung, die Brutalität der Polizei zu beenden. Wir fordern, dass der Stadtrat und der Bürger*innenmeister, wer auch immer das sein mag, diese politischen Änderungen umsetzen, um den kulturellen und historischen Fortschritt der Stadt Seattle zu fördern und die Kämpfe ihrer Bevölkerung zu erleichtern. Dieses Dokument soll die schwarzen Stimmen darstellen, die nach 9 Tagen friedlichen Protests unter ständigen nächtlichen Angriffen des Seattle Police Departments (SPD) siegreich an der Spitze von 12th & Pine [Straßenname, A.d.Ü.] sprachen. Dies sind Worte aus dieser Nacht, dem 8. Juni 2020.

Zur Vereinfachung der Betrachtung haben wir diese Forderungen in vier Kategorien unterteilt: Justiz, Gesundheits- und Sozialwesen, Wirtschaft und Bildung.

Angesichts des historischen Moments beginnen wir mit unseren Forderungen in Bezug auf das Justizsystem.

1. Das Seattle Police Department und das angeschlossene Gerichtssystem sind nicht mehr zu reformieren. Wir fordern keine Reform, wir fordern die Abschaffung. Wir fordern, dass Stadtrat und Bürgermeister* dem Seattle Police Department und dem angeschlossenen Justiz-Apparat die Finanzierung entziehen und beide Institutionen abschaffen. Dies bedeutet 100% der Finanzierung, einschließlich der bestehenden Renten für die Polizei von Seattle. Bei gleicher Priorität fordern wir auch, dass die Stadt die Arbeit von ICE in Seattle untersagt [ICE ist eine Bundesstaatliche Agentur die in den gesamten Vereinigten Staaten u.a. gegen illegalisierte Migration und Menschen ohne Papiere vorgeht, A.d.Ü.].

2. In der Übergangszeit zwischen jetzt und der Abwicklung des Seattle Police Department fordern wir, dass die Anwendung von Waffengewalt vollständig verboten wird. Keine Waffen, keine Schlagstöcke, keine Schutzschilde, keine chemischen Waffen, insbesondere nicht gegen diejenigen, die ihr verfassungsmäßiges Recht ausüben, um zu protestieren.

3. Wir fordern ein Ende der Schul-Gefängnis-Pipeline und die Abschaffung der Jugendgefängnisse. Kinder raus aus dem Gefängnis, Polizist*innen raus aus den Schulen. Wir fordern auch, dass das neue Jugendgefängnis, das derzeit in Seattle gebaut wird, für etwas anderes genutzt wird.

4. Wir fordern, dass weder die Stadtregierung noch die Landesregierung, sondern die Bundesregierung eine umfassende Untersuchung früherer und aktueller Fälle von Polizeibrutalität in Seattle und Washington einleitet [Washington State, A.d.Ü.]. Außerdem fordern wir die Wiedereröffnung aller dem Office of Police Accountability gemeldeten und abgeschlossenen Fälle [Das Office of Police Accountability ist eine unabhängige Stelle innerhalb der Polizei von Seattle, deren Aufgabe es ist Fehlverhalten der Polizei zu untersuchen]. Insbesondere fordern wir die Wiedereröffnung von für Seattle und Washington wichtigen Fällen, in denen Gerechtigkeit nicht erreicht worden ist, nämlich die Fälle von Iosia Faletogo, Damarius Butts, Jesaja Obet, Tommy Le, Shaun Fuhr und Charleena Lyles.

5. Wir fordern Wiedergutmachung für Opfer von Polizeibrutalität in einer noch festzulegenden Form.

6. Wir fordern die Stadt Seattle auf, die Namen von Beamten, die an Polizeiübergriffen beteiligt sind, öffentlich bekannt zu machen. Anonymität sollte kein Privileg im öffentlichen Dienst sein.

7. Wir fordern eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen alle People in Color, die derzeit wegen Gewaltverbrechen zu einer Haftstrafe verurteilt werden, und zwar durch eine [Gerichts-]Jury aus Gleichaltrigen in ihrer Gemeinde.

