Instrumentalisierung von Awareness-Konzepten für eine persönliche Agenda

veröffentlicht am 3. September 2020

Die Awarenessgruppe Basel (Schweiz) hat sich in den letzten Wochen vertieft mit der Frage auseinandergesetzt, wer darüber entscheiden soll und darf, ob etwas als Diskriminierung/Grenzüberschreitung bezeichnet werden muss und kann. Als Awarenesszusammenhang und im Hinblick auf die Schaffung einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Welt finden wir die Auseinandersetzung mit verschiedenen Diskriminierungsebenen richtig und wichtig, um diese nicht in unseren eigenen Kontexten ständig zu reproduzieren. In der Auseinandersetzung mit einer intersektionalen und multidimensionalen Perspektive gibt es auch gewisse Widersprüche und Ambivalenzen - die stetige Reflexion darüber erachten wir als grundlegend. Insofern ist dieser Text aus einer gruppeninternen Reflexion über die genannten Themen entstanden. Er ist bewusst fragmentarisch gehalten und soll nicht eine abschliessende Auseinandersetzung mit dem Thema beinhalten, auch damit er einfacher zugänglich für verschiedene Menschen ist und nicht einfach ein "Gesetz" abbildet. Vielmehr ist es uns wichtig, mit diesem Text zugänglich zu bleiben, Diskussionen zu ermöglichen und die (Selbst)reflexion zu fördern.
Auch wir sind gegen verinnerlichte Machtverhältnisse, Dominanzgehabe, innere Widerstände und Konflikte nicht gefeit, sondern müssen tagtäglich daran arbeiten, diese offen zu legen und zu verlernen. Umsomehr möchten wir darauf achten, dass wir nicht als «höhere Instanz» wahrgenommen werden, und nicht bestimmend, befehlerisch, eindimensional und eigenmächtig, sondern unterstützend und kontextsensibel zu wirken. Wir stellen uns klar gegen autoritäre Tendenzen in unserer Szene wie auch in der Welt im Allgemeinen!

Gegen jede Diskriminierung! Gegen jede Art von Autorität!

Das Konzept der Definitionsmacht
Von wem geht die Definition aus, eine Handlung als rassistisch, ableistisch, sexistisch oder sonst diskriminierend zu bestimmen?
Unter Definitions”macht” verstehen wir, dass die Definition, ob eine sexualisierte und/oder anderweitig diskriminierende Grenzverletzung vorgefallen ist, einzig und allein bei der betroffenen Person liegt. Jede betroffene Person von solch diskriminierender Gewalt kann nur von sich selbst sagen, was mensch wann als Gewalt empfindet und wie mensch diese individuell erlebte Gewalt wahrnimmt. Gewalt wird aufgrund der persönlichen Geschichte, Gegenwart und Erfahrung von Betroffenen unterschiedlich erlebt, eingeordnet und eingeschätzt. So kann es zum Beispiel sein, dass ein Übergriff erst nach längerer Zeit von Betroffenen als solcher definiert wird – Definitionsmacht verjährt nicht. Das heisst, unabhängig davon, wie z.B. der sexualisierte Übergriff aussah: wenn eine betroffene Person eine Vergewaltigung oder einen sexualisierten Übergriff so bezeichnet, dann entspricht das genau ihrer Wahrnehmung und ist somit als diese Bezeichnung zu akzeptieren.

Multidimensionale und intersektionale Perspektive im Konzept Definitionsmacht
Die Anerkennung der subjektiven Wahrnehmung heisst aber nicht, dass die Bestimmung von Konsequenzen oder Sanktionen auch Teil von Definitionsmacht ist oder sein muss. Hierbei zu unterscheiden zwischen strukturell bedingter Gewalt und Diskriminierung und zwischenmenschlichen Konflikten kann hilfreich sein, um die Parteilichkeit bezogen auf Konsequenzen abzuwägen.

