Arthur Evans "Witchcraft and the Gay Counterculture"- eine Leseempfehlung

veröffentlicht am 25. November 2020

Ich habe gerade das Buch von Arthur Evans "Witchcraft and the Gay Counterculture" beendet (zu deutsch: "Hexerei und die homosexuelle Gegenkultur", leider habe ich bisher keine deutsche Übersetzung gefunden, hoffe aber, dass sich diesem Projekt wer annimmt) und kann es all jenen ans Herz legen, deren Kämpfe sich gegen das Patriarchat und den Zustand der heutigen Gesellschaft richtet oder wer sich sonst für die Themen Anti-Zivilisation, Paganismus und das heutige Verständnis von Sexualität und Geschlecht interessiert. Er beschreibt die lange Geschichte des Widerstandes paganistischer Riten, homosexueller Praktiken und Praxen der Trans-geschlechtlichkeit gegen die über zweitausend Jahre anhaltenden Versuche diese Kultur(en) mit Genoziden und anderer Repression zu vernichten. Das Buch hat dabei einen Fokus auf Europa, auch wenn andere Territorien und Gesellschaften erwähnt werden. Das Buch erschien erstmals 1978 bei Fag Rag Books und wurde 2013 klandestin neu aufgelegt. Es kann online zum Beispiel hier auf Englisch zum Runterladen gefunden werden.

Evans erzählt, basierend auf anthropologischer und historischer Forschung, die Geschichte von vorpatriarchalen Gesellschaften, in denen Sexualität und Ausdruck von Geschlechtlichkeit relativ frei waren und sowohl öffentliche Orgien, homosexueller Sex und Geschlechtlichkeit jenseits von "Mann" und "Frau" selbstverständliche Teil der religiösen Alltags-Kultur (später als Hexerei und Magie bezeichnet) und Wertschätzung waren. Wie vielleicht für diejenigen, die sich mit der sogenannten Steinzeit bereits beschäftigt haben bekannt ist, handelte es sich um relativ gewaltlose Gemeinschaften, die aufbauend auf Gemeinschaftseigentum und Konsensentscheidungen ein nicht-hierarchisches Zusammenleben ohne Arbeitsteilung und Ausbeutung organisierten. In dem Buch ergänzt Evans dieses Wissen um die Bedeutung die Sexualität und besonders auch homosexuelle Sexualität hatte, und beschreibt wie die Verkörperung von Geschlechtlichkeit sehr viel freier war als in den folgenden Jahrhunderten inklusive heute. Dabei spielten was manche von uns trans-gender Identitäten nennen würden eine sehr zentrale Rolle, nicht nur im Religiösen, und waren gesellschaftlich verbreitet und verankert. Diese Kultur hat sich seitdem weiter erhalten, vereinzelt bis jetzt, trotz der immer stärker und umfassender werdenden Angriffe durch die patriarchale Kultur die sich spätestens vor über 2000 Jahren im Mittleren Osten und in großen Teilen Europas durchsetzte. Das Buch beschreibt zahlreiche Kämpfer*innen und Gruppen, die an einer Verehrung von Mutter Erde und den zahlreichen sex-positiven, trans-geschlechtlichen, homosexuellen Gemeinschaftsriten festhielten und dafür durch das römische Reich und später die christlichen Kirchen ermordet oder anderweitig bestraft wurden. So zeichnet er sehr anschaulich auf, wie es dazu kam, dass Heterosexualität, schamvolle Körperbeziehungen und eine rigide Sexualität (Sexualität dient nur der Fortpflanzung) gewaltvoll als Norm in Westeuropa durchgesetzt wurden. Der europäische Kolonialismus versuchte diese Geschlechter- und Sexualitätsordnung dann global und ebenfalls brutalst durchzusetzen.

Wie es in dem Vorwort zur Neuauflage 2013 gut zusammengefasst wird: "dieses Buch ist wahrscheinlich das erste das sehr schön den Aufstieg der Heteronormativität als untrennbar verbunden mit Patriarchat, Industrialismus, und dem Staat verortet. Also für alle diejenigen, die sich nicht mit einer reinen Studie zur industriellen, die weiße Vorherrschaft verfechtende, patriarchale Zivilisation zufrieden geben will, kann sich "Hexerei" als Waffe im Kampf erweisen, der gleichzeitig die industrielle, rassifizierte und vergeschlechtlichte Ordnung angreift. (...) Der Vorzug [sich den Krieg zwischen Zivilisation und "Naturgesellschaften" anzuschauen] ist die Perspektive, dass die kontinuierliche Laufbahn von patriarchaler Geschichte und ihrer Zivilisation, nur auf Kosten unzählbarer Queers, Hexen, Geschlechtsdiversen, Trans-Personen, Heretiker*innen, Indigenen und Wildtieren siegreich werden konnte. Und das demonstriert also, dass der geschätze Fortschritt der Gesellschaft, die uns alle Geisel hält, auch die Geschichte von Vergewaltigung, Folter, Umweltzerstörung, Versklavung, Mord, Genozid und Omnizid ist."