8. Wir fordern die Entkriminalisierung der Protestaktivitäten und eine Amnestie für Protestierende im Allgemeinen. Insbesondere aber für diejenigen, die an der sogenannten „George Floyd-Rebellion“ gegen die Terrorzelle beteiligt sind, die zuvor dieses Territorium besetzt hielt und die unter dem Namen Seattle Police Department agiert. Diese Forderung schließt die sofortige Freilassung aller Demonstrant*innen ein, die derzeit nach den Verhaftungen an der Ecke 11th und Pine und am Sonntagabend, 7. Juni und am frühen Samstagmorgen, dem 8. Juni, im Gefängnis festgehalten werden, sowie aller anderen Demonstrant*innen, die in den letzten zwei Wochen des Aufstands verhaftet wurden, der Name Evan H.fällt uns ein, der im Gefängnis sitzt, weil er die Polizei von Seattle fimte, während diese ein junges Mädchen gepfeffert hat.

9. Wir fordern die Stadt Seattle und die Landesregierung auf, jede*n Gefangene*n, die*der derzeit wegen einer Straftat im Zusammenhang mit Marihuana im Gefängnis ist, freizulassen und die damit verbundene Verurteilung aufzuheben.

10. Wir fordern die Stadt Seattle und die Regierung des Bundesstaates auf, alle derzeit inhaftierten Gefangenen freizulassen, die nur aus dem Grund inhaftiert sind, weil sie Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen geleistet haben.

11. Wir fordern, dass den derzeit inhaftierten Gefangenen das volle und uneingeschränkte Wahlrecht eingeräumt wird und dass der Staat Washington Gesetze verabschiedet, die sich explizit gegen das Bundesgesetz richtet, welches verhindert, dass Strafgefangene wählen können.

12. Wir fordern ein zwischenzeitliches Ende der Immunität der Polizeibeamten bis zur Auflösung des Seatlle Police Department und des bestehenden Justizsystems.

13. Wir fordern die Abschaffung der Haft im Allgemeinen, insbesondere aber die Abschaffung sowohl von Jugendgefängnissen als auch von privaten, gewinnorientierten Gefängnissen.

14. Wir fordern als Ersatz für das derzeitige Strafrechtssystem die Schaffung von Programmen zur Wiederherstellung / Transformation der Verantwortlichkeit [restorative/transformative accountability programs] als Ersatz für die Inhaftierung.

15. Wir fordern, dass den Menschen Autonomie eingeräumt wird, um lokale Systeme zur Verbrechensbekämpfung zu schaffen.

16. Wir fordern, dass die Polizeibehörde von Seattle bis zu ihrer Abschaffung in naher Zukunft ihr „Fundbüro“ leert und Eigentum zurückgibt, das den Bewohner*innen der Stadt gehört.

17. Wir fordern Gerechtigkeit für diejenigen, die vom Seattle Police Department oder den Gefängniswärter*innen im Bundesstaat Washington sexuell belästigt oder missbraucht wurden.

18. Wir fordern, dass bis zur Abschaffung des SPD jede*r einzelne SPD-Beamte ihre*seine Bodycam einschaltet und dass das Bodycam-Video aller Polizist*innen in Seattle eine leicht zugängliche öffentliche Aufzeichnung wird.

19. Wir fordern, dass die zuvor für die Polizei von Seattle verwendeten Mittel umgeleitet werden in: A) Verstaatlichte (socialized) Gesundheit und Medizin für die Stadt Seattle. B) Freien öffentlichen Wohnraum, denn Wohnen ist ein Recht, kein Privileg. C) Öffentliche Bildung, um die durchschnittliche Klassengröße in städtischen Schulen zu verringern und das Lehrer*innengehalt zu erhöhen. D) Einbürgerungsdienste für Einwanderer*innen in die Vereinigten Staaten, die hier ohne Papiere leben. (Wir fordern, dass sie als „undokumentiert“ bezeichnet werden, da keine Person illegal ist.) E) Allgemeine Entwicklung der Gemeinschaft, Parks usw.

Wir haben auch wirtschaftliche Forderungen, die angegangen werden müssen.

1. Wir fordern die De-Gentrifizierung von Seattle, beginnend mit der Mietkontrolle.

2. Wir fordern die Wiederherstellung der stättischen Finanzierung für Kunst und Kultur, um die einst reiche lokale kulturelle Identität von Seattle wiederherzustellen.