Auch in zwischenmenschlichen Konflikten spielen historisch und strukturell bedingte Unterdrückungsformen immer mit. Aus einer multidimensionalen Perspektive wird möglicherweise deutlich, welche Sozialisationsbedingugen und allfälligen Unterdrückungsformen bei der anderen Person eine Rolle spielen. Natürlich gibt es absolut "unentschuldbares" Verhalten - eine "vorschnelle" Parteilichkeit erachten wir jedoch als hinderlich, weil es Ziel sein sollte, den Konflikt (und nicht: Gewaltvorfall) zu lösen, Verständnis füreiander zu schaffen, etc. Ob eine Situation als Konflikt oder als Übergriff verstanden werden soll, ist sicherlich nicht immer einfach zu beantworten. So oder so spielt die Reflexion der Machtebenen eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Situation.
Wie der Name schon sagt, geht es bei der Definitionsmacht darum, wer wie Einfluss ausüben kann über die Art und Weise, wie eine soziale Interaktion verlaufen ist. Da wir davon ausgehen, dass alle sozialen Interaktionen von Herrschaftsmustern, Machtgefällen sowie auch unter anderem dadurch bedingte Dynamiken beeinflusst sind, erachten wir es erstmal als richtig, dass die_der Betroffene die Definitionsmacht hat. Es geht dabei nicht zwingend darum, eine objektive Wahrheit des Geschehenen zu etablieren, sondern eben darum, GegenMACHT aufzubauen. Dass das natürlich eine komplexe Angelegenheit ist in Anbetracht davon, dass wir alle dazu fähig sind zu diskriminieren, als auch fast alle von irgendwelchen strukturellen Benachteiligungen betroffen sind, ist klar. Auch deshalb erachten wir die Langfristigkeit von transformativen Prozessen (wie Transformative Gerechtigkeit - was auch immer Gerechtigkeit heissen mag…) als geeigneter um gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme herzustellen, als kurzfristige Sanktionierung - eben auch, weil solche Prozesse es zulassen, verschiedene Betroffenheiten anzugehen und zu verstehen. Dabei soll die soziale Positionierung einer Person nie ein übergriffiges Verhalten entschuldigen. Positionierungen können aber für das Verstehen der Situation in einem transformativen Prozess enorm wichtig sein.

Dass das Konzept der Definitionsmacht historisch betrachtet von Schwarzen TINF (TransInterNichtBinärFrauen)-Personen in den USA erabeitet wurde, macht sichtbar, warum es so wichtig war, eine Gegenmacht aufzubauen. Nur schon als TINF-Person auf juristischem Weg Anerkennung für erlebte Übergriffe zu erreichen ist aufgrund der patriarchal geprägten Institutionen wie Polizei und Gerichten oftmals ein mühseliger Spiessrutenlauf. Als BIPOC (Black Indigenous Person Of Color) wird dir dann nicht nur nicht geglaubt, sondern durch das Zurückgreifen auf diese Institutionen droht den Personen selber und/oder ihren Communities erneute Gefahr von Gewalt, Erniedrigungen, etc. Also musste damals in den USA ein neuer Umgang mit Übergriffen gefunden werden, jenseits von Polizei und Justiz.

Wir sind überzeugt, dass dieses Konzept auch in anderen Kämpfen gegen Diskriminierung und auf dem Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft ein nützliches Instrument sein kann - jedoch verlaufen die Differenz- und Herrschaftslinien teilweise nicht ganz so klar wie im historischen Beispiel.