Ein bisschen abgrenzen musste ich mich jedoch schon von Evans, anscheinend ist er sogar ein Verräter geworden in seinen letzten Lebensjahren (siehe das P.S. im Vorwort zur Neuauflage 2013). Die Konzepte von Trans-Geschlechtlichkeit beschränken sich (vermutlich analog zur damaligen Diskussion) auf Transvestismus. Auch grenzt er sich nicht stark genug von den kolonialistisch, rassistisch verbandelteten Studien und vor allem auch den Begriffen von Anthropologen ab, die er verwendet; er reproduziert sie damit sogar würde ich sagen. Auch die Geschichte von trans-männlichkeit ist im Verhältnis ein bisschen unterbeleuchtet, was aber vermutlich mal wieder an der sexistischen Geschichtsschreibung liegt, zumal er das auch selbst benennt. Für eine ausführlichere Kritik und Würdigung aus queerer anarchistischer Perspektive kann ich auf das bereits erwähnte Vorwort von 2013 (oben verlinkt) verweisen.

Dennoch sind die Perspektiven, die durch dieses Buch aufgemacht werden für unsere momentanen Analysen und Kämpfe meiner Meinung nach ziemlich zentral. Ich empfehle das Buch nicht zuletzt, weil es das widerständige Feuer in mir bestärkt hat, da es vielfach Inspiration und Perspektive auf die eigenen Kämpfe im hier und jetzt liefert, und ich diesen intelektuellen Brandbeschleuniger gerne allen Freund*innen und Gefährt*innen mit auf den Weg geben mag.

Zum Abschluss noch drei übersetzte Zitate aus dem Buch:
"Natürlich ist es eine Versuchung, dies als utopische Fantasie abzutun, da wir in unserer eigenen Gesellschaft an Selbst-Überhöhung, Repression durch die Regierung, Klassenherrschaft und rigide, die Seele abtötende Arbeit, die entweder idiotisch ist oder auf jahrelanger zombie-ähnlicher Institutionalisierung ("Bildung") basiert, gewöhnt sind. Wir sind so durch Universitäten, Fabriken und Büros konditioniert, gefühllose, Gehirn-dominierte, sich-selbstsuchende-Billiard-Bälle zu sein, dass wir uns nicht eine Gesellschaft vorstellen können, die unterschiedlich funktioniert. Aber die Beweise werden nicht verschwinden. Menschen haben einmal anders gelebt."

"Warum widersetzen sich Leute überall dem Industrialismus? (...) Industrialismus, durch seine inhärente Natur, zerstört die Magie menschlicher Existenz. (...). Wir haben in den letzten Kapiteln gesehen, wie der Triumpf des Christentums und das Aufkommen des industriellen Systems in der Objektifizierung der Natur resultierte. Was wir jetzt erkennen müssen, ist dass diese Objektifizierung zum Abtöten unserer Gefühle führte."

"Amerikanischer Militarismus hat beeinflusst, wie Amerikaner*innen Männlichkeit betrachten, genauso wie römischer Militarismus römische Perspektiven beeinflusste. Alle amerikanischen Männer [Anmerkung: ich würde behaupten das gilt nicht nur für Männer] wurden ihr Leben lang darauf konditioniert, disziplinierte Aggressivität als männlich wahrzunehmen; Härte in anderen Männern zu bewundern; vor allem anderen zu fürchten, ein Weichei genannt zu werden; Machtbeziehungen und Gehorsam zu genießen; einen Nervenkitzel daraus zu ziehen, wenn in anderen Schmerz ausgelöst wird; von Uniformen angeturnt zu werden und in der Lage zu sein, sich daran anzupassen, in großen, unpersönlichen, hierarchischen Institutionen zu funktionieren. Männer, die diese Werte verinnerlichen werden als bewundernswert geistig gesund von der amerikanischen Gesellschaft angesehen. (...) Sie sind komplett unvorbereitet mit anderen Männern in einer offen liebevollen, warmen, sexuellen Art umzugehen."

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