3. Wir fordern ein freie Universitäten für die Bevölkerung des Bundesstaates Washington aufgrund der überwältigenden Auswirkung, die Bildung auf den wirtschaftlichen Erfolg hat, und den damit in Zusammenhang stehenden unermesslichen Auswirkungen der Armut auf People of Color, als eine Form der Wiedergutmachung für die Behandlung der Schwarzen in diesem Staat und Land.

4. Wir fordern, dass der Polizei von Seattle bis zur Abschaffung des Police Department verboten wird „Obdachlosen-Säuberungen“ durchzuführen, die unsere obdachlosen Nachbar*innen verdrängen und stören. Gleichzeitig fordern wir ein Ende aller Räumungen.

5. Wir fordern einen dezentralen Wahlprozess, um den Bürger*innen von Seattle eine bessere Möglichkeit zu geben, Kandidat*innen für ein öffentliches Amt auszuwählen, so dass wir bei der Abstimmung nicht gezwungen sind, zwischen gleichermaßen nicht wünschenswerten Optionen zu wählen. Es gibt mehrere Systeme und Richtlinien, die es für die Arbeiter*innenklasse bestenfalls unpraktisch machen, sich für ein öffentliches Amt zu bewerben. Alle diese Hindernisse müssen beseitigt werden, beginnend mit den Gebühren, die mit der Aufstellung zur Wahl zu einem öffentlichen Amt verbunden sind.

Im Zusammenhang mit unseren ökonomischen Forderungen haben wir auch Forderungen im Hinblick auf das, was wir formell als „Gesundheit und menschliche Dienste“ bezeichnen würden.

1. Wir fordern, dass die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in Seattle schwarze Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen beschäftigen, insbesondere zur Behandlung Schwarzer Patient*innen.

2. Wir fordern die Menschen in Seattle auf, Unternehmen in Besitz von Schwarzen zu suchen und stolz zu unterstützen. Unser Geld ist unsere Kraft und Nachhaltigkeit.

3. Wir fordern, dass die Stadt ein völlig separates System mit Expert*innen für psychische Gesundheit schafft, um auf Notrufe im Zusammenhang mit psychischen Gesundheitskrisen zu reagieren. Wir bestehen darauf, dass alle an einem solchen Programm Beteiligten einer gründlichen und strengen Schulung zur Deeskalation von Konflikten unterzogen werden.

Lasst uns abschließend auf unsere Forderungen bezüglich des Bildungssystems in der Stadt Seattle und im Bundesstaat Washington eingehen.

1. Wir fordern, dass die Geschichte der Schwarzen und der amerikanischen Ureinwohner*innen im Lehrplan des Staates Washington einen wesentlich größeren Stellenwert erhält.

2. Wir fordern, dass eine gründliche Anti-Rassismus-Ausbildung für alle Berufe im Bildungssystem sowie in der Ärzteschaft und in den Massenmedien gesetzlich vorgeschrieben wird.

3. Wir fordern die Stadt Seattle und den Bundesstaat Washington auf, alle Denkmäler zu entfernen, die historischen Persönlichkeiten der Konföderation gewidmet sind. Die verräterischen Versuche der Konföderierten, ein Amerika mit Sklaverei als dauerhaftem Bestandteil aufzubauen, ist ein Affront gegen die Menschheit.

Transkribiert von @irie_kenya und @AustinCHowe. Besonderer Dank geht an Magik für den Start und die Erleichterung der Diskussion zur Erstellung dieser Liste, an Omari S. für die Idee, die Liste in Kategorien zu unterteilen, und an Kshama S., der der einzige Beamte in Seattle war, der mit den Leuten in Free Capitol Hill diskutiert hat, in der Nacht, in der es befreit wurde.

Obwohl wir Free Capitol Hill im Namen der Menschen von Seattle befreit haben, dürfen wir nicht vergessen, dass wir auf dem Land stehen, das bereits einmal den Duwamish, den ersten Menschen in Seattle, gestohlen wurde. Deren Bruder John T. Williams von den Nuu-chah-nulth im Norden wurde vor 10 Jahren vom Seattle Police Department ermordet.

Black Lives Matter – Den ganzen Tag, jeden Tag.

Quellenangabe: Das Original dieser Forderungen auf englisch wurde am 8. Juni 2020 auf medium.com/@seattleblmanon3 veröffentlicht.
Die Übersetzung von S.P. aus Bremen vom 11. Juni 2020 auf endofroad.blackblogs.org wurde hier bearbeitet übernommen.

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