Persönliches Unwohlsein heisst nicht automatisch, dass mensch diskriminiert wird
"Eine weitere beunruhigende Manifestation der Politik von Safer Spaces ist die Betonung des persönlichen Komforts, die polizei-ähnliches Verhalten in konsensorientierten Gruppen oder Räumen unterstützt. [...] Die Betonung des persönlichen Komforts ist unproduktiv, reformistisch und kann die Energie und den Schwung von in Bewegung befindlichen Körpern zum Stillstand bringen. Die Politik der Unschuld und die Politik der Sicherheit und Bequemlichkeit sind insofern miteinander verbunden, als beide Strategien Passivität verstärken. Bequemlichkeit und Unschuld produzieren sich gegenseitig, wenn Menschen ihre Forderung nach Bequemlichkeit auf die Unschuld ihres Ortes oder ihrer Subjektposition gründen.
Die Ethik unserer Positionen und Identitäten (als Menschen innerhalb der USA, die unter dem globalen Kapitalismus leben) ist ein schlechter Witz, wenn man bedenkt, dass wir auf gestohlenem Land in einer Nation leben, die auf Sklaverei und Völkermord aufgebaut ist, und obwohl ich eine queere Woman of Colour bin, ist meine Existenz als Mensch, der in den USA lebt, auf Gewalt aufgebaut. Als nicht inhaftierte Person wird meine "Freiheit" nur durch die Gefangenschaft von Menschen wie meinem Bruder verstanden, der im Alter von 17 Jahren zu lebenslanger Haft hinter Gittern verurteilt wurde. Wenn wir über Sicherheit nachdenken, versäumen wir es, kritische Fragen über das co-konstitutive [also sich gegenseitig herstellende] Verhältnis zwischen Sicherheit und Gewalt zu stellen". (Wang, S. 20).

Natürlich ist der Kontext in der Schweiz ein anderer, aber auch hier gründet unser Leben auf der Ausbeutung der Mehrheitswelt (auch: globaler Süden), auf der Arbeit von Personen ohne die richtigen Papiere und von Gefangenen, auf der Care-Arbeit von TINF-Personen, etc. Eine ehrliche, stetige, konstruktive und ja, unbequeme Auseinandersetzung ist also in jedem Fall einem falschen Komfort vorzuziehen, der sowieso nicht für alle erreichbar ist und grundsätzlich auf der Diskriminierung anderer beruht.

Ist das Private immer Politisch?
Für uns hat sich die Frage gestellt, ob es Situationen gibt, in denen persönliche Konflikte politisch aufgeladen werden bzw. auch das Konzept der Definitionsmacht instrumentalisiert wird/werden könnte für persönliche Zwecke oder um damit Macht auszuüben. Ein gängiges Argument hierbei lautet, dass Kritik an Personen mit weniger Privilegien so unmöglich gemacht würde, weil die Angst, "etwas falsches" zu sagen, zu gross ist. Aber wenn wir uns anschauen, was hinter dieser Angst steckt, wird oft klar, dass dahinter die Widerstände stecken, sich kritisch mit Machtverhältnissen und Diskrimierungsformen auseinanderzusetzen.
Sicher ist jeder persönliche Konflikt in Machtverhältnisse eingebettet, und es ist nicht nur gut möglich, sondern Fakt, dass diese Politik in unsere persönlichen Beziehungen und Konflikte mitspielt. Ja, wir können auch in einem WG-Konflikt rassistisch handeln, Ja, auch unsere Sitzungsverhalten, unser Demo-Auftreten und unsere sexuellen Affären sind davon nicht frei, im Gegenteil. Dennoch gilt es, solche Situationen klar zu analysieren und sowohl strukturelle Machtverhältnisse wie auch individuelles Verhalten mitzudenken - und für beide und auf beiden Ebenen Verantwortung zu übernehmen.
Eine Möglichkeit der individuellen und kollektiven Verantwortungsübernahme könnte sein, zu erkennen, dass auch unsere persönlichen Beziehungen von verschiedenen Unterdrückungsformen durchdrungen sind - das gilt es anzuerkennen sowie auch die Gefühle die es bei davon betroffenen Personen auslöst. In einem weiteren Schritt auch die Gefühle der nicht direkt betroffenen oder gewaltausübenden Personen anzuerkennen und die hinter möglichen Widerständen gegenüber einer Auseinandersetzung mit Sexismus, Rassismus, Transfeindlichkeit, etc. stecken.
Wir denken, dass es wichtig ist, über die dazugehörigen Gefühle (mögliche Schuldgefühle, Ohnmachten, etc.) zu sprechen. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass z.b. rassismusbetroffene Menschen sich die ganze Zeit mit Rassismus auseinandersetzen müssen, und es nicht ihre Aufgabe ist, die Gefühlsarbeit für weisse Menschen zu übernehmen. Darüber könnte z.B. in einer Critical Whiteness Gruppe (bzw. Kritische Männlichkeiten*) gesprochen werden.
Dies kann heissen, die eigene Betroffenheit anzuerkennen, aber auch zu abstrahieren, ob und wie anders agiert oder reagiert werden kann. Das heisst für eine angeschuldigte Person, (ja,) die eigenen Privilegien und z.B. der definitiv vorhandene Rassismus anzuerkennen, aber deswegen auch nicht handlungsunfähig zu sein oder gemacht zu werden. Wichtig ist, diese z.B. rassistischen Komponenten zu erkennen, die eigenen Denkmuster zu reflektieren und gleichzeitig dennoch eine persönliche, solidarische Kritik üben zu können.

Relevanz von Analysen und zur Schwächung von Begrifflichkeiten
In persönlichen Streits Begriffe wie "Grenzüberschreitungen", "Übergriffe", "Missbrauch" zu verwenden, Wörter wie "Trauma" oder "Trigger" inflationär (= mega oft) zu verwenden, lässt die kennzeichnende Qualität von gewaltvollen Situationen verschwimmen und schwächt Betroffene. Das heisst konkret, dass das Konzept von "Definitionsmacht’", das wir als grundlegend für Awareness-Strukturen erachten, vorschnell verwendet und für die persönliche Agenda eingesetzt werden kann. Dazu Jackie Wang:
"Conversation often ends when people politicize their feelings of discomfort by using safe space language." (deutsch: Gespräche enden oft dort, wo Menschen ihre unangenehmen Gefühle politisieren, indem sie die "safer space"-Sprache verwenden) (Wang, S. 16, Quelle siehe unten).

Mit der "safer space"-Sprache sind Schlagwörter gemeint, die uns verstummen lassen, weil wir Angst haben, etwas gegen diese zu sagen - da wir ja grundsätzlich hinter diesen «safer space»-Konzepten stehen. Wenn diese Schlagwörter für persönliche Zwecke verwendet werden, um das Gegenüber zum Schweigen zu bringen, führt dies zu einer Schwächung dieser Konzepte. Dies ist insofern kritisch oder schwierig, als das keine wirkliche Auseinandersetzung mehr möglich ist.

Bsp: gegenteilige Situationen: wenn ein weisser cis-Mann sich zum Beispiel nicht auf sein weisses-cis-sein beziehen möchte (weil er ja nichts dafür kann) und Kritik an der kurdischen Widerstandsbewegung äussert, weil er seine Kritik für richtig hält. Er lässt aber ausser Acht, dass er aus einer eurozentristischen Perspektive kritisiert. Wie können wir hier vorgehen?

Bsp: "Der Typ hat mich unterbrochen, das ist sexistisch" —> Hier ist eine genaue Analyse wichtig: was genau ist sexistisch daran?
Persönliche Erlebnisse sind wichtig, um die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse - die sehr subtil sein können - fassbarer zu machen. Wir sollten aber nicht auf dieser persönlichen Ebene verharren, sondern in die Tiefe gehen und schauen, weshalb es diese Verhältnisse gibt. Denn so können wir sehen, wie Ausschluss und Diskriminierung - und auch Mikroaggressionen - nicht nur auf der psychischen Ebene wirken, sondern sich auch in „Materiellem“ einschreiben: es kommt zu konkreten Benachteiligungen in der Schule, auf der Wohnungssuche und am Arbeitsplatz. Und am deutlichsten sehen wir diese Einschreibungen in Regeln und Gesetzen.

Wichtig und lösungsorientert vorgehen, heisst in Momenten von Konflikten, nicht in Stille zu verharren, sondern auf die Aussage einzugehen: Ja, es stimmt, dass vor allem cis-Männer ein dominantes Verhalten an den Tag legen, zum Beispiel nicht bis zum Schluss zuhören, sondern ins Wort fallen / Das ist strukturell bedingt (patriarchale Verhältnisse, etc.) / Sich entschuldigen, die Person ausreden lassen und dann auf das Thema der Sitzung zurückkommen, also von der persönlichen Empfindung zur strukturellen Ebene kommen. //

Klasse, Bildungsnähe und Szenecodes
Wir haben uns gefragt, ob in unseren Kreisen bei der Aufarbeitung von Übergriffen und Konflikten aus einer multidimensionalen Perspektive die Achse von Bildungskapitalien (= Bildungsvorteile) und Klassenzugehörigkeit in Bezug auf vorhandene Diskriminierungsebenen manchmal vergessen geht. Sicher ist es wichtig anzuerkennen, dass der Gebrauch von diskriminierungsfreier Sprache teilweise auch mit der Bildung von Personen zusammenhängt und dass insbesondere in linken_anarchistischen Zusammenhängen vielerlei (Sprach-)codes verwendet werden, die neue Ausschlüsse schaffen. Folgendes Zitat von E*Space, einer feministischen Gruppe aus Dresden, fasst diese Problematik treffend zusammen:
"Leute werden rausgeschmissen, weil sie andere Wissensstände haben, weil sie Begriffe benutzen, die als schlecht oder verboten angesehen werden oder weil sie Szenecodes nicht kennen. Wenn man auf eine Veranstaltung geht, weil man die spannend findet, aber sich eigentlich noch nicht mit den Regeln der linken Szene auseinandergesetzt hat und man sich da "falsch" verhält, dann kann es auch sein, als Extrembeispiel, dass man da für immer nicht mehr dort auftauchen darf. (...) Wir halten es für wichtig, dass Menschen sich erklären können, dass wir erfahren, was passiert ist, wenigstens grob, damit sie auch eine Orientierung haben, was sie ändern können." (evibes, S. 2)

Autoritäre Awareness
Etwas, was wir als Awareness-Gruppe bei Veranstaltungen in christlich-weissen, feministischen Räumen manchmal erleben, ist eine gewisse Unmut, wenn wir über Rassismus, Transfeindlichkeit, Intersektionalität und Multidimensionalität sprechen. Diese Unmut wird explizit oder implizit von anwesenden weissen cis-Feministinnen geäussert. Überspitzt gesagt, wollen sie stark machen, dass die Konzepte Awareness und Definitionsmacht "ihnen" gehören, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen "die schlimmste" Gewaltform sei, und dass wir primär solche Vorfälle an Parties oder in Beziehungen betrachten sollen.
Diese cis-Frauen haben hiermit eine "Unterdrückungs-Olympiade" eröffnet: also eine Hierarchisierung von Gewaltformen. Und sie stehen an der Spitze. In dieser Abwehrhaltung verneinen oder ignorieren diese Frauen eigene Gewaltanteile, z.B. Rassismus oder Transfeindlichkeit. Sie beanspruchen das Konzept der Definitionsmacht für sich. Das Ganze erscheint wie ein Machtspiel: Welche (christlich-weisse, cis) Frau zuerst "Definitionsmacht" gerufen hat, hat gewonnen; diese Person thront dann auf ihrem hohen Sockel und stellt sich als unantastbar und unfehlbar dar. Die Definitionsmacht wird wie ein Zepter geschwungen und Leute für ihre Fehlbarkeit bestraft.
Diese eingeforderte Form von Awareness ist eindimensional und denkt einen transformativen Prozess nicht mit. Es mag verständlich sein, dass diese Frauen jahrelang für die Anerkennung von sexualisierter Gewalt auch in der Szene gekämpft haben, und unsere Betonung von Selbstreflexion und Multidimensionalität wie ein Angriff auf ihre Deutungshoheit, und somit als Absprache ihrer Gewalterfahrung erscheint. Nicht im Geringsten wollen wir absprechen, dass sexualisierte Gewalt real und schlimm ist. Wir wehren uns aber dagegen, dass die Konzepte einseitig beansprucht und damit eigene Gewaltanteile versteckt oder ausgeblendet werden.
In realen Gegebenheiten sind nämlich, wie oben besprochen, oft verschiedene Unterdrückungsformen vorhanden. Was tun zum Beispiel in einer Situation, wo Sexismus und Rassismus gleichzeitig vorhanden sind? Hat da etwa die Person gewonnen, die zuerst Definitionsmacht ausgerufen hat? Wie können wir also eine multidimensionale Perspektive einnehmen?
Ein weiterer Aspekt von eindimensionaler, nicht selbst-reflektierter und wenig machtkritischer Awareness-Arbeit im allgemeinen ist, dass solche Gruppen sehr viel Macht von der Szene erhalten sowie diese Macht auch wahrnehmen bzw. benutzen. Dies vorzubeugen, anzusprechen und dieses Machtgefälle abzubauen ist enorm wichtig.
Schliesslich kann - selbstkritisch - auch angemerkt werden, dass Personen mit weissen Privilegien, also auch weisse Awareness-Personen, das Gefühl haben, sie hätten sowieso alle Unterdrückungsformen verstanden und könnten Menschen unterstützen, egal von welcher Gewalt sie gerade betroffen sind. Als Beispiel: christlich-weisse Feministinnen glauben, sie hätten Rassismus voll und ganz verstanden, weil sie Unterdrückung in Form von Sexismus kennen und eine einfache Analogie ziehen - Unterdrückungsformen sind jedoch komplex und nicht 1:1 übertragbar und vergleichbar! Dieser genannte Expert_innenstatus kommt weissen Menschen in unserer rassistischen Gesellschaft, die von weisser Vorherrschaft geprägt ist, zugute. Gleichzeitig werden rassifizierte Personen als voreingenommen, emotional, aggressiv etc. wahrgenommen, wenn sie über Rassismus sprechen.

Angst vor Awareness
Es scheint, als ob mit der Erfahrung einer autoritären Awarenss auch eine allgemeine Angst vor Awareness entsteht, im Sinne von "Meine Meinung wird zensiert". Zensur ist ein äusserst problematischer Begriff, da diese der zensierenden Seite eine Macht zuschreibt, die über restriktive Strukturen verfügt (meistens sind das staatliche Stellen). Zudem wird dieser Begriff der "Zensur" oder der "Beschneidung der Meinungsfreiheit" seit einigen Jahren gerne von rechtspopulistischen Kreisen verwendet und dadurch wird versucht, die reaktionären und menschenunwürdigen Tendenzen in diesen Politiken zu verschleiern. Dasselbe können wir auch in unseren Kreisen beobachten, wenn "Zensur!" oder "political correctness!" gerufen wird und somit eine kritischen Auseinandersetzung verunmöglicht wird (es mag sein, dass insbesondere privilegiertere Personen (z.B. christlich, weiss, cis) den Begriff Zensur verwenden, weil sie es sich im Alltag nicht gewohnt sind, dass sie ihre Bedürfnisse zurückstecken sollen und ihre Äusserungen kritisiert werden können; d.h. sie stellen sich nicht die Frage: "Muss ich immer meine Meinung sagen, oder kann ich nicht einmal innehalten und über das Gesagte nachdenken?").

Ähnlich problematisch ist es von "polizei-ähnlichen" Strukturen zu sprechen. Polizei ist eine Form staatlich kontrollierter Gewalt und Kontrolle. Es ist ein struktureller Mechanismus, der der Machterhaltung dient. Menschen, die sich aus freien Stücken und ohne besondere Machtmittel zusammen tun, um sich gegen Machtverhältnisse zu wehren, sind nicht mit Polizei zu vergleichen. Der Vergleich ist nicht nur falsch, sondern auch politisch fragwürdig, da er staatliche Gewalt und Unterdruckung nicht adäquat darstellt und klein macht.

Wir können aber gerne über einen gewissen sozialen Druck sprechen, also was es bedeutet, sich in gewissen Räumen nicht mehr alles sagen zu trauen. Hier kommt es natürlich darauf an, von welchen Räumen wir sprechen, denn es gibt auch Räume, die gar nichts von political correctness halten und das auch ausleben. Also sprechen wir von öffentlich zugänglichen Räumen. Und hier gibt es vielleicht wirklich Momente, wo ich nicht all meinen Gedanken freien Lauf lassen sollte*, sondern dafür lieber spezifisch für solche Diskussionen erschaffene Momenten nutzen sollte (z.B. in Awareness-Workshops, wo explizit darauf aufmerksam gemacht wird, dass Fehlerfreundlichkeit besteht, und Menschen, die sich dem nicht aussetzen wollen, nicht kommen sollen.

Angst loswerden und Dinge riskieren
"Wenn eine Analyse von Privilegien in ein politisches Programm umgewandelt werden, das behauptet, dass die Schwächsten keine Risiken eingehen sollten, wird die einzige politisch korrekte Politik zu einer Politik des Reformismus und Rückzugs, einer Politik, die notwendigerweise vor dem Status quo kapituliert und gleichzeitig das Erbe von Black Power-Gruppen wie den Black Panthers und der Black Liberation Army auslöscht. Für Fanon ist es gerade das Element des Risikos, das ein militantes Handeln dringlicher macht - die Befreiung kann nur unter Einsatz des Lebens gewonnen werden. Militanz ist nicht nur taktisch notwendig - ihr zweifaches Ziel besteht darin, Menschen zu verwandeln und ihr Wesen "grundlegend zu verändern", indem sie sie ermutigen, ihre Passivität beseitigen und sie von "dem Kern der Verzweiflung" reinigen, der sich in ihren Körpern herauskristallisiert hat". (Wang, S. 19)

Es gehört wohl zum menschlichen Eigensinn, dass neue und ungewohnte Dinge mit Skepsis betrachtet werden oder gar Angst machen. Wir müssen unser Komfortzone verlassen und uns auf unbekanntes Gelände wagen. So oder ähnlich ist es auch mit den Awareness-Konzepten. Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Aufnahme und Anwendung von Awareness-Konzepten in verschiedene Phasen einteilt, sind wir womöglich im Moment in einer "Vorsichtsphase". Wir tasten uns an sie heran, lernen sie kennen. Langsam gewöhnen wir uns an sie, verstehen sie, wenden sie an. Hier können auch Fehler passieren, und die Konzepte können willentlich und unwillentlicht missbraucht werden. Wir müssen also kritikfähig und -willig bleiben!

Was wir uns wünschen, wie wir als Awareness-Gruppe mit Widersprüchen umzugehen gedenken und wie wir kritisierbar bleiben wollen
Wir wünschen uns langfristiges Denken, Anerkennung von persönlichen Lernprozessen, Geduld und Fehlerfreundlichkeit. Nur weil jemensch nicht weiss, was Pronomen sind, hat mensch deine Grenzen nicht überschritten und auch keinen Highkick verdient. Übernehmt Verantwortung für die eigenen Gefühle! Und
an alle, die es vermessen halten, Geduld einzufordern: Gebt Acht auf euch, ihr seid natürlich nicht verpflichtet, die Aufklärungsarbeit zu leisten. Es gab unterdrückte Personen vor uns und es wird sie nach uns geben. Auch wir unterdrücken, haben unterdrückt, werden unterdrücken.
Wir wollen gemeinsam gewaltvolles Verhalten verlernen und gewaltvolle Strukturen angreifen!

Und: An alle autoritären Awareness-Strukturen: Löst euch einfach auf, ihr seid eh nicht aware!

Für unser Wirken ist es zentral, dass wir als Awareness-Gruppe - und das trifft wohl auf alle Awareness-Strukturen zu - kritisierbar bleiben. Auch wir müssen uns reflektieren und in konkreten Fällen allenfalls nachfragen, um die Instrumentalisierung von Awareness-Konzepten für persönliche Agendas "aufzudecken". Das heisst nicht, dass wir eine Erfahrung absprechen, aber allenfalls die Konzepte genauer erklären können. Und darauf aufmerskam machen, dass eine inflationäre (= sehr oft) Verwendung von bestimmten Begriffe sich längerfristig nachteilig auf Betroffene sexualisierter und diskriminierender Gewalt auswirken kann.

Positionierung und Selbstverständnis
Awareness Basel setzt sich momentan fast ausschliesslich aus cis-Personen zusammen, wir profitieren fast alle von weisser christlicher Vorherrschaft und den Privilegien eines schweizer Passes, wir sind fast alle heterosexuell, wir werden fast alle nicht von der Gesellschaft behindert, haben in der Gruppe überdurchschnittlich viel Zeit an Hochschulen verbracht, und überwiegend keine dringlichen finanziellen Probleme. Selbskritisch zu sein ist uns wichtig und das heisst auch, unsere Privilegien und Gruppenzusammensetzung zu reflektieren.
Es sind viele offene Fragen und innere Widerstände und Konflikte da. auch wir sind davor nicht gefeit. Das alles ist Abbild unserer verinnerlichten Machtverhältnisse. Wir möchten den Text als Diskussionsanstoss verstehen, wir können keine abschliessenden Antworten liefern und diese wird es auch nie geben.
Wir als Awareness sind keine höhere Instanz! Wir versuchen, unterstützend und kontextabhängig bei Prozessen zu wirken, und nicht bestimmend, befehlerisch, eindimensional und eigenmächtig.

Ressourcen
Saba-Nur Cheema. 2020. "Die Kultur des Aufschreis. Diskussionen über Migroaggressionen, Triggerwarnungen und Safe Spaces haben politische Auseinandersetzungen ersetzt." An.schläge 2/2020, S. 22-23.

e*space, e*vibes. 2014 und 2017. "Definitionsmacht - eine feministische Kritik"
- Vortrag und Diskussion in Köln, PDF: https://www.evibes.org/wp-content/uploads/sites/24/2017/07/wir-arbeiten-nicht-mit-definitionsmacht-zum-Zusammenfu%CC%88hren.pdf
- Text von 2014: http://evibes.blogsport.de/2014/11/18/wir-arbeiten-nicht-mit-definitionsmacht/
- Mitschnitt der Veranstaltung am 6. Juni 2015 im Autonomen Zentrum Köln - es referierte die Interessiertengruppe ( e*space: http://evibes.org/ueberuns/ ) im Rahmen einer mehrteiligen Diskussionsreihe. https://www.mixcloud.com/evibes/definitionsmacht-eine-feministische-kritik-vortrag-und-diskussion-in-k%C3%B6ln/

Massimo Perinelli. 2015. Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende der antirassistischen Bewegung. Phase Zwei, Weissabgleich, Nr 51. https://phase-zwei.org/hefte/artikel/triggerwarnung-566/

Jacky Wang. 2012. "Against Innocence. Race, Gender, and the Politics of Safety." Zuerst erschienen in LIES: A Journal of Materialist Feminism, Vol 1 (2012). Insbesondere Kapitel "Safe Space", S. 16 - 21. Link zum PDF: https://archive.org/details/AgainstInnocenceRaceGenderAndThePoliticsOfSafety/mode/2up

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